Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
wenn Sie ebenso früh aufgestanden sind wie ich, haben Sie vielleicht den Blutmond bewundert. Falls nicht, finden Sie hier alles Wissenswerte dazu.
Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
In Amerika überschattet der "Shutdown" Donald Trumps Halbzeitbilanz, in Frankreich und Ungarn gehen Tausende auf die Straßen, in Spanien läuft der Rettungseinsatz für den kleinen Julen, der in ein hundert Meter tiefes Loch stürzte: Es war ein schlagzeilenträchtiges Wochenende. Eine andere Nachricht ging dabei fast unter, dabei ist sie wichtiger. Viel wichtiger. Weil sie zeigt, dass vor unserer Haustür immer noch ein Massensterben stattfindet – und wir zu wenig dagegen tun.
Bei zwei Unglücken im Mittelmeer könnten seit Freitag bis zu 170 Menschen ertrunken sein. Die Internationale Organisation für Migration berichtet von einem Schlauchboot vor der libyschen Küste, dem nach rund elfstündiger Fahrt die Luft entwich. 117 Personen sollen an Bord gewesen sein; bis auf drei werden alle vermisst, darunter zwei Kinder. Ein weiteres Boot mit mehr als 50 Menschen soll zwischen Marokko und Spanien gekentert sein, wie die Vereinten Nationen berichten. Ein einziger Überlebender trieb 24 Stunden lang auf dem Meer, bevor ihn die Besatzung eines Fischerbootes aus dem Wasser zog. Gestern geriet vor der Küste Libyens dann noch ein Boot mit 100 Menschen in Bredouille.
Es gibt Zyniker, die sagen: All das geht uns nichts an. Wir müssen nur die europäischen Mittelmeerhäfen dicht machen und verhindern, dass private Hilfsorganisationen die Schiffbrüchigen auf hoher See retten. Das wird sich dann schnell unter den Migranten herumsprechen, sodass keiner mehr die Überfahrt wagt. Einige dieser Zyniker sitzen in der italienischen Regierung, und sie haben ziemlich genau das umgesetzt, was sie vor ihrer Wahl angekündigt haben: Die Schiffe von Hilfsorganisationen dürfen keine italienischen Häfen mehr anlaufen und werden auf See abgedrängt. Zudem arbeiten die EU-Länder mit der sogenannten "libyschen Küstenwache" zusammen, einem Haufen korrupter Milizionäre, die Flüchtlinge brutal misshandeln. Damit Sie sich ein Bild davon machen können, wie so etwas fernab der kalten Politikersprüche in der Realität aussieht, empfehle ich Ihnen dieses Video der "New York Times". Es zeigt hautnah, wie deutsche Helfer versuchen, Schiffbrüchige zu retten – aber von der "libyschen Küstenwache" daran gehindert werden. Das Perfide: Die Libyer tun genau das, was sie mit den Italienern und der EU vereinbart haben.
Außer noch mehr Leid und noch mehr Tod haben die restriktiven Aktionen wenig gebracht. Die Schlepper weichen auf andere Routen aus. Wo es Geld gibt, gibt es immer Mittel und Wege. Immer noch wagen Monat für Monat Hunderte die lebensgefährliche Überfahrt. Immer noch ertrinken Monat für Monat viele von ihnen (hier sind die bekannten Zahlen). Und wir in Europa schauen dabei zu. Oder schauen weg.
"Wir dürfen die Augen nicht verschließen, wenn so viele Menschen an der Schwelle Europas sterben", sagt der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi. "Ohne sichere und legale Wege für Menschen, die Sicherheit in Europa suchen, bleibt das Mittelmeer ein Friedhof", sagt die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen. Dafür bräuchte es endlich eine koordinierte europäische Migrationspolitik, sage ich. Mit abgestimmten Quoten, transparenten Verfahren und verbindlichen Regeln. Zugleich muss die EU aufhören, Afrika wirtschaftlich auszunehmen, muss ihre Billigexporte und die Fischereipolitik hinterfragen. Solange wir diese Schritte verweigern und uns stattdessen auf libysche Banditen verlassen, machen wir Europäer uns mitschuldig am Tod Hunderter Afrikaner.
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WAS STEHT AN?
Keep calm and carry on: Die Briten gelten als Volk, das nichts so leicht aus der Fassung bringt. Doch angesichts des Brexit-Dauerdramas verlieren viele nun doch die Contenance. Abgeordnete werden als "Faschisten" beschimpft, Bürger bellen sich gegenseitig Flüche ins Gesicht, die Boulevardzeitungen drucken Schmähtiraden. Und mancher schmiedet offenbar ein Komplott.
Heute muss Premierministerin Theresa May im Parlament erklären, wie sie ihren gescheiterten Plan zum Ausstieg aus der EU retten will. Doch selbst die Politiker ihres eigenen Lagers scheinen mehrheitlich nicht mehr daran zu glauben, dass sie noch einen Ausweg findet. Sie beobachten argwöhnisch, wie eine von der Labour-Abgeordneten Yvette Cooper und dem Konservativen Nick Boles angeführte parteiübergreifende Gruppe selbst Regierung spielt: Sollte das Parlament am 29. Januar auch Mays neuen Vorschlag ablehnen, wollen sie einen Änderungsantrag für weitere Verhandlungen mit der EU einbringen. Ziel: den Brexit auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinauszögern. Eine Verlängerung des Dramas um Wochen, Monate (Jahre?) wäre die Folge.
Angesichts des immer tieferen Brexit-Morasts erscheint es sinnvoll, sich noch einmal vor Augen zu führen, wie Großbritannien – eines der erfolgreichsten und wirtschaftlich stärksten Länder Europas – da eigentlich hineingeraten ist. Wer nach den Gründen sucht, stößt zum einen auf die verkorkste Sozialpolitik der vergangenen Jahre, die bei vielen Menschen einen enormen Unmut hervorgerufen hat. Nach den sündhaft teuren Kriegseinsätzen in Afghanistan, im Irak und in Libyen, nach den Einschnitten der Finanzkrise setzten die wechselnden Regierungen die Kommunen, Schulen, Beamten und Sozialhilfeempfänger auf Spardiät. Das ineffektive Gesundheitssystem steht in einigen Städten vor dem Kollaps. Während Deutschland gestärkt aus der Schuldenkrise hervorging, erlebten Millionen Briten, wie sich ihr Lebensstandard immer weiter verschlechterte.
Also mussten vermeintliche Schuldige her: die polnischen Hilfsarbeiter, die uns die Jobs wegnehmen! Die gemeine EU, die uns unterjocht! Gewissenlose Politiker tröteten derlei Parolen monatelang in jedes Mikrofon (und verschwiegen geflissentlich, dass die britische Wirtschaft dringend auf billige ausländische Arbeitskräfte angewiesen ist). Begleitet wurden sie vom Gekreische der Boulevardmedien, die eine Lüge nach der anderen in Riesenschlagzeilen druckten. Hetzkampagnen auf Facebook und Twitter, vermutlich auch mit russischem Geld finanziert, verstärkten das Crescendo.
Der Irrwitz darin: Kein EU-Staat hat von so vielen Sonderregeln profitiert und so viele Extrawürste gebraten bekommen wie die sich notorisch benachteiligt fühlenden Briten. In der Psychologie gibt es das Krankheitsbild der querulatorischen Persönlichkeit. Diese Patienten sind "rechthaberisch, fanatisch und unbelehrbar. Sie wissen grundsätzlich alles besser, selbst dann, wenn sie es nicht besser wissen. Zugleich sind sie verwundbar und sehr verletzlich. Bereits auf kleinstes vermeintliches Unrecht reagieren sie hoch empfindlich. Sie sind stets in Kampfstimmung und warten auf entsprechende Anlässe. Ständig kämpfen sie um ihr Recht oder um generelle Rechte (z. B. der Gesellschaft)", lautet die Definition. Eine Beschreibung, die fast 1:1 auf viele Brexiteers zutrifft.
Die englische Schriftstellerin Laurie Penny hat in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung" den Hergang der britischen Krise am Wochenende so begründet: "Ein Grund für das desaströse Brexit-Votum ist, dass Großbritannien nie ernsthaft die eigene Geschichte aufgearbeitet hat als Imperium und Herrscherin über Kolonien. In zwölf Schuljahren habe ich nicht ein einziges Mal darüber im Unterricht gelernt. In Deutschland nehmen ja schon junge Schüler den Holocaust durch. [Deutschland] hat mit Abstand die reifste Haltung zur eigenen Geschichte. Zum Brexit-Votum hat sicher auch der verwundete Stolz unter den Rechten geführt, dass Großbritannien keine führende Rolle mehr auf der politischen Weltbühne spielt, sondern Teil einer Gemeinschaft gleichberechtigter Staaten ist."
Politische Fehlentscheidungen, Lügenkampagnen, gekränkter Nationalstolz: Drei von vielen Gründen für den Schlamassel, in den die Briten sich selbst gestürzt haben. Irgendwann werden sie sich da herausgekämpft haben. Aber stärker werden sie dann sicher nicht sein. Eine Lehre, die sich alle EU-Kritiker gut merken sollten.
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Weitere Termine heute:
In Berlin beginnen die Tarifgespräche für den Öffentlichen Dienst der Länder. Verhandelt wird für rund eine Million Angestellte und 1,2 Millionen Beamte sowie eine Million Pensionäre. Die Gewerkschaften fordern sechs Prozent mehr Gehalt.
Bundespräsident Steinmeier, Bundestagspräsident Schäuble und Kanzlerin Merkel empfangen heute den usbekischen Präsidenten Schawkat Mirsijojew. Das asiatische Land befindet sich auf Reformkurs und nähert sich Europa an – doch bei den Menschenrechten sieht es zum Teil noch düster aus. "Präsident Mirsijojew muss bei seinem Besuch in Berlin darlegen, dass seine Reformen auch ernst gemeint sind", analysiert der "Tagesspiegel".
Sechs Monate nach Aufbau der Bayerischen Grenzpolizei zieht Innenminister Joachim Herrmann (CSU) heute eine Zwischenbilanz. Die 500 Beamten patrouillieren an der deutsch-österreichischen Grenze, um illegal einreisende Flüchtlinge aufzuhalten. Viel zu tun scheinen sie bisher nicht zu haben.
Im Schweizer Geldparadies Davos beginnt heute das Weltwirtschaftsforum. Donald Trump kommt nicht, Theresa May kommt nicht, Emmanuel Macron kommt nicht, Xi Jinping kommt nicht, und Wladimir Putin kommt wohl auch nicht. Na, irgendwer wird wohl kommen.
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WAS LESEN?
Na, haben Sie auch schon gewischt? Die Shopping-App "Wish" gehört zu den zehn beliebtesten Smartphones-Anwendungen, Millionen Deutsche nutzen sie. Das Versprechen: Man findet dort täglich unzählige Schnäppchen. Die Realität: Viele der angebotenen Produkte sind billige Kopien. Verbraucherschützer warnen jetzt vor dem Billig-Trash. Mein Kollege Helge Denker berichtet.
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Wenn ich morgens in den Spiegel schaue, dann sehe ich: einen ziemlich alten Herrn Harms. Gräben in der Haut, Schneisen auf dem Schädel, früher war mehr Lametta. Wie schön wäre es, fänden Wissenschaftler endlich eine Methode, das Altern aufzuhalten. Tja, ist halt leider Science-Fict... Oh! Wie? Was berichtet denn da die BBC? Ist gar nicht mehr Science-Fiction, sondern GEHT SCHON? Dank 3-D-Druckern, Zellforschung und ... Würmern? Ist ja ein dickes Ding, muss ich unbedingt lesen! Sie auch?
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WAS AMÜSIERT MICH?
Eine Kommission der Bundesregierung erwägt ein Tempolimit von 130 km/h auf deutschen Autobahnen. Tolle Idee, oder?
Ich wünsche Ihnen einen tollen Tag.
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Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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