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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Hauptsache sie hören auf" Opfer erzählt: So half mir die neue Shitstorm-Feuerwehr
Was passiert, wenn sich plötzlich der Hass auf eine Person im Netz konzentriert? Eine prominente Journalistin erzählt ihren Fall – und wie aus dem Nichts Hilfe auftauchte.
Sie weiß nicht, wie viele Tausende Antworten und Nachrichten sie in wenigen Tagen bekommen hat und wie viele hasserfüllt, beleidigend oder drohend waren. Sie, das ist eine prominente Journalistin, die dann buchstäblich abschaltete. Durch die Nachrichten gewühlt hat sich dann eine Mitarbeiterin von "Deutschlands erster Anlaufstelle für Opfer digitaler Massengewalt und Hate Speech". Die Shitstorm-Feuerwehr war zu Hilfe gekommen, mit Rat und mit Anwälten.
Organisation geht jetzt an die Öffentlichkeit
Die Journalistin hat Zigtausende Follower auf Twitter – und musste vor einigen Monaten erleben, wie nach einem Tweet eine Flut von rechtem Hass über sie hereinstürzt. Damit der nicht wieder losbricht, will sie in diesem Text ihren Namen nicht lesen. Deshalb steht hier auch nicht mehr darüber, was sie genau geschrieben hatte und was dann als Vorlage genutzt wurde, gegen sie zu hetzen. Das war die Bedingung dafür, dass sie offen spricht.
Sie bringt damit erstmals in eine breite Öffentlichkeit, wie die Berliner Organisation HateAid Betroffenen zur Seite springt und die Verfolgung von Beleidigungen und Bedrohungen kostenlos übernimmt. HateAid hat erstritten, dass die ersten Hassposter zahlen müssen, und viele Verfahren kommen noch. Heute geht die gemeinnützige GmbH selbst in einer Pressekonferenz an die Öffentlichkeit.
Die Journalistin wurde Thema in Artikeln auf vielen rechten Portalen. Ihre Sicht blieb meist völlig außen vor, und die Texte wurden geteilt von AfD-Politikern, die es besser hätten wissen müssen. Die Hassposter hatten nun ein Ziel: sie.
"Ich habe es nicht mehr an mich rangelassen"
Zwar solidarisierten sich nun auch Prominente mit ihr. Manche gratulierten ihr auch zum humorvollen Umgang mit einigen Reaktionen. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. "Ich habe es irgendwann nicht mehr an mich rangelassen, ich habe mich von Twitter ferngehalten und die Reaktionen gar nicht gesehen", sagt sie t-online.de.
Sie bemerkte auch lange die Direktnachricht in ihrem Postfach nicht, die auf dem Höhepunkt der Attacken gekommen war. Die Absenderin der Nachricht, Anna-Lena von Hodenberg von HateAid, hatte sie schon auf anderem Weg mit der Botschaft erreicht: "Wir können Dir helfen." Zu t-online.de sagt die HateAid-Geschäftsführerin von Hodenberg: "Ich hatte den Fall in den Medien gesehen, kurz in ihren Twitterfeed geschaut und viele justiziable Äußerungen gesehen. Da habe ich mich bei ihr gemeldet."
HateAid hat bisher 60 Betroffene beraten
Zu diesem Zeitpunkt hatte die Organisationen schon bei etwa 30 Beratungen Erfahrungen gesammelt, so von Hodenberg. Inzwischen sind es 60 Beratungen, 55 Fälle werden zivilrechtlich verfolgt. Einige Betroffene berichten in einem fünfeinhalb Minuten langen Video von ihren Erfahrungen, Raul Krauthausen ist darunter, den ein Nutzer "zum Duschen nach Dachau" wünschte, die muslimische Feministin Kübra Gümüşay oder die Extremismusforscherin Julia Ebner.
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"Viele Betroffene", sagt von Hodenberg, "brauchen erst einmal eine emotional-stabilisierende Beratung, wir verweisen auch weiter an spezialisierte Psychologen und Psychologinnen." Andere hätten Angst, dass auch ihre Profile gehackt werden, "da helfen wir in der Sicherheitsberatung."
Nach Bedenkzeit zugestimmt
Die Journalistin im Shitstorm wollte nur die rechtliche Beratung. Vielleicht ein Zeichen, dass sie schon abgehärtet ist. "Ich hatte mir Bedenkzeit erbeten", erinnert sie sich. "Aber das war auf dem Silbertablett die Möglichkeit, gegen die Leute vorzugehen. Und ich habe mir gesagt, dass der Hass auch kaum noch größer werden kann."
Privat wäre es ihr "viel zu anstrengend gewesen", viele Betroffene könnten es sich auch nicht leisten. "Aber es darf auch nicht am Geld liegen, ob man sich wehren kann oder nicht."
Täter finanzieren die nächsten Klagen
Bei Aufwand und Kosten will HateAid ins Spiel kommen. Die Organisation zahlt die Anwälte und trägt das Prozessrisiko, um Schadenersatz und Schmerzensgeld einzuklagen. Per Vertrag wird geregelt, dass Zahlungen der Täter dafür in einen Fonds für die nächsten Klagen anderer Betroffener fließen.
Von Hodenberg spricht vom Solidarprinzip: "Wer sich mit uns gegen den Hass wehrt, der ihm im Netz passiert, der hilft dem nächsten Betroffenen, sich zu wehren." Die Geschäftsführerin ist von der Kampagnenorganisation Campact zu HateAid gewechselt, Campact hat die gGmbH mit dem Verein Fearless Democracy gegründet.
Im Februar wurde die Gesellschaft im Berliner Handelsregister eingetragen, das erste Lebenszeichen ist aber schon aus dem Juni 2017. Auf den Aufruf, Opfer sollten sich melden, hatte auch Beatrix von Storch reagiert. Kontakt aufgenommen wie angeboten hatte sie dann aber nicht, wie der HateAid-Mitgründer Gerald Hensel in einem Blogpost schrieb.
Bislang hat die Organisation nur mit exponierten Nutzern wie Journalisten und Politikern zusammengearbeitet. "Wir konnten auch Renate Künast schon sehr erfolgreich helfen, gegen Hater vorzugehen." Mit dem Schritt an die Öffentlichkeit will sich die Organisation ab sofort für alle Betroffenen öffnen – ohne Ansehen der Person, der Meinung oder des politischen Hintergrunds. Nur wer selbst Hass verbreitet, soll ausgeschlossen bleiben.
Die Journalistin stimmte nach einigen Stunden des Überlegens der Kooperation zu, sie unterschrieb die Prozesskostenvereinbarung, HateAid legte los, wie Geschäftsführerin von Hodenberg schildert: "Wir sind dann sehr schnell in ihre Tweets reingegangen und haben rechtssichere Screenshots erstellt und geschaut, welche Täter wir mit Klarnamen ermitteln."
Vor Gericht auch gegen die Netzwerke
Diese Personen bekommen dann direkt Post von einer Anwaltskanzlei. Ist die Identität unklar, werden Strafanzeige und Straftantrag erstattet – damit die Behörden den Mensch dahinter ermitteln. HateAid zieht aber auch Twitter oder Facebook vor Gericht, damit die Netzwerke Nutzerdaten herausgeben.
In den folgenden Wochen hatte die Journalistin dann mehrfach E-Mails von der Organisation im Postfach. Ihre Unterschrift war nötig, um jeweils Verfahren zu führen. 29 sind es. "Ich war überrascht, wie viel justiziabel ist."
Für diese Verwunderung hat von Hodenberg eine Erklärung: "Ich glaube, wir als Gesellschaft haben uns schon an übelste Sprache und Beleidigungen im Netz gewöhnt. Und weil keiner dagegen vorgeht, denken wir, wir müssten das aushalten." Strafanzeige richteten wenig aus. Viele Menschen hielten sich bereits aus Angst vor drohendem Hass in Diskussionen zurück, sagt die HateAid-Chefin. "Wo Angegriffene ohne Schutz der liberalen Demokratie allein gelassen werden, erodieren Meinungsfreiheit und die offene Gesellschaft."
"Hauptsache sie hören auf"
Bei der Journalistin habe sie spüren können, wie die ersten juristischen Erfolge ihr neues Zutrauen gegeben hätten, wie sie wieder selbstbewusster im Netz wurde. Es gibt einen Tweet, der sich wie eine triumphierende Botschaft an die liest, die der Frau am übelsten zugesetzt haben. Zwei Einstweilige Verfügungen und fünf Unterlassungserklärungen sind laut HateAid bisher die Bilanz, und die meisten Verfahren laufen noch.
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Die Journalistin spricht vom “schönen Gefühl, wenn man spürt, dass das Netz doch kein rechtsfreier Raum ist, dass diese Leute zur Verantwortung gezogen werden. Ob die jetzt ihr Verhalten überdenken oder aus Angst vor weiteren Kosten aufhören, ist mir eigentlich egal. Die Hauptsache ist doch, sie hören auf."
- Eigene Recherchen
- Internetauftritt HateAid