Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Tagesanbruch Was heute Morgen wichtig ist

Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
hier ist der kommentierte Überblick über die Themen des Tages:
WAS WAR?
Ich könnte den heutigen Tagesanbruch mit der Krise in Italien beginnen, aber erstens habe ich schon gestern darüber geschrieben, und zweitens können sie darüber heute auch in jedem anderen Medium lesen.
Nein, heute möchte ich Sie auf ein anderes Thema hinweisen. Weit, viel weiter weg als Italien, aber was dort geschieht, ist noch viel dramatischer. In Kutupalong, im Südosten Bangladeschs leben Hunderttausende Menschen. Wie viele es genau sind, weiß man nicht genau: 500.000? 700.000? 830.000? Und nein, eigentlich leben sie dort nicht, sie vegetieren. Sie gehören zur Volksgruppe der Rohingya und sind vor Mordbrennern, Vergewaltigern, Folterern in Myanmar hierher geflohen. Mit der Hoffnung, dass ihnen irgendjemand hilft. Aber da ist niemand, der hilft. Da sind nur Lehm, einfache Hütten aus Bambus und Plastikplanen sowie die Angst vor Überschwemmungen. Es herrscht Elend im größten Flüchtlingslager der Welt.
Moment, da ist doch jemand, der hilft: Organisationen wie Unicef sind da, um die vielen, vielen Flüchtlinge zu unterstützen. Sie organisieren Lebensmittel und Medikamente, säubern Brunnen, helfen beim Hüttenbau, errichten Gräben und Wälle gegen drohende Überschwemmungen. Damit Sie sich besser vorstellen können, wie es dort aussieht, habe ich die Leute von Unicef gebeten, das Lager mit einer Drohne zu filmen. Mich erinnert es an eine apokalyptische Szene. Aber schauen Sie bitte selbst.
All die Menschen, die in diesen Lagern vegetieren müssen, verdienen unsere Aufmerksamkeit und unser Mitleid. Und die Helfer von Organisationen wie Unicef verdienen unsere Bewunderung (und, wenn Sie mögen, auch unsere Unterstützung).
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WAS STEHT AN?
Man kann das einfach mal so sagen: Der Skandal um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ist im Moment vielleicht das am stärksten unterschätzte Problem der Bundesregierung. Sicher, es gibt starke Sprüche von Ministern und das übliche Gezänk zwischen den Parteien, wer nun was verschuldet und wer was aufzuarbeiten habe. Mein Eindruck: Die meisten Menschen sind von diesem Gezänk mächtig genervt. Dass offenbar selbst Straftäter in der Bremer Außenstelle des Bamf zu Unrecht Asyl bekommen haben, ist unerhört. Heute müssen Bamf-Chefin Jutta Cordt und Bundesinnenminister Seehofer vor dem Bundestagsinnenausschuss Rede und Antwort stehen. Das ist okay, aber Routine. Das reicht nicht. Die Parteien müssen sich jetzt schleunigst zusammenraufen, um einen Untersuchungsausschuss einzurichten. Finde nicht nur ich, findet auch die große Mehrheit der Deutschen, wie eine exklusive Umfrage im Auftrag von t-online.de zeigt.
Und Seehofer muss zeigen, dass er es mit seinen starken Sprüchen ernst meint, und den Skandal lückenlos aufklären. Das Zeug dazu hat er, er war in seinem politischen Leben schon mehrfach mit schwierigen Krisen konfrontiert: dem Blutkonservenskandal, dem Vogelgrippeausbruch, der Landesbankkrise. Jetzt also das Bamf. Aufklärung bitte! Aber, mit Verlaub, bitte avanti.
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Der 29. Mai 1993 hat Deutschland erschüttert. Rechtsradikale zündeten das Wohnhaus der türkischstämmigen Familie Genç in Solingen an. Fünf Mädchen und Frauen starben in den Flammen – sechs Monate, nachdem Neonazis in Mölln bereits drei Menschen ermordet und neun verletzt hatten. Politiker eilten zum Tatort, beteuerten ihre Betroffenheit. Ich erinnere mich gut an die Fernsehbilder von damals. Schaut man sich die "Tagesschau" des 29. Mai 1993 noch einmal an, spürt man noch heute die Erschütterung. Die stärksten Worte fand SPD-Politiker Günther Verheugen: "Das ist Terror, der sich gegen uns alle richtet. Gegen die bei uns lebenden Ausländer, aber auch gegen die Deutschen – weil Ausländer ja das Gefühl haben müssen, bei uns nicht sicher leben zu können."
Viele Menschen machten damals allerdings auch die Asylpolitik der Kohl-Regierung für den Hass mitverantwortlich. Der Kanzler fachte den Ärger weiter an, indem er sich weigerte, an der Trauerfeier für die Opfer teilzunehmen. Sein Sprecher schob "weiß Gott andere wichtige Termine" vor; man wolle nicht "in Beileidstourismus ausbrechen". Kaltherziger Zynismus. Ein Tiefpunkt in Kohls Kanzlerschaft.
Die vier verurteilten Täter haben ihre Haftstrafen inzwischen verbüßt – aber die Wunde in Solingen bleibt. Deshalb finden heute dort und in Düsseldorf mehrere Gedenkveranstaltungen und Schweigemärsche statt. Ministerpräsident Laschet ist ebenso dabei wie Bundeskanzlerin Merkel, der türkische Außenminister Cavusoglu – und Mevlüde Genç, die damals fünf Familienmitglieder verloren hat. Ein erschütterndes Schicksal.
Beunruhigend finde ich aber auch dies: Aus Sicht der Türkei hat sich 25 Jahre nach dem Solinger Anschlag nicht viel verbessert. Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit in Europa nähmen zu, heißt es aus Ankara.
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Nur noch 16 (Ja, nur 16!) Tage bis zur Weltmeisterschaft. Die Vorfreude steigt – aber selten war ein Ausrichterstaat so umstritten wie Russland. Grund genug für unseren Autor Stephan Orth, das große Land im Osten mit einem Russland-ABC vorzustellen: jeder Buchstabe ein Stichwort. Los ging es gestern mit Buchstabe A wie Alkohol, heute kommt, genau, B wie … ach nein, lassen Sie sich überraschen. Das ABC lesen Sie übrigens auch auf unseren vielen Public-Video-Screens in Innenstädten, Bahnhöfen und Einkaufszentren.
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Mehr Debatte, mehr Austausch
Die Kommentarfunktion unter unseren Artikel auf t-online.de ist seit Jahren ein wichtiges Forum für viele Leserinnen und Leser. Rund 370.000 Nutzer haben sich registriert, um mitzudiskutieren. Allerdings hat das Forum auch immer wieder für Unmut gesorgt: weil aufgrund der großen Zahl der Beiträge Beleidigungen oder Hetze manchmal nicht schnell genug gelöscht werden konnten. Oder weil wir unter manchen Artikeln kein Forum öffnen konnten, da unser Team mit dem Moderieren nicht mehr nachkam.
Nun wollen wir den Kontakt zu Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, vertiefen und die Qualität der Debatten steigern. Deshalb bauen wir das Forum technisch um. Dies erfordert allerdings größere Umstellungen, weshalb wir die Kommentarfunktion für einige Tage vollständig schließen müssen. Ab dem 11. Juni begrüßen wir Sie herzlich in unserer neuen Community, die Ihnen auch einige neue Funktionalitäten bietet. Wir freuen uns auf anregende Debatten mit Ihnen.
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HELD DES TAGES …
... ist selbstverständlich Mamoudou Gassama. Der Flüchtling aus Mali hat etwas getan, wofür wir ihm nur größten Respekt zollen können. Schön, dass Frankreichs Präsident Macron das ebenso sieht.
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WAS LESEN?
Täglich bekommen wir Redakteure Rückmeldungen von Leserinnen und Lesern – aber so viele positive Reaktionen wie auf den letzten Text von Lamya Kaddor haben wir lange nicht erhalten. Dabei hat unsere Kolumnistin nicht mehr gemacht, als einen Liebesbrief zu schreiben. Der Adressat ist allerdings ungewöhnlich.
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EU-Kommission und Umweltbundesamt wollen Geschirr und Strohhalme aus Plastik verbieten: Diese Nachricht hat gestern viele unserer Leserinnen und Leser bewegt. Weil sie uns zeigt, welch ein riesiges Problem Plastikmüll ist. So groß, dass sich meine Kolleginnen Claudia Hamburger und Silke Ahrens in einer umfangreichen Artikelserie damit beschäftigen werden. Zum Auftakt geben sie Ihnen heute zehn praktische Tipps: Wie Sie beim Einkaufen Plastik meiden können.
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Mitgefangen, mitgehangen. Als Sprichwort mag das ja durchgehen. Als strafrechtliches Prinzip lässt es einem die Haare zu Berge stehen. In den USA werden Menschen wegen Mordes abgeurteilt, von denen niemand behauptet, sie hätten einen Mord begangen – auch nicht die Polizei, auch nicht der Staatsanwalt. Zum Beispiel: Ein paar zwielichtige Typen fahren per Auto zu einem Dealer und brechen in seine Wohnung ein, um den Safe zu stehlen. Es geht schief, es kommt zu Gewalt, eine 18-Jährige stirbt im Handgemenge – und wegen Mordes verurteilt wird hinterher: jemand, der dem Täter verkatert das Auto geliehen hatte. Rechtsstaat? Na ja, eher nah an Willkür.(engl.)
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WAS FASZINIERT MICH?
Ballett ist ein seltenes Glück hier im Tagesanbruch. Heute ist also Ihr Glückstag. Die kurze Vorstellung, die ich Ihnen nicht nur aufs Wärmste, sondern auch aufs Nasseste empfehlen kann, wird Ihnen ebenso wie der Tänzerin den Atem stocken lassen. Die Bühne: Das tiefste Schwimmbecken der Welt in Venedig. Genauer: der Grund dieses Beckens. Unfassbar lange Sequenzen unter Wasser, in scheinbarer Schwerelosigkeit, und man fragt sich: Muss die nicht mal atmen? Verpassen Sie nicht den Schluss.
Ich wünsche Ihnen einen sonnigen Tag.
Ihr Florian Harms
Chefredakteur t-online.de
E-Mail: harms.chefredaktion@t-online.de
Mit Material von dpa.
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