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Tagesanbruch: Woran der UN-Migrationspakt wirklich krankt


Meinung
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Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.

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Tagesanbruch
Was heute Morgen wichtig ist

MeinungVon Florian Harms

Aktualisiert am 23.11.2018Lesedauer: 9 Min.
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.Vergrößern des Bildes
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. (Quelle: Christoph Soeder/dpa/dpa)
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Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,

hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:

WAS WAR?

Dokumente der Vereinten Nationen verstauben gewöhnlich in den Aktenordnern von Ministerien und landen unter ferner liefen in den Randspalten der Medien. Beim Globalen Migrationspakt ist das anders, er bestimmt seit Tagen die politische Agenda und die Schlagzeilen. Nachdem AfD, Pegida und Co. seit Monaten in den sozialen Netzwerken eine Kampagne gegen den Pakt betrieben haben, nachdem Staaten wie Österreich und Polen angekündigt haben, dem Pakt fernzubleiben, nachdem das Dokument nun auch den Wahlkampf um den CDU-Parteivorsitz prägt (und Außenseiter Jens Spahn zurück ins Spiel gebracht hat), ist die Bundesregierung aufgewacht und versucht beflissen, die Deutungshoheit über das Thema zurückzugewinnen. Angela Merkels kämpferische Rede am Mittwoch im Bundestag kann nicht nur als Kampfansage an ihre vielen Kritiker verstanden werden, sie sollte auch die Reihen des Regierungsapparats hinter der Kanzlerin schließen.

Nötig war’s. Denn dieser Apparat mag nach außen getreu der von Kanzleramt und Außenministerium vorgegebenen Linie kommunizieren – innen ist Kritik zu vernehmen. Sowohl zum Inhalt des Dokuments als auch zu dessen Entstehung und Kommunikation. Die gegenwärtige Kakofonie rund um das Thema wird zudem durch eine Vielzahl von Medienberichten angefacht, die das Verständnis der Tatsachen nicht unbedingt erleichtern. Fünf neue Gastbeiträge zum Thema hier, zehn gepfefferte Kommentare dort, und dazwischen viel Geraune. Meinung rangiert vor Fakten. Der ansonsten sehr geschätzte Kolumnist eines großen Onlinemediums begründete gestern mit spitzer Feder seine Überzeugung, "warum Deutschland den Migrationspakt nicht unterzeichnen darf".

Dabei geht es gar nicht um eine Unterschrift. Schimpfen Sie mich gern einen Korinthenkacker, aber wenn alle Welt aus vollen Backen in die Meinungsposaune bläst, sollte man bei der Beschreibung von Tatsachen besonders penibel sein.

Das Prozedere der UN sieht vor, dass die Staats- und Regierungschefs sich am 10. Dezember in Marrakesch in einem Saal versammeln. Die Versammlungsleiterin wird als ersten Tagesordnungspunkt den Globalen Migrationspakt aufrufen – und wenn dann keiner der Anwesenden den Arm zum Einspruch hebt, gilt er von dem Gremium als gebilligt. Die formelle Annahme erfolgt erst im kommenden Jahr durch die UN-Generalversammlung. Was klingt wie ein unwichtiges Detail, ist in Wahrheit ein wesentlicher Moment in dem Verfahren. Denn er ermöglicht es den Regierungschefs – zum Beispiel der Bundeskanzlerin –, in diesem Moment eine Erklärung abzugeben. Zum Beispiel mit diesem Inhalt: Deutschland macht seine Zustimmung zu dem Pakt davon abhängig, dass dieser vorher im Bundestag noch einmal gründlich diskutiert wird. Und zwar auch deshalb, weil ein CDU-Parteitag drei Tage zuvor genau das gefordert haben könnte (nur zum Beispiel natürlich).

So eine Debatte böte die Gelegenheit, einer breiteren Öffentlichkeit noch einmal haarklein und unaufgeregt die Hintergründe der UN-Initiative zu erklären. Man könnte ausführlich erläutern, wie sie aus der Notsituation des Jahres 2015 heraus entstand, als nur ein Bruchteil der eigentlich zugesagten Hilfsgelder für Flüchtlinge zur Verfügung stand – weshalb viele Syrer in den jordanischen, libanesischen und nordsyrischen Elendslagern nicht mehr versorgt werden konnten und sich auf den Weg nach Europa machten. Man könnte erklären, dass die Initiative genau solche Situationen in Zukunft verhindern soll, indem sie klare, vorsorgende und die Menschenrechte wahrende Rahmenbedingungen für Flüchtlinge fördert. Man könnte auch erläutern, dass es aus Sicht der Bundesrepublik in erster Linie darum geht, die Herkunfts- und Transitländer dazu zu bewegen, die Situation von Migranten zu verbessern – damit diese gar nicht erst versuchen, Richtung Europa weiterzureisen. So gesehen könnte der Migrationspakt ein wichtiger Baustein in Deutschlands Bemühen darstellen, sowohl die illegale Einwanderung einzudämmen, als auch berechtigte Gründe für Asyl – Vertreibung, Verfolgung, Folter – zu reduzieren.

Man könnte weiter ausführen, dass die Vereinbarungen, die eigentlich aus zwei Dokumenten bestehen – dem Migrationspakt und dem Flüchtlingspakt – tatsächlich in einem akribischen und nach internationalen Gepflogenheiten organisierten Prozess erarbeitet worden sind, an dem auch zivilgesellschaftliche Gruppen beteiligt waren und in dem es fünf Anhörungen für Medien und Parlamentarier gab (für die sich aber kaum jemand interessierte). Verheimlicht wurde jedenfalls nichts. Man könnte auch erwähnen, dass die US-Regierung unter Donald Trump rasch aus den Gesprächen ausstieg und dass die ungarische Regierung zwar weiter mitverhandelte – aber gegen den Pakt. Ihr Außenminister bezeichnete Migration als "Verbrechen" (dass während der Nazizeit und im Kalten Krieg auch viele Ungarn in andere Länder flüchteten, sagte er nicht).

Man könnte in der Debatte aber auch ehrlich thematisieren, dass sich anhand des Migrationspakts zeigt, wie hilflos die Regierungsparteien und die Bundesregierung den Kampagnen in den sozialen Medien gegenüberstehen. Viele – vor allem jüngere – Menschen informieren sich heutzutage überwiegend oder sogar ausschließlich auf YouTube und Facebook. Was man dort zu sehen bekommt, hat mit Aufklärung eher wenig, mit Stimmungsmache und Propaganda dagegen viel zu tun. Googeln Sie bitte mal das Wort "Migrationspakt" und werfen Sie einen Blick auf die Videoempfehlungen. Eben.

Zugleich könnte man in einer solchen Debatte auch die inhaltlichen Schwachpunkte des Migrationspakts thematisieren. Man könnte feststellen, dass sich die Diskrepanz zwischen den Beteuerungen der Bundesregierung, der Pakt sei nur ein "rechtlich nicht bindender Kooperationsrahmen", einerseits und den ständig wiederholten Formulierungen in dem Dokument "Wir verpflichten uns …" (im Original: "We commit …") andererseits, nun mal nicht wegdiskutieren lässt.

Man könnte denjenigen zuhören, die davor warnen, dass der Pakt zwar völkerrechtlich unverbindlich sei, aber in ein paar Jahren dennoch eine normative Macht des Faktischen erzeugen könnte. Was passiert denn, wenn sich irgendwann abgelehnte Asylbewerber auf den Pakt berufen und einfordern, dass zum Beispiel dieser Satz trotzdem für sie gilt: "Gewährleistung des Zugangs von Migranten zu Grundleistungen." Was genau ist damit gemeint? Ist dann jedes Mal das Auswärtige Amt zur Stelle und erinnert die Verwaltungsrichter in Rostock, Wiesbaden oder Clausthal-Zellerfeld mit erhobenem Zeigefinger daran, dass der Migrationspakt bitte schön nicht relevant sei? Oder könnte es sein, dass sich dann schrittweise ein neues Gewohnheitsrecht entwickelt, das dem Pakt doch ein kleines bisschen Verbindlichkeit einräumt? Wollen wir das? Genau diese Fragen treiben viele Menschen um, und sie sind nicht alle herzlose Menschenfeinde. Eher haben sie den Eindruck, dass die Politik ihre Interessen bei diesem Thema nicht gut genug vertritt.

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Und wenn man schon mal dabei ist, könnte man im Rahmen einer ausführlichen Debatte auch mehrere merkwürdige Formulierungen im Migrationspakt hinterfragen und sich im Bundestag von Experten des Auswärtigen Amtes erklären lassen, was mit Sätzen wie diesen genau gemeint sein soll:

"Wir müssen außerdem allen unseren Bürgerinnen und Bürgern objektive, faktengestützte und klare Informationen über die Vorteile und Herausforderungen der Migration vermitteln, um irreführende Narrative, die zu einer negativen Wahrnehmung von Migranten führen, auszuräumen."

"Migration war schon immer Teil der Menschheitsgeschichte, und wir erkennen an, dass sie in unserer globalisierten Welt eine Quelle des Wohlstands, der Innovation und der nachhaltigen Entwicklung darstellt und dass diese positiven Auswirkungen durch eine besser gesteuerte Migrationspolitik optimiert werden können."

Mag ja sein, dass man so ein Weltbild in den Schreibstuben der Vereinten Nationen für erstrebenswert hält. Und zweifellos ist auch Deutschland auf eine klug gesteuerte Zuwanderung von Fachkräften angewiesen. Aber ganz so blauäugig wie bei den UN werden die meisten Deutschen nach den Erfahrungen des Jahres 2015 wohl nicht auf das Thema blicken.

Alle diese Punkte und noch einige mehr könnte man im Rahmen einer gründlichen Bundestagsdebatte noch einmal diskutieren. Und dabei vielleicht zu dem Schluss kommen, dass der Migrationspakt grundsätzlich sinnvoll ist, aber inhaltlich und sprachlich überarbeitet werden sollte. Dafür müsste die Kanzlerin allerdings am 10. Dezember in Marrakesch den Arm heben.

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WAS STEHT AN?

Deutschland ist ein wohlhabendes Land, wir haben nahezu Vollbeschäftigung und ein funktionierendes Sozialsystem – aber wir Bürger profitieren in sehr unterschiedlichem Maße davon, weil die Spielregeln ungerecht sind. Seit Jahren tut die Politik zu wenig gegen die Explosion der Mieten, die Steuertricks von Großkonzernen, die Benachteiligung von Familien, unterschiedliche Bildungschancen, die Altersarmut. Dieses jahrelange Versagen habe ich in einer Tagesanbruch-Ausgabe vom vergangenen Mai als "den wohl größten Skandal in unserem Land" bezeichnet – und dafür von vielen Lesern vehemente Kritik geerntet. Okay, womöglich war die Formulierung zu steil, aber das Problem bleibt. Und es wird nicht kleiner, sondern größer.

Jeder fünfte in Deutschland ist von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Das ist tatsächlich ein Skandal, und er bedroht unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Deshalb bin ich froh, dass meine Kollegen aus unserem Politik-Ressort heute mit ihrer Serie "Armut in Deutschland" beginnen. Darin beleuchten sie in den kommenden Tagen das Problem in Analysen, Reportagen, Interviews und Videos von unterschiedlichen Seiten. Wen trifft Armut besonders heftig? Welche Lösungen gibt es? Geht die Schere zwischen Arm und Reich wirklich auseinander? Und was sagen Sie, liebe Leserinnen und Leser, dazu? Zum Auftakt empfehle ich Ihnen sehr den Artikel meines Kollegen Patrick Diekmann: "Viele Deutsche marschieren in die Altersarmut." In einem Tweet habe ich ihn als den "wichtigsten Text der Woche" bezeichnet und behauptet, er sei relevanter als 25 Artikel zur Taktik von Merz/AKK/Spahn. Ich stehe dazu: Diese Formulierung ist nicht zu steil.

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Nicht nur der UN-Migrationspakt bestimmt die Debatten im politischen Berlin, heute bekommen die Ministerialbeamten, Parlamentarier und TV-Talker weitere Diskussionsvorlagen serviert: Am Morgen stellt die Bertelsmann Stiftung ihre Studie zur Entwicklung der Fachkräfte-Zuwanderung vor, und das Statistische Bundesamt informiert über die Zahl anerkannter Flüchtlinge und Asylbewerber.

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Der Bundestag beendet heute seine Etatberatungen mit der Abstimmung über den Haushalt 2019. Zur Erinnerung: Ausgegeben werden dreihundertsechsundfünfzig Komma acht Milliarden Euro. Die Neuverschuldung liegt bei null Euro.

Der Bundesrat befasst sich heute mit mehr als 20 Gesetzesbeschlüssen, darunter Brückenteilzeit, Rentenpaket, Familienentlastung und das Sofortprogramm Pflege. Außerdem wollen die Abgeordneten über den EU-Vorschlag zur Abschaffung der Zeitumstellung beraten. Meine Prognose: Das Thema wird im Sande der Bürokratie versickern.

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Das belgische Königspaar Philippe und Mathilde besucht heute Berlin, um gemeinsam mit Bundespräsident Steinmeier an das Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren zu erinnern.

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In Den Haag steht heute erstmals seit Ausbruch des Bürgerkrieges in der Zentralafrikanischen Republik ein Rebellenführer vor dem Internationalen Strafgerichtshof: Alfred Yekatom, Spitzname Rambo, werden schwere Kriegsverbrechen wie Mord, Folter und Deportationen zur Last gelegt.

Wahre Helden werden dagegen in Stockholm geehrt. Sieben Menschenrechtler und Umweltschützer bekommen den Alternativen Nobelpreis überreicht: Der Bauer Yacouba Sawadogo aus Burkina Faso und der Australier Tony Rinaudo setzen sich dafür ein, dass unfruchtbares Land in Afrika landwirtschaftlich genutzt werden kann. Die saudi-arabischen Menschenrechtskämpfer Abdullah al-Hamid, Mohammed Fahad al-Kahtani und Walid Abu al-Chair fordern friedlich das autoritäre System ihres Landes heraus. Den Ehrenpreis erhalten die Juristen Thelma Aldana und Ivan Velásquez, die in Guatemala Machtmissbrauch aufdecken und Korruption verfolgen.

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Im niedersächsischen Garbsen wird heute erstmals in Deutschland das System Bike-Flash an einem Lkw installiert: Es soll Lastwagenfahrer warnen, wenn sich beim Rechtsabbiegen ein Radfahrer im toten Winkel aufhält. Gute Sache.

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WAS LESEN?

Was haben sich die Leute früher für Geschichten erzählt über die Menschen in fernen Ländern! Über wilde Eingeborene mit Speer und Bogen, die Fremde in den Kochtopf steckten. Längst wissen wir, dass das auch damals schon Quatsch war, heute sowieso. Aber vielleicht erklären die alten Geschichten, warum ein Vorfall auf den Sentinel-Inseln eine so merkwürdige Faszination ausübt und internationale Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Inseln liegen fernab im Indischen Ozean, und normalerweise hört man nichts von dort, denn es fährt niemand dort hin. Buchstäblich niemand. Es ist verboten. Und es ist auch eine ganz, ganz schlechte Idee. Denn dort lebt ein kleiner Stamm, zwischen 50 und 150 Menschen dürften es sein, die noch nie Kontakt zur Außenwelt gehabt haben und ihr Eiland gegen jeden Eindringling verteidigen.

Vergangene Woche hat sich ein 27-jähriger Amerikaner per Boot in die Nähe der Insel schippern lassen. Er ging auf See von Bord, machte sich mit seinem Kanu zum Ufer auf und schickte sich an, die Bewohner zum Christentum zu bekehren. Sein von Pfeilen durchbohrter Körper liegt nun am Strand. Seine Mission, wie auch ihr Ende, scheinen in ein anderes Jahrhundert zu gehören. In die Zeit, als britische Eroberer auf die benachbarten Inseln vorstießen und dort Tausende von Ureinwohnern starben, weil sie den eingeschleppten Keimen nichts entgegenzusetzen hatten. Den Ureinwohnern auf den Sentinel-Inseln ist das nicht passiert. Die schossen ihre Pfeile auf jeden, der sich an ihre Gestade wagte. Nur deshalb gibt es sie noch. Sonst wären sie längst eine Geschichte von früher.

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WAS AMÜSIERT MICH?

Gestern habe ich Sie vor Killerrobotern gewarnt, die von künstlicher Intelligenz gelenkt werden. Einen Moment dauert das allerdings noch. Schauen wir uns also mal den aktuellen Stand der Technik an. Voilà: Hier sehen Sie künstliche Intelligenz, wie sie automatisch Antworten auf E-Mails vorschlägt. Beruhigend.

Ich wünsche Ihnen einen ruhigen Freitag – und nun aber wirklich ein schönes Wochenende. Ab Samstagmorgen können Sie hier die neue Tagesanbruch-Radiosendung hören.

Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de

Mit Material von dpa.

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