Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Endlich Frauen-Power!
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Pyrrhussieg, der: "Ein Erfolg, der mit hohem Einsatz, mit Opfern verbunden ist und eher einem Fehlschlag gleichkommt."
So lehrt es uns der Duden. Was lehren uns die Staats- und Regierungschefs der EU? Dass sie schwerhörig sind, wenn es um Stimmungen in der Bevölkerung geht. Bei der Besetzung des Kommissionsthrons haben sie zwei Spitzenkandidaten, die sich monatelang im Wahlkampf abrackerten, beiseitegeschoben und eine eigene Favoritin aus dem Hut gezaubert. Ursula von der Leyen ist zweifellos besser für den Job geeignet, als uns viele Schwarzmaler weismachen wollen. Ja, die Situation im Rat war so verfahren, dass weder Manfred Weber noch Frans Timmermans einhellige Unterstützung fanden. Diese Selbstblockade zeigt uns, wie marode die Entscheidungsprozesse der EU geworden sind, wie dringend die Union sich reformieren muss. vdL ist der kgN, der kleinste gemeinsame Nenner. Das muss aber kein Nachteil sein. Unter den Brüsseler Sternen gewannen schon ganz andere an Statur. Günther Oettinger, Günter Verheugen und Federica Mogherini sind nur drei von ihnen.
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Was jetzt aber wirklich schadet, sind die griesgrämigen Kommentare einiger Besserwisser zu der Personalkür. SPD-Tuba Sigmar Gabriel trötet, Merkels Manöver sei ein "klarer Verstoß gegen die Regeln der Bundesregierung" (was nicht stimmt) und "ein Grund, die Regierung zu verlassen" (was ihm wohl eine Genugtuung wäre). Der unterlegene CSU-Mann Manfred Weber attackiert nach einem Tag Schonpause Frankreichs Präsidenten Macron und Ungarns Ministerpräsidenten Orban, die "das Spitzenkandidatenprinzip demontiert" hätten (was zumindest halbwegs stimmt). Dann aber legt er nach: "Es gab mächtige Kräfte, die das Wahlergebnis nicht akzeptieren wollten." Und das ist zu viel. Das ist Unfug. Auch wenn es Weber nicht gefallen mag, bislang ist nirgendwo in den Regeln der EU festgeschrieben, dass zwingend einer der Spitzenkandidaten Kommissionspräsident werden muss. Es wäre wünschenswert, um die EU-Führung demokratischer zu legitimieren, aber bisher sind die Regeln eben nicht klar. Etwas anderes zu insinuieren, wie es Gabriel, Weber und andere Gekränkte jetzt tun, ähnelt dem Populismus, den sie sonst gerne anderen vorwerfen. Solche Sätze helfen der europäischen Demokratie nicht. Sie schaden ihr.
Andere formulieren klüger. Zum Beispiel Margrethe Vestager, die ebenfalls gerne Kommissionspräsidentin geworden wäre, sich nun aber mit dem Vizeposten zufrieden gibt: "Ich bin sehr, sehr froh." Zum Beispiel die kommissarische SPD-Chefin Malu Dreyer, die zwar verschnupft, aber nicht beleidigt reagiert und klarstellt, dass sie die Groko jetzt nicht platzen lassen will (wir ahnen: das Aus käme der Baustellen-SPD derzeit ungelegen). Zum Beispiel von der Leyen selbst, die sich nach ihrer Nominierung jedes Triumphgehabe versagt und demütig auf die EU-Parlamentarier zugeht, die sie wählen sollen: "Mir ist wichtig, dass ich viel zuhöre, viel mitnehme."
Täuscht es oder könnte es sein, dass die starken Frauen gerade besonnener agieren als die halbstarken Männer? Wenn wir für einen Augenblick die Miesepeterei vergessen, können wir doch einfach mal anerkennen: Die Neuaufstellung der EU-Spitze mag kompliziert, unglücklich und intransparent verlaufen sein, aber ihr Ergebnis ist eine Revolution: Erstmals in ihrer Geschichte wird die Union an den zentralen Stellen von Frauen geführt.
Die mächtigste Politikerin: Angela Merkel
Die Chefin der "EU-Regierung": Ursula von der Leyen
Ihre wichtigste Stellvertreterin: Margrethe Vestager
Die Herrin über das Geld: Christine Lagarde
Nach fast 70 Jahren (keineswegs immer erfolgreicher) Männerwirtschaft ist das ein Signal der Gleichberechtigung, des Aufbruchs und der Hoffnung. Ein großer Erfolg. Hoffen wir, dass die Damen den Trumps, Putins und Erdogans selbstbewusst die Stirn bieten werden. Die nötige Kraft, Klugheit und Kompetenz dürfen wir ihnen zutrauen.
Gerade erst hat das Drama um die "Sea-Watch 3" Europa beschäftigt, da nimmt schon das nächste Rettungsschiff Kurs auf Italien. An Bord der "Alex" sind 54 aus Seenot gerettete Menschen, darunter drei Schwangere und vier Kinder. Die Hilfsorganisation Mediterranea will in Lampedusa landen, aber Italiens Innenminister Salvini lehnt auch in diesem Fall sofort ab.
Noch ein Fall also, der uns den Zynismus der EU-Mittelmeerpolitik vor Augen führt. Fast 15.000 Menschen sind laut UN-Flüchtlingshilfswerk seit 2015 bei der Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen. Dass es nicht noch weitaus mehr sind, ist vor allem der Verdienst privater Seenotretter. Seit 2015 haben sie mehr als 120.000 Leben gerettet, wie meine Kollegen von Statista berichten.
Bundesinnenminister Seehofer sagt zum Fall der Kapitänin Carola Rackete: "Der große Skandal an diesem Fall ist doch, dass die Europäische Union in der Flüchtlingspolitik katastrophal versagt hat. Es steht außer Frage, dass Menschen vor dem Ertrinken gerettet werden müssen. Das ist eine christliche Pflicht. ... Aber wir können das Problem nicht allein lösen."
WAS STEHT AN?
Die große Koalition streitet immer noch darüber, wie sie beim Klimaschutz endlich vorankommt. In Rede stehen Anreize für Bürger und Unternehmen, stärker auf ihre Klimabilanz zu achten. Heute Morgen stellt Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) drei Gutachten zur möglichen Gestaltung eines CO2-Preises vor. Benzin, Kerosin und Heizöl könnten teurer werden, dafür würden andere Steuern im selben Maße gesenkt. Eigentlich nicht kompliziert, aber CDU und CSU sträuben sich dagegen. Sie scheinen den Ernst der Lage noch nicht begriffen zu haben.
Bundeskanzlerin Merkel reist heute zum Westbalkan-Gipfel. Ziel ist, die Balkanländer Serbien, Albanien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo auf ihrem Weg zu einer möglichen künftigen EU-Mitgliedschaft zu unterstützen. Angesichts der gegenwärtigen EU-Krise rechnen allerdings noch nicht einmal enthusiastische Europäer damit, dass es in den nächsten Jahren dazu kommt. Eher geht es jetzt um eine Geste des guten Willens.
Wenn ich gelegentlich einen anderen Sender als den Deutschlandfunk im Radio höre und das Gedudel vernehme, das man heutzutage für Musik zu halten scheint, schalte ich lieber schnell wieder aus und suche in meinen eigenen Songs nach etwas Großem, Erhabenem. Und wenn ich es dann gefunden habe, freue ich mich, dass der Meister heute Abend in Hamburg doch noch mal eine Deutschlandtour beginnt. Im Alter von 78 Jahren, wohlgemerkt!
Seit sich Rennradprofis als rollende Apotheken entpuppten, habe ich aufgehört, die Tour de France zu verfolgen. Wieso sollte man Kriminellen dabei zusehen, wie sie vollgepumpt mit Drogen von A nach B strampeln? Erfahrene Kollegen haben mich nun allerdings darauf hingewiesen, dass der eine oder andere Radler womöglich sauber ist. Also schaue ich ab Samstag vielleicht doch gelegentlich nach Frankreich, wenn dort das Gelbe Trikot zum 100. Mal ausgefahren wird. Neugierig bin ich auf den 25-jährigen Maximilian Schachmann, der als Ausnahmetalent gilt. Seine Karriere war schon fast beendet, bevor sie richtig beginnen konnte. Im Gespräch mit meinem Kollegen Alexander Kohne berichtet er von großen Zielen bei der Tour, den Auswirkungen der Doping-Skandale auf seine Teenager-Zeit und der besondere Bedeutung von Eiswürfeln.
WAS LESEN?
Gibt es eigentlich niemanden, der Hasskommentare in den sozialen Medien gewissenhaft verfolgt? Doch, gibt es. Er heißt Christoph Hebbecker, ist Staatsanwalt in Nordrhein-Westfalen und sorgt dafür, dass Leute, die andere auf Facebook, Twitter und Co. bedrohen oder beschimpfen, Polizeibesuch bekommen. Den Kollegen der "Süddeutschen Zeitung" hat er erklärt, wie er dabei vorgeht.
Mein Kollege Lars Wienand wiederum hat sich von einer prominenten Journalistin erzählen lassen, wie sie Zielscheibe von Hassattacken im Netz wurde – und was ihr dann Hoffnung machte: Bei ihr meldete sich eine Organisation, die Betroffenen hilft und die Täter nach Strich und Faden verklagt. Wie sie dabei vorgeht, erfahren Sie hier.
WAS AMÜSIERT MICH?
Da gab es doch im Verteidigungsministerium diese Berateraffäre. Was wird eigentlich nach Frau von der Leyens Karrieresprung daraus?
Ich wünsche Ihnen einen ersprießlichen Freitag und dann ein schönes Wochenende. Wenn Sie den Tagesanbruch abonniert haben, bekommen Sie morgen früh um 6 Uhr die Wochenendausgabe geschickt. Dort erwartet Sie einiges.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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