Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Die Koalition der Kompetenten
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Krisen haben nicht nur Nach-, sondern auch Vorteile. Schonungsloser, als es eine Schönwetterzeit je könnte, decken sie die Fehler eines Systems auf, die strukturellen Missstände und tief sitzenden Probleme. Sie schärfen den Blick für Risiken und den Verstand für die Notwendigkeit, sie zu beheben. Gelingt dies, dann können Krisen sogar Positives bewirken.
Deutlicher als viele Krisen zuvor – das Klima, die Finanzen, die Schulden, die Flüchtlinge – offenbart die Corona-Krise die Schwäche zwischenstaatlicher Organisationen. Die Vereinten Nationen spielen in der Bekämpfung der Pandemie keine Rolle, die Weltgesundheitsorganisation verheddert sich zwischen Pekings Propaganda und Donalds Donnerwettern, die Europäische Union muss machtlos zusehen, wie die Mitgliedstaaten erst hastig ihre Grenzen schließen und dann in egoistische Nationalpolitik zurückfallen. Die G7 und die G20 haben zur Rettung der Weltwirtschaft ebenso wenig beizutragen wie zur Unterstützung armer Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika, in denen das Virus schon bald noch viel schlimmer wüten dürfte. Wer angesichts dieser kollektiven Tatenlosigkeit von Versagen spricht, erntet hier keinen Widerspruch. Das in jahrzehntelanger Diplomatie gesponnene Netz multinationaler Institutionen, das den Globus im Gleichgewicht halten soll, hat Risse bekommen – und die Corona-Seuche führt uns vor Augen, wie erschreckend groß diese Risse bereits sind.
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Aber neu sind sie nicht. Schon bevor das Virus seinen globalen Raubzug antrat, schwächelten die zwischenstaatlichen Organisationen. Die UN bemühten sich unter ihrem umtriebigen Generalsekretär Guterres fast schon rührend um eine Rolle als weltweiter Advokat, mussten aber hinnehmen, dass Diktaturen und Autokratien rücksichtslos ihre Macht ausweiteten, siehe China, siehe Russland, siehe die Türkei. Die Folgen in Syrien, Libyen, Hongkong und der Ukraine sind bestürzend. Zugleich fährt die vormalige Gestaltungsmacht USA, von inneren Spaltungen zerrüttet, einen politischen Schlingerkurs: heute hü, morgen hott. Auf Amerika ist kein Verlass mehr (im Guten wie im Schlechten). Die EU wiederum schwor in hochfliegenden Plänen, ihre Versäumnisse beim Klimaschutz, der Digitalisierung und der Bürgernähe auszuwetzen – scheitert aber schon daran, ihre elementaren demokratischen Grundsätze in jedem Mitgliedsland durchzusetzen, siehe Ungarn, siehe Polen. Der Zirkel der G20, in dem sich auch der Mordbube Mohammed bin Salman tummeln darf, versagt seit Jahren, an Glaubwürdigkeit zu gewinnen oder die Schere zwischen Arm und Reich auf unserem Erdball wenigstens ein Stückchen zu schließen.
Nicht immer wollten wir es sehen, nun können wir es nicht mehr übersehen: Der Multilateralismus befindet sich in einer tiefen Krise. Darin muss jeder, dem an Ausgleich, Frieden, rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien gelegen ist, ein Alarmsignal sehen. Denn der Virusschock verschärft die Lage zusätzlich. "Corona wird zunächst einmal die Trends der Weltpolitik verstärken", schreibt der Außenpolitikchef der "Süddeutschen Zeitung", Stefan Kornelius. "Autokratische Staaten werden noch autokratischer, anarchische Staaten anarchischer, schlecht gemanagte Länder fallen tiefer ins Chaos. Vorkehrungen für schlechte Zeiten haben die wenigsten getroffen. Nun liegen die Volkswirtschaften am Boden, und Bündnisse sind geschwächt."
Eine düstere Prophezeiung, und leider ziemlich realistisch. Sie wird nicht heller, wenn wir die Augen vor ihr verschließen – im Gegenteil. Aber das Gute ist: Wer seine Schwächen kennt, der kann sie beheben. Es ist höchste Zeit, dass konstruktive Kräfte in der Weltpolitik wiedererstarken. Das kann nur gelingen, wenn auf Ausgleich, Friedenssicherung und Menschenrechte bedachte Staaten ihren Einfluss mehren. Deutschland kann eine dieser Stimmen sein. Nicht machtbewusst, sondern mäßigend. Nicht mit Ellenbogen, sondern mit Hirn. Nicht auftrumpfend, sondern Trump dämpfend. Nicht indem es seine Kraft im Ringen mit Putin, Xi und Erdogan überschätzt, sondern indem es auf der Wertschätzung internationaler Regeln beharrt. Deutsche Außenpolitik ist gefragter denn je. In Paris, Brüssel, Seoul und andernorts wird man die ausgestreckte Hand gerne nehmen. Noch ein Zitat des Kollegen Stefan Kornelius: "Vielleicht könnten sich die Vorbilder im Krisenmanagement zusammentun, vielleicht könnten sie ein Beispiel abgeben für gute Politik und gute Strukturen in schwierigen Zeiten. Einen Namen dafür gäbe es bereits: die Koalition der Kompetenten."
Ein guter Name. Seriös. Vertrauenerweckend. Verheißungsvoll. Nur mit Leben muss er noch gefüllt werden. Gelänge es, ein solches Bündnis zu schmieden, könnte der Corona-Schlamassel tatsächlich etwas Positives bewirken. Dann hätte diese Krise nicht nur Nach-, sondern auch Vorteile.
WAS STEHT AN?
Heute Nachmittag ist es so weit: Ab 14 Uhr will die Bundeskanzlerin gemeinsam mit den Ministerpräsidenten entscheiden, wie es in Corona-Deutschland weitergeht, ob die Kontaktsperreregeln gelockert werden, und wenn ja, wo und für wen. Beratung haben die Politiker zur Genüge bekommen, gleich mehrere Institute und Akademien haben ihnen Konzepte serviert: sei es das ifo-Papier von 14 Wissenschaftlern deutscher Universitäten, das viel zitierte Empfehlungsschreiben der Leopoldina-Professoren oder das Positionspapier der Helmholtz-Gesellschaft, das erstaunlich wenig Aufmerksamkeit gefunden hat (womöglich, weil es eine Lockerung des "Lockdowns" skeptisch beurteilt?).
Wie auch immer: An akademischen Ratschlägen herrscht kein Mangel, nun braucht es Entscheidungen. Dabei müssen Merkel und die Landesfürsten auf einem schmalen Grat balancieren: Einerseits wollen sie den wirtschaftlichen Schaden der Ausgangsbeschränkungen nicht vergrößern, andererseits dürfen sie nicht riskieren, durch übereilte Lockerungen die Gesundheit der Bürger zu gefährden. Obendrein haben die Länderchefs auch noch völlig unterschiedliche Interessen, wie unsere Reporter Johannes Bebermeier und Tim Kummert berichten: NRW-Landesvater Armin Laschet drängt zu einem baldigen Weg in die Normalität, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder bremst – und Hessens Regierungschef Volker Bouffier verlangt, dass die Länder "im Gleichschritt marschieren". Ach ja, und Frau von der Leyen in Brüssel will heute auch noch eine eigene "Exit-Strategie" der EU vorstellen (falls ihr jemand zuhört). Es dürfte also ein spannender Tag werden. Wer allerdings Angela Merkels Politikstil des vorsichtigen Vorantastens kennt, der ahnt schon vor der Videokonferenz: Heute werden wohl allenfalls sehr vorsichtige Lockerungen beschlossen.
Aber helfen Ausgangsbeschränkungen im Kampf gegen Gefahren wie das Coronavirus wirklich? Meistens nicht, meint zumindest der Seuchen-Historiker Malte Thießen vom Institut für Westfälische Regionalgeschichte in Münster in unserem Podcast "Tonspur Wissen": "Oft ist das Virus schon sehr viel schneller als die Maßnahmen." Wichtiger seien deshalb "offensive Aufklärung, Transparenz, Partizipation" – und offenbar auch Realismus, denn: "Wir haben ein Stück weit mit den Toten der Grippe leben gelernt."
Heute sollen die ersten minderjährigen Flüchtlinge aus den berüchtigten Lagern auf den griechischen Inseln Lesbos und Samos nach Europa gebracht werden: Zwölf (in Zahlen: 12) sind es an der Zahl, Luxemburg nimmt sie auf. Eine weitere Gruppe soll am Samstag folgen: Maximal 50 will Deutschland aufnehmen. Frankreich, Polen, Ungarn, Spanien und all die anderen EU-Länder weigern sich dagegen. Nächstenliebe wird in Europa gerade sehr klein geschrieben.
In Südkorea findet die Parlamentswahl statt. Sie dürfte zeigen, wie die Wähler das Corona-Krisenmanagement der Regierung bewerten. Die Demokratische Partei von Präsident Moon Jae-in ist bisher stärkste Kraft im Parlament. Dank des Präsidialsystems könnte der Mann aber auch bei einer Mehrheit für die Opposition weiterregieren. Wie praktisch.
Eigentlich wollen die Unterhändler der EU und Großbritanniens heute den Fahrplan für die Verhandlungen über ihre Beziehungen nach dem Brexit abstimmen. Bis zum Jahresende gilt noch die Übergangsphase, deshalb hat sich seit dem EU-Austritt der Briten Ende Januar praktisch nichts geändert. Dabei könnte es noch eine Weile bleiben, schließlich hat die Regierung in London gerade alle Hände voll mit dem Coronavirus zu tun, das auch der Premierminister seit seinem Krankenhausaufenthalt endlich ernst nimmt.
WAS LESEN?
Uns kommt es so vor, als sei die Corona-Krise beispiellos. Ist sie aber nicht. Der Medizinhistoriker Philipp Osten hat meinem Kollegen Marc von Lüpke erklärt, wie zu früheren Zeiten mit Seuchen umgegangen wurde – und was wir heute daraus lernen können. Ich habe bei der Lektüre einiges gelernt.
Klima oder Konjunktur? Wissenschaftler empfehlen der Bundesregierung beides: Mit viel Geld solle der Staat die Wirtschaft nach der Corona-Krise wieder auf Trab bringen – dabei aber bitteschön nicht die Nachhaltigkeit aus den Augen verlieren. Kann das klappen? Unsere Kolumnistin Ursula Weidenfeld hat ihre Zweifel.
Wimbledon abgesagt, French Open verschoben: Die Corona-Krise bringt auch die Tenniswelt durcheinander. Der frühere Weltklassespieler Nicolas Kiefer hat meinem Kollegen David Digili erzählt, wen die fehlende Spielpraxis am härtesten trifft und warum er einen unfairen Bonus beim Fußball sieht.
WAS AMÜSIERT MICH?
Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich die Folgen der Ausgangssperre sofort. Scheint aber zum Glück nicht nur mir so zu gehen:
Ich wünsche Ihnen einen gepflegten Tag.
Herzliche Grüße
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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