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Seuchen in der Geschichte: "Die Überlebenden waren immun, die anderen tot"


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Seuchen in der Geschichte
"Die Überlebenden waren immun, die anderen tot"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 12.04.2020Lesedauer: 8 Min.
Seuchen in der Geschichte der Menschheit: Der Medizinhistoriker Philipp Osten erklärt, wie frühere Generationen mit der Bedrohung umgingen.Vergrößern des Bildes
Seuchen in der Geschichte der Menschheit: Der Medizinhistoriker Philipp Osten erklärt, wie frühere Generationen mit der Bedrohung umgingen. (Quelle: United Archives International/IPON/National_Library_Of_Medicine/imago-images-bilder)
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Das Coronavirus lässt die Welt stillstehen, doch es ist nicht die erste Pandemie. Experte Philipp Osten erklärt, wie früher mit Seuchen umgegangen wurde und was wir heute daraus lernen können.

Pest und Cholera, Grippe und jetzt Corona – seit Hunderten Jahren wehren sich Menschen gegen verheerende Seuchen. Das Coronavirus hat nun zu einer der größten Krisen der Geschichte geführt. Philipp Osten erklärt im Gespräch, warum trotzdem große Hoffnung besteht. Und warum wir heute im Gegensatz zu unseren Vorfahren die Chance haben, viele Menschenleben zu retten.

t-online.de: Professor Osten, seit Urzeiten wird die Menschheit von Seuchen geplagt. Wie gingen die Menschen etwa im Mittelalter mit der Bedrohung durch die Pest um?

Philipp Osten: Unsere Vorfahren hatten spezielle Vorkehrungen für die Pest entwickelt: Und zwar ein gottgefälliges Leben zu führen, damit der Seele ein Platz im Himmel garantiert war. Epidemiologisch gesehen war es sicher unklug, zu Pestzeiten in die Kirche zu gehen und gemeinsam zu beten. Aber damals gab es eben ein völlig anderes Wertesystem, als wir es heute haben.

Aber das war nicht die einzige Art, dem sogenannten Schwarzen Tod zu begegnen.

In der Tat. Es gab Maßnahmen, die den Handel in dem betreffenden Gebiet unterbanden – sowie die Einrichtung von Seuchenkordons, um die Krankheit auf ein bestimmtes Gebiet zu beschränken. Vor allem aber entstand auch eine frühe Form des Medizinalwesens, indem etwa Pestärzte angestellt wurden. Die auch nach dem Abklingen weiter beschäftigt wurden, um eine gewisse Vorbereitung für den nächsten möglichen Ausbruch zu haben.

In Venedig wurde eine entscheidende Neuerung eingeführt.

Richtig, und zwar im 16. Jahrhundert mit dem System des "passa porto". Es war im Prinzip eine Art Gesundheitsausweis, ein Vorläufer unseres heutigen Reisepasses. Je nach Inhalt entschied sich etwa, ob die Besatzung eines Schiffes den Hafen Venedigs betreten durfte. Oder ob sie erst in die Quarantäne musste. Was eine sehr sinnvolle Überlegung war, wenn man an die Flöhe denkt, die den Pesterreger Yersinia pestis übertragen. Es sind übrigens nicht nur Rattenflöhe, die dieses Bakterium in sich tragen. Sondern auch Menschenflöhe, wie man heute weiß.

Sie erwähnen es gerade: Heute ist unser Wissen um Seuchen und ihre Ursachen viel größer, was ihre Bekämpfung und Heilung einfacher macht.

Philipp Osten, Jahrgang 1970, ist Medizinhistoriker. Er leitet seit 2017 das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Zugleich ist Osten Direktor des Medizinhistorischen Museums Hamburg. Der Wissenschaftler ist Experte für die Geschichte der Seuchen wie der Gesundheitsaufklärung.

Das stimmt. Nehmen Sie das Beispiel Cholera…

…eine schwere Durchfallerkrankung.

Genau. 1831 herrschte die erste schwere Epidemie dieser Art in Preußen mit vielen, vielen Toten. Die Cholera war eine angekündigte Katastrophe, weil sich die Krankheit in den Jahren zuvor von Asien und Afrika aus immer weiter Europa genähert hatte. Man hat diese Cholera-Epidemie damals betrachtet wie die Pest. Einfach, weil man nicht wusste, um was es sich dabei handelte. Also richteten die Verantwortlichen militärische Absperrungen ein, um die Ausbreitung durch Ansteckung der Menschen untereinander zu stoppen. Doch dummerweise brach die Cholera durch. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts fanden Mediziner dann heraus, warum die Seuche so nicht zu stoppen war. Denn es war das Wasser, das den Cholera-Erreger transportierte.

Erstaunlicherweise führte diese Cholera-Epidemie auch zum Erstarken der Homöopathie.

Das ist richtig. Damals waren viele Ärzte überzeugt, dass man den Kranken, die ohnehin so viel Wasser verloren, nicht noch weitere Flüssigkeit zuführen sollte. Stattdessen hat man sie zur Ader gelassen. Die homöopathisch Behandelten mussten dies nicht über sich ergehen lassen und durften trinken. Das heißt, von ihnen überlebten mehr, wenn man es auf die Fallzahlen herunterrechnet. Was zum Aufstieg der Lehren Samuel Hahnemanns in dieser Zeit führte.

Viele der gerade beschriebenen Maßnahmen erscheinen in unserer derzeitigen Situation vertraut. Allerdings nicht in diesem Ausmaß, dass Deutschland und die Welt gerade mehr oder weniger stillstehen – hat es je in der Geschichte der Seuchen eine vergleichbare Situation gegeben?

Nein. So etwas wie die jetzige globale Krise hat es zuvor nicht gegeben. Wir haben aber Vergleichs- und Erfahrungswerte: und zwar in Form der großen Grippe-Pandemien des 20. Jahrhunderts.

Wobei die Spanische Grippe von 1918 bis 1920 den Menschen heute noch Furcht einflößt.

Aus gutem Grund. Immerhin kostete sie mehr Menschen das Leben als der Erste Weltkrieg. Aber was wenig bekannt ist: Die Spanische Grippe hat sich damals in Deutschland nicht einmal in den Statistiken niedergeschlagen, einfach, weil Statistiken nicht in der Form geführt worden sind. Dafür war es einfach eine denkbar schlechte Zeit: Gegen Ende des Ersten Weltkrieges waren große Teile der Zivilverwaltung zusammengebrochen.

Also war den Menschen damals nicht bewusst, welches Ausmaß diese Pandemie annahm?

Diese Pandemie wurde ganz anders wahrgenommen, als wir es heute etwa mit dem Corona-Virus tun. Und es hat in der Tat sehr lange Zeit gedauert, bis das genaue Ausmaß der Spanischen Grippe erkannt wurde: Erst in den Siebziger- und Achtzigerjahren wurde den Wissenschaftlern allmählich klar, dass man bei der Zählung der Opfer schlicht und einfach die Südhalbkugel der Erde vergessen hatte. Daraufhin wurde die Zahl der Toten kurzerhand um 40 Millionen erhöht.

Heute gehen Schätzungen von bis zu 100 Millionen Toten in der Folge der Spanischen Grippe aus.

Diese Schätzung scheint mir weit übertrieben zu sein. Aber 50 Millionen Opfer sind durchaus realistisch. Die Spanische Grippe war dennoch ein einschneidendes Ereignis, das bis heute Nachwirkungen hat. Denn an den Daten, die die amerikanischen Behörden 1918 anhand des Verlaufs der Spanischen Grippe gesammelt haben, orientieren sich heute die Pläne des Robert Koch-Instituts in Deutschland – etwa was Schulschließungen und Versammlungsverbote betrifft. Naturwissenschaftler lernen so gewissermaßen aus der Geschichte. Was mir aber wichtig zu betonen ist: Wir befinden uns gerade mitten in einer Pandemie und mir als Historiker fehlen die Methoden, ein aktuelles Geschehen so zu analysieren wie die Seuchen der Vergangenheit.

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Tatsächlich aber wird das Coronavirus durch eine niemals dagewesene Stilllegung der Öffentlichkeit und der Wirtschaft bekämpft. Wie beurteilen Sie diese Maßnahmen?

Mir steht ein Urteil in dieser Frage nicht zu. Als Medizinhistoriker ziehe ich aber Vergleiche. Dementsprechend sehe ich einen großen Fortschritt: Und zwar, dass unsere Gesellschaft zum Schutz der Menschen, die durch das Coronavirus besonders gefährdet sind, solche Maßnahmen ergreift. Das ist ein Zeichen großer Solidarität. Und auch der Verlauf der Spanischen Grippe darf nicht vergessen werden: Sie hat drei Jahre gewütet, ohne dass Verzögerungsmaßnahmen getroffen worden sind. Am Schluss waren die Überlebenden immun, die anderen tot.
Vor allem befinden wir uns heute in einer sehr vorteilhaften Position, die die Maßnahmen der Regierung sinnvoll erscheinen lassen.

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Bitte erklären Sie das näher.

1970 erreichte die sogenannte Hongkong-Grippe die alte Bundesrepublik: Sie war wie die Spanische Grippe eine schwere Pandemie, die viele Hunderttausend Menschen weltweit das Leben gekostet hat. Zu dieser Zeit ist diese Einschränkung des öffentlichen Lebens, wie wir sie heute haben, nicht eingeführt worden. Denn damals wären viele schwer Erkrankte nicht zu retten gewesen: Einfach, weil es die entsprechenden Beatmungsgeräte noch nicht gab. Oder anders gesagt: Heute können wir viele Menschen vor dem Tod bewahren. Und vor allem gilt auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte: Ein Menschenleben lässt sich nicht mit Geld aufwiegen.

Kommen wir noch einmal auf die Spanische Grippe zurück. Ursprünglich dachten die Mediziner, dass ein Bakterium für diese Seuche verantwortlich wäre.

Haemophilus influenzae lautet ganz passend der Name dieses Bakteriums. Tatsächlich fanden Mediziner während der Spanischen Grippe auffallend oft diesen Erreger bei Erkrankten, sodass diese Vermutung durchaus naheliegend war. Und tatsächlich impfen wir ja heute unsere Kinder gegen Haemophilus influenzae, weil diese Bakterien so gefährlich werden können. Viele Menschen sind dann zwischen 1918 und 1920 ja tatsächlich daran gestorben, weil die Grippe sie so sehr geschwächt hatte.

Die Entdeckung des eigentlichen Verursachers sollte dann aber noch dauern.

Erst 1930 setzte sich die Erkenntnis durch: Der Grippeerreger ist ein Virus. Später hat die Medizin durch die Entwicklung von Impfstoffen große Fortschritte im Kampf gegen die Grippe gemacht. Gegen die Hongkong-Grippe wurde bereits geimpft. Auch die Entwicklung von Antibiotika half, weil sie bei der Heilung von Sekundärinfektionen helfen, die bei einer Grippeerkrankung lebensbedrohlich werden können.

Das neuartige Coronavirus stellt die Medizin allerdings vor andere Herausforderungen.

Bisweilen bewähren sich alte Methoden. Wenn sie heute von Flugzeugen aus China hören, die in Italien landen, dann hat das einen speziellen Grund. Es wird nämlich Blutserum von Menschen nach Europa befördert, die an Covid-19 erkrankt waren und gesundet sind. Dadurch erhofft man sich, einen Weg zur Heilung der Patienten dort zu finden. Dieses Konzept haben wir der Erforschung der Masern zu verdanken.

Bitte erklären Sie.

Die Masern sind eine Krankheit, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund 45.000 Tote im Deutschen Reich gefordert hat. Schließlich entdeckte man in den Zwanzigerjahren, dass man Erkrankte zu einem frühen Stadium durch die Injektion von sogenanntem Rekovaleszentenserum – also eben Blutserum von Menschen, die die Masern durchgemacht hatten – heilen konnte.

Tatsächlich hilft nur weiteres Wissen im Kampf gegen das Coronavirus. Wie beurteilen Sie Chancen, schnell Ergebnisse zu erzielen?

Das ist schwer zu beantworten. Fest steht aber: Das Coronavirus hat uns nicht eiskalt erwischt. Es gab Prognosen; und diese Prognosen wurden sehr ernst genommen. Vom wissenschaftlichen Standpunkt muss ich sagen: Diese Epidemie heute hätten wir bis vor 30 Jahren nicht einmal diagnostizieren können. Weil wir keine Direktnachweise des Genoms hätten durchführen können.

Wie steht es mit der Früherkennung?

Auch diese ist wesentlich besser als früher: Erinnern Sie sich an die Vogelgrippe vor einigen Jahren? Damals war die Angst groß, weil das Virus der gleiche Subtyp war wie bei der Spanischen Grippe und man befürchtete, dass er vom Tier auf den Menschen überspringt. Viele Virologen beschäftigen sich heute mit Erregern in der Tierwelt, bei denen derartige Befürchtungen herrschen.

Der Mensch dringt immer weiter in den Lebensraum der Tiere vor, es wird befürchtet, dass weitere Erreger wie etwa auf den Menschen übergehen. Wie beurteilen Sie diese Gefahr?

Das kann man auch ganz gegensätzlich sehen. Heute ist die Landwirtschaft weitgehend ausgelagert, noch vor 100 Jahren war es selbst auf der Etagenwohnung in der Stadt völlig üblich, Schweine und Hühner zu halten. Wir leben also etwa in Deutschland nicht mehr so eng mit Tieren zusammen wie das früher der Fall gewesen ist. Aber selbstverständlich hätte ein solcher Fall wie nun mit dem Coronavirus überall passieren können. Auch ein deutsches Wildschwein kann eine Fledermaus verspeisen und danach auf einem Teller landen. Etwas wie die Corona-Krise hätte uns schon vor zehn oder zwanzig Jahren treffen können. Ursprung und Beginn der Seuche sind reiner Zufall.

Waren frühere Generationen besser auf Seuchen vorbereitet als wir in unserer technisierten Welt?

In gewisser Weise sind wir heute Krankheiten und Seuchen tatsächlich nicht mehr gewohnt. Entsprechend groß ist die Verunsicherung. Früher herrschte eine viel größere Kenntnis in breiten Schichten der Bevölkerung darüber, was die Prophylaxe von Krankheiten betrifft. Andererseits gibt es Seuchen, deren Erreger wir bis heute nicht kennen.

Haben Sie ein Beispiel?

Im 15. und 16. Jahrhundert wütete in England mehrmals der sogenannte Englische Schweiß, eine Krankheit mit sehr hoher Todesrate. Nach der letzten Welle ist sie spurlos verschwunden. Wir wissen bis heute nicht, was der Auslöser gewesen ist.

Professor Osten, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Philipp Osten
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