Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Was heute wichtig ist Ende Gelände
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Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Die Zeiten wandeln sich, aber manche Muster bleiben gleich. Vor 2.000 Jahren, zur Zeit des römischen Kaisers Augustus, verdiente ein durchschnittlicher Gladiator 240.000 Sesterzen im Jahr, entnehme ich der Literatur. Bei guten Kämpfern konnte es auch das Doppelte oder Dreifache sein. Zum Vergleich: Ein öffentlicher Redner (wir würden ihn heute wohl Lobbyist nennen) bekam 10.000 Sesterzen, ein mittelmäßiger Schauspieler 500 pro Auftritt.
Die Gladiatoren unserer Zeit tragen keine Rüstungen, sondern Trikots. Sie kämpfen nicht mit Schwertern und Speeren, sondern mit ihren Füßen und einem Ball. Sie bringen einander gottlob nicht um die Ecke, aber die Arenen ebenso zum Kochen wie ihre antiken Vorgänger.
Wenn Sie meinen Vergleich schräg finden, bitte ich um Verzeihung. Aber gleich danach bitte ich sie zu bedenken: 80 Millionen Euro für einen einzigen Fußballer! So viel beliebt der FC Bayern München für Herrn Lucas Hernandez, 23 Lenze jung, an Atlético Madrid zu überweisen. “Mit der Summe könnte der BSC Hastedt seinen kompletten Spielbetrieb inklusive aller Jugendteams über 900 Jahre lang finanzieren UND sich noch ein 12.500 Zuschauer fassendes, nagelneues Stadion bauen“, kommentierte ein kluger Kopf aus Bremen. Ist ja wahr: Eine derartige Summe für einen jungen Mann, dessen Qualifikation darin besteht, ein Stück Leder geschickt über den Rasen zu kicken – das lässt unsere Kinnlade herunterklappen.
Klappen Sie sie bitte wieder hoch. Habe ich auch gemacht, nachdem ich meinen Sportkollegen zugehört habe. Ja, der Betrag mag uns abwegig vorkommen, vielleicht auch unanständig in einer Welt, in der man schon mit drei Euro pro Tag einen Menschen vor dem Verhungern retten kann. Aber die Relationen sind uns im Spitzenfußball nicht erst seit gestern abhandengekommen. Herr Hernandez mag der teuerste Neuzugang der Bundesliga-Geschichte und der teuerste Verteidiger in der Geschichte des Fußballs sein – andere Spieler waren noch viel kostspieliger. Der absurde Transferwucher mag durch die Millionen arabischer Scheichs und osteuropäischer Oligarchen angeheizt werden, durch nimmersatte Sponsoren und – Entschuldigung für die Spitze, liebe Kollegen in Hamburg und Mainz – auch durch das Gebührengeld öffentlich-rechtlicher Sender.
Aber der eigentliche Grund für die ständig neuen Rekordtransfers liegt bei uns selbst: Es ist unsere Leidenschaft als Fußballfans, unsere nimmermüde Begeisterung für all die Spiele in der Bundesliga, der Champions League, der Europa League, den WM- und EM-Turnieren etc. pp. Nur weil wir hingehen, einschalten, mitjubeln ist der Königssport so ein glänzendes Geschäft. Das kann man selbstkritisch doof finden – oder man akzeptiert es einfach und konzentriert sich auf die sportlichen Aspekte. Auch im Fall Hernandez.
Denn da könnte dieser Transfer für den angeschlagenen FC Bayern einen großen Schritt zurück auf die Erfolgsspur darstellen. “Die 80 Millionen Euro können auch als Zeichen interpretiert werden“, notiert mir mein Sportkollege David Digili. “Mit seiner bisherigen Transferpolitik hat der größte und erfolgreichste deutsche Verein im internationalen Kräftemessen offenbar keine Chance mehr gesehen. Die wahnwitzigen Beträge, mit denen sich die Klubs der englischen Premier League seit Jahren ihre Wunschspieler kaufen wie ein Kind Süßigkeiten, wollten die Bayern lange nicht mitgehen. Das hatte Folgen: Die Münchner investierten im vergangenen Sommer zehn Millionen Euro in Neuzugänge, schieden dann aber in der Champions League gegen den FC Liverpool aus, der (kein Schreibfehler) mehr als 180 Millionen ausgab. Große Investitionen sind kein Garant für Erfolg – zumindest aber für Chancengleichheit und volle Stadien.“
So gesehen könnten sich die 80 Milliönchen für Herrn Hernandez als glänzendes Geschäft entpuppen. Hätten die alten Römer vermutlich nicht anders gemacht.
In Großbritannien ging es gestern wieder mal rund. Theresa May hat ihren Rücktritt angeboten, vorausgesetzt, dass ihr Brexit-Plan im Parlament eine Mehrheit findet. Die Neugestaltung des zukünftigen Verhältnisses zur EU darf dann jemand anderes übernehmen. Derweil beschäftigte sich das Parlament mit einem Marathon an Test-Abstimmungen, um auszuloten, ob irgendein anderer Plan eine Mehrheit findet. Fand er nicht. Zuvor hatten die Abgeordneten der Regierung das Recht entwunden, die Tagesordnung des Unterhauses zu bestimmen. Denn mithilfe dieses Hebels hatten Frau May und ihre verbliebenen Gefährten bisher zu verhindern gewusst, dass das Parlament sich selbständig mit anderen Optionen befasst.
Wenn man diesem bunten Treiben als kontinentaleuropäischer Zaungast zuschaut, könnte man versucht sein, darin ein Fest der Demokratie zu erkennen. Soviel abgestimmt wurde jedenfalls schon lange nicht mehr, obendrein über eine schicksalhafte Frage. Und seinen Ausgang genommen hat das alles mit einem Votum der britischen Bevölkerung. Wenn man Demokratie mit Wahlen und Abstimmungen gleichsetzt, könnte es nicht besser laufen. Doch statt eines Triumphs der Volkssouveränität erleben wir das blanke Chaos, bei dem der Ruf demokratischer Institutionen – des Parlaments genauso wie der Regierung – schweren Schaden nimmt.
Wie kann das sein?
Hierzulande sind wir auf die politischen Parteien – egal, welche – oft nicht gut zu sprechen. Zuletzt hat die Uploadfilter-CDU keine Gelegenheit ausgelassen, sich bei einer ganzen Generation unmöglich zu machen, und die SPD hat ja schon Routine darin, sich ohne Fremdeinwirkung selbst zu demontieren. Die Liste ließe sich fortsetzen. Doch die Briten schaffen es, für unser Parteiensystem eine Lanze zu brechen und uns Deutschen zu zeigen, was wir daran haben. Denn auf der anderen Seite des Kanals hat es aufgehört, zu funktionieren, das Parteiensystem.
Parteien sollen eigentlich ein Instrument der politischen Willensbildung sein, mit anderen Worten: Man streitet sich erst mal ordentlich mit seinen eigenen Leuten, aber am Ende stehen sich im Parlament zugespitzte Positionen ganzer Blöcke gegenüber, nicht ein wildes Durcheinander an Einzelmeinungen. Das eröffnet geordnete Wege – entweder zu einem Kompromiss oder zum Sieg der mehrheitsfähigen Position. Und sei es durch sture Parteidisziplin. Was passiert, wenn man das alles über Bord wirft, sehen wir nun in Großbritannien.
Dort haben die Haltungen zum Brexit die Parteigrenzen aufgelöst. Egal, ob bei den Tories, bei Labour oder in den kleineren britischen Parteien: Überall findet man Brexit-Anhänger unterschiedlicher Radikalität genauso wie solche, die am liebsten in der EU bleiben wollen, sowie Fans aller denkbaren Positionen dazwischen. Keine der britischen Parteien hat diese historische Debatte intern konsequent ausgefochten. Der beliebigen Grüppchenbildung sind inzwischen keine Grenzen mehr gesetzt. Davon, dass es Regierungsparteien gibt, die eigentlich irgendwie sogar tatsächlich manchmal am Ende unter Umständen gegebenenfalls hinter Theresa May stehen könnten, merkt man sowieso schon lange nichts mehr.
Wenn also die Willensbildung in den gewählten Institutionen komplett aus dem Ruder gelaufen ist, dürfen wir uns dann wenigstens über einen Triumph der direkten Demokratie freuen? Gegen den Willen der meisten Politiker haben die Wähler sich für den Brexit entschieden. Egal, was man inhaltlich davon hält, so ein direktes Bürgervotum ist doch eine tolle Sache – oder? Nein, ist es nicht. Eine der größten Leistungen der parlamentarischen Demokratie, schrieb kürzlich der britische Economist, ist es, das Gezerre um politische Entscheidungen von der Straße zu holen. Oder, in den Worten des Comedian John Oliver: Sie sind beim Arzt und haben es mit dem Blinddarm. Hm, sagt der Arzt, was meinen Sie: Wollen Sie ihn drin lassen oder soll er besser raus? Genau, diese Frage wollen wir nicht beantworten. Das soll er bitte schön tun, der Arzt. Und wenn wir irgendwann mit ihm nicht mehr zufrieden sind, dann wechseln wir eben zum nächsten.
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Ja, das dürfen wir mitnehmen aus der britischen Malaise. Demokratie ist mehr als abzustimmen bis zum Umfallen. Und unsere ungeliebten Parteien machen tatsächlich einen wichtigen Job. Es ist nicht einfach, die Willensbildung von Millionen Menschen zu organisieren, und das auch noch so, dass am Ende umsetzbare Kompromisse und nicht bloß Luftschlösser dabei herauskommen. Perfekt ist das nie, und doch ein kleines Wunder. Man vergisst das so leicht, solange es funktioniert.
WAS STEHT AN?
Was macht eigentlich der Digitalrat unter der Leitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel? Sollte der nicht wegweisende Impulse geben, wie Deutschland sich aus dem digitalen Pleistozän in die Zukunft katapultiert? Der Umgang mit Datenmassen und mit künstlicher Intelligenz, die schlauer ist als Menschen. Eine digitale Verwaltung. Innovationsförderung. Der Schutz unserer Persönlichkeitsrechte gegen Staaten und Technologiekonzerne. Themen gibt es ja genug. Was man so hört, sind Klagen über bürokratische Ausweichmanöver in Ministerien und Behörden. Heute Morgen trifft sich die Kanzlerin mit den Mitgliedern des Rates zur nichtöffentlichen Sitzung. Bleibt uns eigentlich nur eine Frage: Was macht eigentlich der Digitalrat unter der Leitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel?
Die Zahl der Verbrechen sinkt, aber bei vielen Bürgern wächst das Gefühl der Unsicherheit. Vor diesem Hintergrund wird heute in Rom die finale Abstimmung über eine Gesetzesänderung zur Notwehr erwartet: Künftig soll es in Italien sehr viel leichter sein, sich mit einer Waffe gegen Einbrecher zu verteidigen. Schon ein “Zustand schwerer Beunruhigung“ soll künftig als Rechtfertigung ausreichen, um loszufeuern oder loszuschlagen. Die Reform ist ein Wahlversprechen des rechtspopulistischen Innenministers Matteo Salvini. Puh.
WAS LESEN UND ANSCHAUEN?
Der Papst empfängt Gläubige, reicht ihnen die Hand – aber zieht diese immer wieder ruckartig weg, als die Menschen seinen Siegelring küssen wollen. Das kurze Video ging gerade um die Welt und sorgte neben viel Amüsement auch für Fragen: Warum macht der das? Hat er Angst, sich anzustecken, ist er unhöflich/genervt/scheu? Mein Kollege Lars Wienand hat jemanden gefragt, der es wissen muss.
WAS AMÜSIERT MICH?
Haben wir zu viel kalte Großspurigkeit in der Bundesliga? Seelenlose Profitgier? Millionärsfußball? Vielleicht müssten die Talent-Scouts etwas weiter über ihren Tellerrand schauen. Zum Beispiel einfach mal an einer Wellblechhütte im östlichen Afrika rumhängen. Bisschen chillen. Und der Frau im Wickelrock bei ihrer Trainingseinheit zusehen.
Ich wünsche Ihnen einen gechillten Tag.
Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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