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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Bundesparteitag der AfD Höcke ante portas
Die AfD wählt bald neue Vorsitzende – und der Thüringer Rechtsaußen Björn Höcke liebäugelt mit einer Kandidatur. Seine Chancen waren noch nie so gut. Denn selbst seine Gegner hoffen, dass er antritt.
Der Flurfunk unter Mitarbeitern und Abgeordneten der AfD-Fraktion überschlägt sich. Denn am Montag gab es nach Informationen von t-online seltenen Besuch in den Räumen der Partei im Bundestag: Björn Höcke. Der Thüringer Fraktionschef, umstrittenster Politiker der AfD, soll sich bei unterschiedlichen Terminen gleich mit mehreren Vertretern der Fraktion getroffen haben – unter ihnen auch der Ehrenvorsitzende Alexander Gauland, ein einflussreicher Strippenzieher in der Fraktion.
Höcke ist parteiintern dafür bekannt, dass er sein Bundesland selten verlässt; die Hauptstadt ist vielen AfDlern, vor allem den radikalen, als "links-grün-versiffter Moloch" verhasst.
Auch deshalb kocht die Gerüchteküche seither: Was wollte Höcke in Berlin?
"Mehrheiten für den Vorsitz organisieren", vermuten die meisten. Mehrheiten finden also für den Griff nach der Macht auch im Bund, um den einflussreichsten Posten als Parteivorsitzender zu erlangen. Der heißt in der AfD "Bundessprecher" und wird in wenigen Wochen gewählt.
Treiber eines völkisch-nationalen Parteikurses
Zeitlich passt Höckes Besuch gut: Am Wochenende erst hat er sich medienwirksam als möglichen Kandidaten für den Bundesvorstand ins Spiel gebracht. Sollte er tatsächlich kandidieren und auch noch gewinnen, könnte der Schritt den Niedergang der Partei auf Bundesebene beschleunigen, wenn nicht gar ihr Ende besiegeln.
Denn nicht nur der Verfassungsschutz schätzt den ehemaligen Gymnasiallehrer als Rechtsextremisten ein, der Sprache und Ideen des Nazismus wiederbelebt, Faschismus propagiert und Geschichte verfälscht. Der Thüringer Landesverband gilt unter Höckes Führung als der extremste in der AfD, als erster Landesverband überhaupt wurde er vom Verfassungsschutz beobachtet. Höcke wird selbst mit nachrichtendienstlichen Mitteln überwacht.
Als Gründer des parteiinternen "Flügel", der radikale Kräfte aus allen Bundesländern vereinte, hat Höcke der AfD außerdem maßgeblich die Strukturen beschert, die dazu führten, dass die Partei seit März auch auf Bundesebene als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuft wird. Zwar ist der "Flügel" inzwischen aufgelöst, aber die Netzwerke lebten weiter, die "Flügelmänner und -frauen" seien weiter in rauer Zahl in der Partei, so der Verfassungsschutz. Experten sagen: Sie sind schon lange in der Überzahl.
Höcke an der Spitze wäre ein Fanal
Höcke als Parteichef wäre mehr als nur ein Symbol für die radikalisierte Partei. Die Personalie wäre ein Fanal für die Entwicklung vom Rechtspopulismus zum Rechtsextremismus. Medien und Verfassungsschutz würden ihre Beobachtung verschärfen, das gilt als sicher.
Die führenden Köpfe der AfD bleiben, fragt man sie nach Höckes Kandidatur, lieber zurückhaltend: Co-Fraktionschefin Alice Weidel sagte t-online, die AfD habe "mit Tino Chrupalla einen fähigen Bundesvorsitzenden". An Personalspekulationen wolle sie sich nicht beteiligen.
Chrupalla, der im Fall von Höckes Antritt mit ihm in einer Doppelspitze landen könnte, verweist im Gespräch mit t-online darauf, dass Höcke lediglich von der Möglichkeit einer Kandidatur gesprochen habe – "wie er es schon häufiger tat". Aus seiner Sicht findet das Thema medial mehr Beachtung als parteiintern. Ob Höcke gewählt werde, entscheide der Bundesparteitag.
Deals im Hinterzimmer
Der Parteitag wurde mehrfach verschoben, auch deswegen sind die Spannungen groß. Mitte Juni werden nun 600 Delegierte im sächsischen Riesa die Besetzung für die höchsten Posten in der Partei neu wählen, darunter die Doppelspitze der Vorsitzenden. Bisher haben sich noch keine Kandidaten aus der Deckung getraut, lediglich Partei- und Fraktionschef Chrupalla gilt als gesetzt.
Ob er auch gewählt wird, ist aber keinesfalls sicher. Allein in der Bundestagsfraktion kursieren mindestens eine Handvoll Namen von Kandidaten mit ernsthaften Ambitionen, um Chrupalla zu stürzen – oder mit ihm zu paktieren. Sie aber hielten sich in der Öffentlichkeit noch zurück, heißt es. Wer sich als Erstes aus der Deckung traue, werde zerfetzt. Im Hintergrund aber laufen seit Wochen Diskussionen, werden Chancen berechnet und Deals verhandelt.
Eine Kandidatur – aber auch nicht
Höcke vermied es am Samstag auf geschickte Weise, der Erste zu sein, der sich aus der Deckung traut – und hat es doch getan. "Selbstverständlich" könne er sich vorstellen, für den Bundesvorstand zu kandidieren, sagte er mehreren Medien auf einem Thüringer Parteitag. Endgültig geklärt sei das allerdings noch nicht. Dann wurde er trotzdem recht konkret: Es müsse im Vorstand Arbeit neu verteilt werden, so Höcke, weil "man" Ressourcen brauche, um eine "aktive Rolle spielen zu können".
Ob er nun tatsächlich kandidieren will? Und mit welchen Zielen für die Partei? Eine Anfrage von t-online an Höcke über den Thüringer Landesverband blieb unbeantwortet. Es ist eine Kandidatur – aber auch keine. Provokant – aber auch unanfechtbar. Das gilt vor allem, weil Höcke sich in der Vergangenheit schon mehrfach vor Parteitagen auf diese Weise für den höchsten Posten ins Gespräch brachte. Am Ende hat er nie kandidiert.
Wie ein Schreckgespenst taucht er so immer wieder an Kipppunkten der Partei aus der Thüringer Versenkung auf und kapert die Berichterstattung. Zum Ärger nicht weniger auf Bundesebene.
Höcke-Fans sind stark in der Partei
Dieses Mal aber ist die Lage eine andere als in vorherigen Jahren: Nach der Corona-Pandemie und angesichts des russischen Angriffskriegs ist die Partei besonders zerrüttet, die Gräben zwischen Radikalen und noch Radikaleren sind tief. Die Höcke-freundlichen Kräfte im Osten sind stark, berauscht von Erfolgen bei Landtagswahlen mit einer Zustimmung von mehr als 20 Prozent.
Höckes Kritiker, die in der Regel im Westen sitzen, kommen hingegen nicht über einstellige Ergebnisse hinaus. Nach sechseinhalb Jahren als Bundessprecher hat außerdem Jörg Meuthen hingeschmissen. Er war einer der Letzten an der Spitze, der radikale Tendenzen zumindest ein wenig abbremste.
"Gerade ist alles möglich"
Die Bedingungen für Höcke sind also so günstig wie nie. Den Griff nach der Macht im Bund könnte er nun tatsächlich wagen, schätzen Beobachter wie Parteikollegen. Von denen aus der Partei, mit denen t-online gesprochen hat, will keiner dafür seine Hand ins Feuer legen – kein einziger aber will seine Kandidatur ausschließen. "Gerade ist alles möglich", heißt es. Wenn Höcke sich der nötigen Unterstützung für einen Sieg sicher sein könne, werde er kandidieren, glaubt die Mehrheit.
Besonders groß ist bei dieser Aussicht die Sorge von Parteivertretern im Westen, die mit der Partei gerne wieder einen etwas weniger radikalen Weg gehen würden. Mit Höcke an der Spitze könne die AfD im Westen ganz einpacken, heißt es etwa. Im Osten gebe es vielleicht viele Verehrer, die dem "Höcke-Kult" frönen, im Westen mache sich die AfD mit ihm unwählbar.
Von 60 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland leben rund 50 Millionen im Westen. Schon jetzt verprellt die AfD mit ihrem teils irrlichternden, aber immer radikaleren Kurs, viele dieser Wähler, wie die jüngsten Landtagswahlen zeigten. Im Saarland schaffte es die Partei nur noch knapp über die Fünf-Prozent-Hürde, in Schleswig-Holstein flog sie mit 4,4 Prozent aus dem ersten Landesparlament. Der Traum von einer deutschlandweit erfolgreichen rechten Kraft – mit Höcke im Vorstand oder gar als Vorsitzendem wäre er wohl final gestorben.
Auch Höcke spielt mit dem Feuer
Doch auch für Höcke ist eine Kandidatur ein Spiel mit dem Feuer, sie bleibt vor allem deswegen ungewiss. Unter Parteivertretern im Osten ist die Unterstützung für ihn zwar riesig, der thüringische wie der sächsische Landesverband gelten geschlossen als Höcke-Anhänger.
Doch auf dem Bundesparteitag stimmen 600 Delegierte ab, die nach der Mitgliederstärke der Landesverbände berufen werden. Und die größten AfD-Verbände liegen eben nicht im Osten – mit Nordrhein-Westfalen (rund 5.100 Mitglieder), Bayern (4.300) und Baden-Württemberg (3.800) befinden sich Westverbände an der Spitze. Sachsen folgt mit rund 2.200 Mitgliedern als erstes ostdeutsches Bundesland erst auf Platz 6.
Auch im Westen hat Höcke viele Freunde und Fans, "Flügel"-Anhänger gibt es in allen Landesverbänden. Der Sieg würde ihm unter diesen Bedingungen aber keinesfalls zufliegen. Wolle Höcke tatsächlich um den Vorsitz kandidieren, müsse er auch mit führenden Köpfen im Westen reden, die ihm bei Weitem nicht alle freundlich gesonnen seien, heißt es in der Partei. Deswegen vor allem versetzt Höckes Berlin-Besuch die AfD in helle Aufregung.
Aufforderung mit Strategie
Manch ein Höcke-Kritiker im Westen scheint sich seine Kandidatur regelrecht zu wünschen: So forderte der Bundestagsabgeordnete und ehemalige NRW-Landeschef Rüdiger Lucassen – eigentlich kein Freund Höckes – am Dienstag im ZDF-Morgenmagazin, dieser solle endlich "Tacheles reden". Er fordere ihn auf, für den Vorstand zu kandidieren. Aus Thüringen nur Kritik zu üben und sich "auf der Metaebene zu bewegen" reiche nicht.
Ob er nicht Gefahr laufe, Höckes Einfluss so noch zu erweitern und die AfD noch weiter auf rechts zu krempeln? Das finde er nicht, sagte Lucassen. Sollte Höcke bei einer Kandidatur erfolgreich sein, "dann muss er sich verändern, wenn er die Gesamtpartei nach vorne bringen will". Lucassen allerdings gilt selbst als Abgeordneter mit Ambitionen für den Vorsitz. Womöglich sei sein Ziel auch, Höcke durch ein öffentliches Abstimmungsdebakel zu entmystifizieren und zu beschädigen, spekulieren viele in der Partei.
Beim Parteitag "Popcorn nicht vergessen"
Mancher Höcke-Skeptiker hält es derweil nicht einmal für den Untergang der Partei, sollte Höcke gewinnen. Auch dann werde sich Höcke entzaubern, heißt es. Denn er geriere sich auf seinem Landgut in Thüringen gern als großer Intellektueller – von pragmatischer Parteiarbeit aber verstehe er nichts. Im schnelllebigen Politikbetrieb auf Bundesebene, noch dazu an der Spitze einer tief zerstrittenen, kaum führbaren Partei, gehe er schnell unter.
Der Parteitag vom 17. bis 19. Juni im sächsischen Riesa gilt als vielleicht letzter entscheidender Kampf zwischen Radikalen und Noch-Radikaleren in der AfD. Nicht nur mit Blick auf Höckes Kandidatur lautet die Empfehlung von Parteivertretern schon jetzt: "Popcorn nicht vergessen."
- Eigene Recherchen