Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
bei der Auslieferung des Tagesanbruch-Newsletters gab es zuletzt leider technische Probleme, worauf uns viele von Ihnen zu Recht hingewiesen haben. Wir arbeiten daran, dass dies nicht mehr vorkommt.
Und hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Stellen Sie sich bitte Folgendes vor: An dem Ort, an dem Sie leben, gibt es einen Laden. Er hat attraktiv gestaltete Schaufenster, die Mitarbeiterinnen sind nett und zuvorkommend. So wie die meisten Einwohner des Ortes gehen auch Sie jeden Tag in diesen Laden und geben einen Teil ihres Privatlebens dort ab: Videos Ihrer Kinder, Bilder Ihrer Ehefrau im Bikini, Ihres Gatten am Grill, intime Botschaften an Ihre Freunde und Bekannten, Anekdoten und kleine Beichten aus Ihrem Privatleben. All das landet in diesem Laden. Und wenn der Laden abends schließt, werden all die Bilder, Videos und Texte in eine Maschine gestopft, die sie analysiert, auswertet, abgleicht und minutiös Persönlichkeitsprofile aus den so gewonnenen Informationen erstellt. Diese Profile nutzt der Ladenbesitzer dann, um nicht nur Werbeplakate vor Ihrer Haustür aufzuhängen, die exakt Ihren Konsumwünschen entsprechen. Er verkauft die Informationen auch an Dritte weiter. Und gelegentlich brechen nachts Diebe in den Laden ein und stehlen säckeweise Fotos, Videos und Texte, weil der Besitzer die Hintertür leider nicht abgeschlossen hat.
Warum ich Ihnen das erzähle? Weil es manchmal einfache Bilder braucht, um zu erklären, welchem Risiko wir uns aussetzen – aus Naivität, Sorglosigkeit, Ignoranz. Sicher, das Bild des Ladens ist ein wenig arg einfach geraten, die Wirklichkeit ist komplexer. Aber ganz falsch ist es nicht, um zu beschreiben, was wir uns selbst antun, wenn wir unsere privaten Informationen auf Plattformen wie Facebook, WhatsApp, Instagram oder YouTube hochladen. Wir und die anderen mehr als zweieinhalb Milliarden Menschen, die diese Dienste nutzen. Wir schenken undurchsichtigen Konzernen einen Teil unseres Lebens – und merken oft gar nicht, wie perfide wir dabei manipuliert werden. Sogar dann, wenn wir nichts posten, sondern nur etwas suchen:
"Insbesondere auf YouTube, aber auch auf Facebook gibt es einen sogenannten Rutscheneffekt, der durch die Präferenz für hohe emotionale Intensität entsteht", schreiben Constanze Kurz und Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Clubs, in Ihrem heute erscheinenden Buch "Cyberwar. Die Gefahr aus dem Netz". "Sobald man das erste Video zu einem Thema ausgewählt hat, bietet der Autoplay-Algorithmus innerhalb weniger Filmchen immer drastischere Inhalte an. In systematischen Studien wurde bestätigt, was sich durch einfache Beobachtung selbst leicht feststellen lässt: Während auf der ersten Seite der Suchergebnisse noch ein relativ ausgewogenes Spektrum von Meinungen angeboten wird, landet man sehr zügig bei immer offenerer Propaganda, Verschwörungstheorien und Desinformationsinhalten. Die Nutzer von Social-Media-Plattformen befinden sich also nicht nur in einer Filterblase, sie werden innerhalb dieser Blase auch noch immer weiter zu extremen Inhalten und Meinungen gedrängt."
Was folgt daraus?
Sicher, man kann ein Social-Media-Profil mit ein paar Klicks zumindest ein klein wenig abschirmen. Man kann sich in Berichten wie dem meiner Kollegin Laura Stresing informieren, was das jüngste Facebook-Datenleck genau bedeutet. Wir können uns auch jedes Mal, bevor wir all die praktischen Web-Dienste nutzen, selbst zur Achtsamkeit ermahnen. Wer aber partout nicht manipuliert, nicht belogen und nicht ausspioniert werden will, der muss wohl auf die praktischen Dienste aus Amerika weitgehend verzichten. So einfach ist das und so schwer.
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WAS STEHT AN?
Die Regierungsparteien geben derzeit ein ziemlich orientierungsloses Bild ab. Die SPD kämpft mit sich selbst, in der Union wenden sich immer mehr Leute von den alten Schlachtrössern Merkel und Seehofer ab, die Bundestagsfraktion schlägt den Weg des Neubeginns ein. Um den Kabinettstisch sitzt kein eingeschworenes Team, sondern eine Truppe aus Einzelkämpfern. Jede der drei Parteien macht Politik auf eigene Rechnung und für die eigene Klientel (oder das, was sie dafür hält).
Immer mehr Bürger wenden sich von dieser um sich selbst kreisenden politischen Elite ab und suchen Orientierung, Halt und Resonanz in den kleineren, schärfer konturierten Parteien. Zum Beispiel bei den Grünen, die sich als neue Kraft der progressiven Mitte inszenieren und in den Umfragen nach oben stürmen. Zum Beispiel bei der AfD, die erfolgreich Empörte, Frustrierte, zum Teil Radikale, aber auch jene Bürger sammelt, die sich von niemandem sonst mehr gehört und vertreten fühlen, die den Regierenden einen Denkzettel verpassen wollen. Wir erleben eine turbulente politische Zeit, die sich auch durch wachsende Konfrontation auszeichnet. Der Ton wird rauer, Forderungen werden radikaler, die Unsicherheit wächst. Trotz starken wirtschaftlichen Rückenwinds schwankt Deutschland politisch auf stürmischen Wellen.
Wer kann die von vielen Bürgern ersehnte Orientierung bieten, eine Kraft der Mitte, eine verlässliche Autorität? Auch die Wirtschaftsbosse fallen fast alle aus. Mit Ausnahme des Siemens-Chefs Joe Kaeser haben die Führer der Dax-Konzerne bislang so gut wie nichts zur angespannten politischen Lage zu sagen, äußern allenfalls im vertraulichen Gespräch, welche Sorgen ihnen die zunehmende Spaltung der Gesellschaft macht. Die Angst, den einen oder anderen Käufer ihrer Autos, Aktien oder Turnschuhe zu verlieren, ist größer als ihre Courage zum offenen Wort, als ihr gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein.
Sicher, es gibt viele profilierte Künstler, Kulturschaffende und Publizisten, die den Mund aufmachen. Aber auch sie kreisen häufig um sich selbst, ihre Beiträge erschöpfen sich oft in der Kritik, der Analyse, dem effektheischenden Bonmot. Auch sie sind oft in ihrer Blase gefangen, den Leitartikelseiten der linksliberalen oder rechtskonservativen Medien, der Twitter-Schickeria, den Minizielgruppensendungen im Fernsehen, den Podiumsdiskussionen in Hörsälen. Wo also ist die große moralische Autorität, der bundesweit – von Frankfurt an der Oder bis Duisburg, von Kiel bis Garmisch-Partenkirchen – die Bürger zuhören, sich von ihr zum Nach- und Mitdenken anregen lassen?
Frank-Walter Steinmeier besitzt, neben Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, die größte Erfahrung aller amtierenden deutschen Politiker. Er war Kanzleramtsminister, Kanzlerkandidat, Fraktionschef im Bundestag, Außenminister – und ist nun ein sehr aktiver Bundespräsident. Er war es, der in der verfahrenen Lage nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen die große Koalition schmiedete: Er redete den SPD-Genossen ins Gewissen, appellierte an ihre staatspolitische Verantwortung. Er tourte im Sommer unermüdlich durch deutsche Städte und Gemeinden, sprach mit den Menschen, machte sich persönlich ein Bild von der Lage des Landes, diskutierte mit Bürgern über unsere Demokratie.
Er initiierte den Besuch des türkischen Präsidenten und machte ihn – bei aller Kritik an Erdogans harschem Auftritt, dem Zwischenfall auf der Pressekonferenz im Kanzleramt und dem enormen Sicherheits-Tamtam – zu einem Erfolg. Steinmeier gelang die schwierige Gratwanderung: Er formulierte einerseits deutliche Kritik an Erdogans autoritärem Regierungsstil, andererseits nahm er nach Jahren der eisigen Funkstille den Gesprächsfaden wieder auf. Der langjährige Diplomat ist überzeugt, dass sich Konflikte nur durch reden, reden, reden lösen lassen. So hat er es während seiner gesamten Karriere gehalten – und im Falle Erdogans konnte er die Kanzlerin von diesem Weg überzeugen.
Bei vielen anderen Themen agiert Merkel anders, ignoriert Kritik, sitzt Probleme aus, redet Unmut klein – so lange, bis der Unmut zu einem Sturm anwächst. So wie in der Flüchtlingskrise. So wie in vielen ostdeutschen Städten, in die die Kanzlerin sich ohne massives Sicherheitsaufgebot kaum mehr trauen kann. Wenn sie sich denn mal traut. Ein großer Teil des Unmuts über Merkel dürfte schlicht und einfach in der Tatsache wurzeln, dass sie schon so lange im Kanzleramt sitzt. Sie hat alle Konkurrenten ausgekontert und vor spätestens einem Jahr den Wechsel aus eigenem Antrieb verpasst. Sie macht einfach weiter, und Deutschland sieht ihr dabei zu, wie sie dabei immer lethargischer wird, wie ihre Autorität schwindet. Auch deshalb fällt das Kanzleramt als einigende gesellschaftliche Autorität inzwischen weitgehend aus.
Keine zwei Kilometer westlich des Kanzleramts residiert sie nun, diese Autorität: im Schloss Bellevue sitzt ein Bundespräsident, der – trotz der engen Leitplanken, die ihm sein überparteiliches Amt setzt – immer stärker zur steuernden Kraft wird. Ein politischer Vollprofi mit klarem moralischem Kompass, exzellenten internationalen Kontakten und der Gabe, den passenden Ton zu treffen: im Gespräch mit Bürgern auf Marktplätzen ebenso wie mit Politikern oder Wissenschaftlern, etwa beim "Forum zur Zukunft der Demokratie" an diesem Donnerstag. Angesichts des wilden politischen Herbstes ist das doch ein beruhigendes Gefühl.
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Die wichtigsten Termine des Tages in Kürze:
Nachdem sie sich monatelang gestritten und tagelang von einem Fehler ins nächste Missgeschick gestolpert sind, wollen die Regierungsparteien zur Abwechslung mal zur Sacharbeit zurückkehren und auf dem Koalitionsausschuss heute Abend einige Pflöcke einschlagen: Wie lassen sich Diesel-Fahrverbote in Großstädten doch noch verhindern, bekommen Autobesitzer eine Umtauschprämie und bezahlen die Hersteller oder der Staat? Wie sieht das geplante Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz konkret aus und wie lässt sich der grassierende Mietwucher in Städten verhindern? Auf diese Fragen soll es heute Abend ein paar Antworten geben. Schön wär’s ja.
Berlin richtet die zentrale Feier zum 28. Jahrestag der Deutschen Einheit aus, heute beginnt das Bürgerfest rund ums Brandenburger Tor. Bis Mittwochabend werden eine Million Besucher erwartet. Aber wie groß sind die Unterschiede zwischen Ost und West wirklich noch? Das verrät das Statistische Bundesamt heute in seinem Bericht zur Lebenssituation der Deutschen.
In Birmingham treffen sich die britischen Konservativen heute zu ihrem mehrtägigen Parteitag. Versucht Ex-Außenminister Boris Johnson, Premierministerin Theresa May und ihren Brexit-Plan zu stürzen? Auf der Insel geht es politisch drunter und drüber. Und während die Politiker sich in Machtspielen verheddern, verstreicht die Zeit bis zum Austrittstermin des Landes aus der EU. Dass bis zum 29. März eine geordnete Lösung zustande kommt, ist inzwischen so wahrscheinlich wie ein Monat ohne Regen auf der Insel. Wir steuern auf ein wirtschaftliches Chaos zu.
In Solna bei Stockholm wird heute Vormittag der Nobelpreis für Physiologie und Medizin bekannt gegeben. Anschließend werden wir versuchen, Ihnen zu erklären, was der oder die Gewinner herausgefunden haben.
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WAS LESEN?
Allerorten ist viel von den Brüchen in unserer Gesellschaft die Rede, aber auch vom erstarkenden Rechtsextremismus. Der wird stärker, keine Frage: Neonazi-Organisationen vernetzen sich immer besser, treten immer dreister auf, greifen zu militanten Mitteln. Aber was ist mit der Mitte der Gesellschaft – rückt die ebenfalls nach rechts, wie es viele Publizisten behaupten? Gibt es den Rechtsruck in Deutschland, Frankreich, Italien, den USA und andernorts wirklich? Unser Parlamentsreporter Jonas Schaible sagt: Dass die ganze Gesellschaft nach rechts rutscht, stimmt nicht; die Wirklichkeit ist komplizierter. Eine neue Konfliktlinie durchzieht die westlichen Gesellschaften. Woher kommt sie und was macht sie aus? Darüber hat mein Kollege einen fulminanten Essay geschrieben.
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Mit einer Abteilung für Cyber-Sicherheit versucht die Bundeswehr seit einem Jahr, Hacker-Angriffe auf deutsche Unternehmen, Infrastruktur und Privatpersonen abzuwehren. Das funktioniert aber mehr schlecht als recht, hat unser Technikexperte Tim Kummert herausgefunden. "Würde eine Firma so agieren, wäre sie schon längst von Hackern auseinandergenommen worden", hat ihm ein Insider über die IT-Strategie der Bundeswehr gesagt. Den ernüchternden Bericht lesen Sie hier.
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WAS AMÜSIERT MICH?
Was fällt Ihnen ein, wenn Sie das Wort "Familienurlaub" hören? Sommer, Sonne, Strand? Berge, Wiesen, Seen? Körperlose Köpfe, die aus heißem, schwarzem Vulkansand herausschauen? Ja, genau. Heute möchte ich Ihnen zeigen, wie Menschen aus aller Welt die Familienferien verbringen. Sagen wir mal so: Es gibt da Unterschiede. Aber einladend sieht es überall aus. Sogar bei denen mit den Köpfen.
Ich wünsche Ihnen einen federleichten Wochenstart. Falls Sie nicht eh schon im Herbsturlaub sind: In zwei Tagen ist schon wieder frei!
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: t-online-newsletter@stroeer.de
Mit Material von dpa.
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