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Corona-Krise: Lockdown-Kritiker bestätigt jetzt Erfolg der Maßnahme


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Widersprüchliche Statistiken
Einstiger Kritiker verteidigt Corona-Maßnahmen jetzt


Aktualisiert am 26.04.2020Lesedauer: 5 Min.
Lockdown: Damit die Coronavirus-Pandemie keine katastrophalen Ausmaße annimmt, wurden am 22. März die bundesweiten Kontaktbeschränkungen mit gravierenden Folgen für die Wirtschaft verhängt. Kritiker stellen das als unnütz dar.Vergrößern des Bildes
Lockdown: Damit die Coronavirus-Pandemie keine katastrophalen Ausmaße annimmt, wurden am 22. März die bundesweiten Kontaktbeschränkungen mit gravierenden Folgen für die Wirtschaft verhängt. Kritiker stellen das als unnütz dar. (Quelle: dpa)

Hatte der Corona-Lockdown etwa gar keinen Effekt?

Eine Zahl des Robert Koch-Instituts (RKI) liefert Kritikern des Lockdowns wegen der Corona-Krise aktuell Stoff. Es geht um die Frage, ob Deutschland die Pandemie vielleicht schon im Griff hatte, als die drastischen Maßnahmen beschlossen wurden. Wurden die Wirtschaft und das öffentliche Leben unnötig lahmgelegt?

Nein, die Maßnahmen hatten den Effekt, die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen, sagt nun Prof. Gerard Krause. Er halte die Einschätzung für richtig, "dass das Maßnahmenbündel um den Shutdown zur Verlangsamung der Pandemie in Deutschland beigetragen hat", teilte das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung (HZI) t-online.de mit. Am HZI gibt es auch eine alternative Berechnung, die das unterstreicht.

Finanzwissenschaftler erklärte Lockdown für folgenlos

Krause war vor der Einführung als Mahner aufgefallen: Negative Folgen des Lockdowns könnten möglicherweise schwerwiegender sein als die Folgen der Infektionen selbst, hatte er in einem ZDF-Interview erklärt, das international für Furore sorgte. Medien in diversen Ländern griffen seine Aussage auf.

Nun widerspricht er den Darstellungen, dass der Lockdown überflüssig gewesen sein könnte. Mit dieser Darstellung bekommt aktuell der Finanzwissenschaftler Prof. Stefan Homburg viel Aufmerksamkeit, Direktor des Instituts für Öffentliche Finanzen der Leibniz Universität Hannover.

Es geht ihm um die Reproduktionsrate und die dabei magische Zahl 1. Liegt die Zahl unter 1, dann steckt ein Infizierter im Schnitt weniger als einen anderen Menschen an. Ist das dauerhaft so, ist die Pandemie in den Griff zu bekommen. Ein Wert über 1 bedeutet ein exponentielles Wachstum; das Gesundheitssystem kann dadurch überfordert werden. Derzeit stehen aufgrund der Maßnahmen viele Kliniken fast leer.

Homburg, der als Euro-Kritiker einer der Unterstützer bei der AfD-Gründung war, ist Gegner des Lockdowns und bevorzugt das schwedische Vorgehen. Dort hat die Bevölkerung zwar weitreichend ihr Verhalten geändert, es gelten aber keine so strengen Regeln wie in Deutschland oder anderen skandinavischen Ländern, die allerdings auch deutlich weniger Tote verzeichnen.

Reproduktionszahl beim RKI früh unter 1

Für Deutschland verweist der Finanzwissenschaftler Homburg auf Zahlen des RKI, dass die Reproduktionszahl bereits am 22. März, als der Lockdown kam, bei 1 gewesen sei und seither kaum gesunken ist. So lässt es sich dem Epidemiologischen Bulletin, dem Wochenbericht des RKI, entnehmen. Homburg sagte deshalb: "Der Lockdown hat überhaupt keine Auswirkungen auf die Verbreitung des Virus.“

Krause, Abteilungsleiter Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung, wendet sich gegen solche Darstellungen: "Dass dieses sehr massive Maßnahmenbündel um den Shutdown keinen Einfluss auf die Verbreitung gehabt haben soll, kann ich mir kaum vorstellen." Das Zentrum geht auch von einer ganz anderen, viel höheren Zahl zu Beginn des Lockdowns aus – und zwar 2,3. Wie aussagekräftig ist also die Reproduktionszahl?

Sie ist eine Schätzung. Das RKI nutzt die Daten, die von den Gesundheitsämtern gemeldet werden, muss aber berücksichtigen, dass sich die Aussagekraft im Laufe der Zeit geändert hat, weil etwa mehr getestet wurde und prozentual mehr Fälle bestätigt wurden. Dazu kamen zwischenzeitlich auffällige Ausbrüche in Altenheimen mit vielen Erkrankten in allerdings isolierter Umgebung. Solche Faktoren könnten auch dazu führen, dass der aktuelle R-Wert das reale Geschehen etwas überschätzt, also zu hoch liegt, heißt es im RKI-Bericht.

Alternativmodell sieht stärkeren Rückgang

Das Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung kam auch zuletzt auf einen niedrigeren R-Wert als das RKI. Demzufolge wäre im Lockdown die Reproduktionszahl stärker gesunken. Helmholtz-Wissenschaftler haben ein mathematisches Modell entwickelt, das in einer Formel Erkenntnisse einbezieht, die beim Lockdown in China und Italien gewonnen wurden. In einem vorab veröffentlichten Artikel haben sie das Modell vorgestellt.

Demnach ist die Reproduktionszahl in Deutschland erst am 6. April – also deutlich nach Einführung der strikten Maßnahmen – unter 1 gefallen. Zum Zeitpunkt des Lockdowns schätzen die Braunschweiger die Reproduktionsrate sogar noch auf einen Wert von 2,3. Das ist ein deutlicher Widerspruch zu den Zahlen des RKI. Am Mittwoch wollte das Helmholtz-Zentrum diesen Punkt auf Anfrage nicht kommentieren.

Vom Fachgebiet Wahrscheinlichkeitsrechnung und mathematische Statistik der TU Ilmenau gibt es zwei weitere Modellierungen. Eine arbeitet mit Zahlen des RKI und zeigt deutliche Einbrüche sonn- und feiertags, wenn beim RKI kaum Fälle gemeldet werden. Die andere nutzt Daten der John-Hopkins-University, in denen diese Sprünge nicht so deutlich sind. Beide Grafen weisen zum Zeitpunkt des Lockdowns wie das RKI einen Wert nahe 1 aus.

HZI-Epidemiologe Gerard Krause lieferte in seiner Stellungnahme auch eine mögliche Erklärung, wie es zum niedrigen Wert in den Modellen von RKI und Illmenau kommen könnte: Der Rückgang könnte auf die Entwicklung in den ersten Hotspots zurückzuführen sein. Dann nämlich, wenn die Reproduktionszahl vor allem dadurch beeinflusst ist, wie sich die Pandemie lokal in Regionen entwickelt hat, in denen es früh Häufungen gab und entsprechend auch drastisches Eingreifen dort. Wo das Coronavirus schon heftig wütete, konnte der Trend gestoppt werden, im Rest stand der starke Anstieg erst bevor.

"Dies spräche dafür, dass die Shutdown-Maßnahme tatsächlich genau zum richtigen Zeitpunkt erfolgt wäre, weil sie dann nämlich überhaupt einen sehr steilen Anstieg deutschlandweit bisher hat verhindern können." Das lasse sich im Modell errechnen, so Krause: Die Sonderrolle der Fälle aus den ersten Corona-Hochburgen müssten in einer solchen Berechnung berücksichtigt sein, diese Fälle müssten weniger stark gewichtet sein.

Ein Beleg dafür sei die Entwicklung in anderen europäischen Ländern, wo es steile Anstiege gab: "Der Shutdown ist in Frankreich, Spanien oder Italien deutlich später im Vergleich zum dortigen Kurvenverlauf beschlossen worden."

Bis die Wissenschaftler aber sicher sagen können, welche Maßnahme welchen Effekt genau hat, wird es noch dauern: "Das ist die Frage nach dem heiligen Gral", sagte in den Tagesthemen Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung System Immunologie am Helmholtz-Zentrum. Er war auch an dem alternativen Modell zur Berechnung der Reproduktionszahl beteiligt. "Je nachdem, welchen Modellierer Sie fragen, werden Sie eine andere Antwort bekommen."

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RKI-Wissenschaftler: Tag ist nicht so entscheidend

Matthias an der Eiden, Wissenschaftler der Abteilung für Infektionsepidemiologie am RKI und Autor des Beitrags im Bulletin, findet die Frage gar "nicht so entscheidend, wann genau die Reproduktionszahl R das erste Mal unter 1 war". Für den weiteren Verlauf sei die Tatsache wichtiger, dass R länger unter 1 gehalten und so die Anzahl der Neuerkrankungen nachhaltig gesenkt werden konnte. An der Eiden zu t-online.de: "Dies wäre ohne das bundesweite Kontaktverbot vom 23. März wahrscheinlich nicht möglich gewesen."

Einen weiteren Aspekt griff Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar in einer Antwort auf Homburg auf: Die Bevölkerung sei durch die Informationen zum Coronoavirus schon stark sensibilisiert gewesen und habe in weiten Teilen vorweggenommen, was mit dem Lockdown offiziell wurde. So waren die Menschen schon zuvor viel weniger unterwegs, wie Mobilitätsdaten von Google zeigen.

Dieser Text wurde mit Informationen zu den Graphen der TU Ilmenau und einer Stellungnahme von Matthias an der Eiden vom RKI erweitert.

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