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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Vorsitzkandidatin Esken "Man hat Angst vor dem Volk"
Saskia Esken will SPD-Chefin werden – und ihre Partei grundlegend verändern. Linker soll sie werden, und nur weiterregieren, wenn sie mehr SPD-Politik durchbringen kann.
Der SPD geht es schlecht, Saskia Esken will das ändern. Die Bundestagsabgeordnete aus Baden-Württemberg will mit dem früheren nordrhein-westfälischen Finanzminister Norbert Walter-Borjans die SPD führen. Ihnen werden gute Chancen eingeräumt.
Sie gelten als das linke der verbleibenden Duos, das der großen Koalition sehr skeptisch gegenübersteht – und sie faktisch zu beenden verspricht. Das liegt einerseits an dem Kontrast zu ihren Gegnern in der Stichwahl, dem Vizekanzler Olaf Scholz und Klara Geywitz, die sich für eine gemäßigte SPD und eine Fortsetzung der großen Koalition einsetzen.
Das liegt aber, andererseits, vor allem auch an ihren Ideen für eine wirklich neue SPD. Im Interview mit t-online.de kritisiert Esken die Politik ihrer Partei in der jüngeren Vergangenheit scharf. Und sie formuliert eine Vision, in der Staat und Gesellschaft deutlich anders aussehen würden.
Frau Esken, Sie wollen SPD-Vorsitzende werden. Ihre Partei hat in den vergangenen Jahren viel SPD-Politik umgesetzt, aber das brachte ihr keine Anerkennung. Woran liegt das?
Saskia Esken: Das hat viel damit zu tun, dass es Dankbarkeit in der Politik selten gibt und schon gar keine Dankbarkeit für Dinge, die man erwarten darf.
Wie meinen Sie das?
Die SPD hat einst Arbeitsmarktreformen verantwortet, die zu Dumpinglöhnen und einem Niedriglohnsektor geführt haben, die Agenda 2010. Da darf man nicht erwarten, dass man Jahre später für einen gut verhandelten, aber ziemlich niedrigen Mindestlohn überschwänglich gefeiert wird.
Das ist eine ziemlich unbarmherzige Beschreibung.
CDU und CSU verteilen seit Jahren Reichtum von unten nach oben. Viel zu oft hat die SPD das mit zu verantworten. Wir drehen an den kleinen Schräubchen und reparieren. Aber im Kern wird die Umverteilung nicht rückgängig gemacht. In diesem reichen Land gibt es eine wachsende Kinderarmut, die man nicht bekämpfen kann, ohne die Vermögenden zur Kasse zu bitten.
Ein Versuch, sich von der Agenda-Vergangenheit zu lösen, war das Sozialstaatskonzept vom Jahresbeginn. Es will Hartz IV überwinden und stellt den arbeitenden Menschen ins Zentrum. Ist das auch Ihre Idee vom Kern der SPD?
Dieses Konzept setzt genau die richtigen Impulse. Wir sind und bleiben überzeugt davon, dass Erwerbsarbeit dazu geeignet ist, Menschen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Auf dem Arbeitsmarkt brauchen wir aber wieder mehr Ordnung.
Sie fordern auch eine Arbeitszeitverkürzung, das klingt nach einem Abschied vom alten Malocherideal.
Eine 35-Stunden-Woche für alle ist doch nicht als Abschied von der Arbeit zu verstehen.
Wir dachten, Sie hätten Grundsätzlicheres im Sinn.
Der digitale Wandel wird nicht dafür sorgen, dass wir alle nur noch halbtags arbeiten müssen. Wir werden die Arbeit besser verteilen müssen und Menschen befähigen, deren Tätigkeit verschwindet. Noch machen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland im Schnitt ständig fünf Prozent Überstunden.
Wir würden gern die Gesellschaft, die Sie sich vorstellen, aus verschiedenen Perspektiven abklopfen: der des Einzelnen, der des Staates und der der Unternehmen.
Nur zu.
Das Leben eines normalen Arbeitnehmers sähe so aus: seine Eltern erhalten eine Kindergrundsicherung, Bildung ist kostenlos, Weiterbildung später verpflichtend, er arbeitet mit Tarifvertrag. Geht er in Teilzeit, bekommt er einen Ausgleich, wird er arbeitslos, bekommt er länger mehr. Das Existenzminimum ist sanktionsfrei. Findet er keinen Job, bekommt er ihn auf dem sozialen Arbeitsmarkt. Er zahlt in eine einzige gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung. Geht er in Rente, bekommt er mindestens eine Grundrente ohne Prüfung, vielleicht Betriebsrente, Riester ist abgeschafft. Steht bei Ihnen der umsorgte Mensch im Mittelpunkt?
Nein, der souveräne Mensch. Ein Mensch muss sein Leben gestalten können, ohne Ängste, Zwänge und Nöte. Er muss mal mehr arbeiten können, wenn er will und kann, und dann weniger, wenn er Kinder bekommt, Angehörige pflegt oder auch mal ein zivilgesellschaftliches Projekt vorantreiben will. Er muss sich auch umorientieren und an neue Zeiten anpassen können. Wir brauchen flexible Arbeitsbiografien ohne Angst vor Umbrüchen. Wenn wir die Zukunft so gestalten, dass jeder neue Freiräume erhält, werden Menschen die Gewinner des Wandels.
Der Staat soll bei Ihnen garantieren, dass es Pflichtfortbildungen gibt, einen sozialen Arbeitsmarkt unterhalten, das, was bisher private Kranken- und Rentenkassen tun, an sich ziehen, Beamte besser bezahlen, die ihr Pensionsprivileg verlieren, Hunderte Milliarden investieren, die kommunalen Infrastrukturen wieder aufbauen, Glasfasernetze verlegen, Stromnetze übernehmen. Braucht es so viel Staat?
Es braucht definitiv viel mehr Staat als jetzt. Der Staat muss an der Seite der Bürger stehen, er muss Verantwortung übernehmen, wo es der Markt nicht schafft. Wir blamieren uns mit unseren Bemühungen, mit einem marktgetriebenen Ansatz annehmbare Mobilfunk- und Breitbandnetze zu schaffen. Hier hat sich der Staat zurückgezogen und dem Markt den Ausbau überlassen. Der hat aber kein Interesse an einem Angebot auch in Gebieten, wo das nicht wirtschaftlich ist. In ländlichen Regionen kann kein Unternehmen einen Standort aufbauen. Das schlägt sich direkt auf den Arbeitsmarkt nieder.
Viele sagen, der Staat sei der schlechtere Unternehmer.
Es geht nicht um Unternehmertum, sondern um Daseinsvorsorge, und die gehört in staatliche Hand. Die Wasserversorgung funktioniert ganz gut, und wir bringen über die Stromnetze zuverlässig Strom zu den Menschen.
Muss der Staat auch die Weiterbildung organisieren?
Zumindest darf die Weiterbildung nicht vollkommen dem Markt unterliegen, sonst kann sich nur die Hälfte der Bevölkerung Weiterbildung leisten. Das darf nicht sein. Ohne ständige Weiterbildung scheitern wir an der Digitalisierung.
Der naheliegende Vorwurf lautet: Sie formulieren eine Utopie, die unbezahlbar ist. Haben Sie grob kalkuliert, wie viel Ihre Ideen kosten?
Da sind ja viele unterschiedliche Akteure betroffen. Ein höherer Mindestlohn muss von den Unternehmen getragen werden und entlastet den Staat sogar, weil er keine Dumpinglöhne mehr subventionieren muss. Die Bürgerversicherung wiederum ist eine Umverteilung aus der einen Versicherungsart in die andere, die alle zusammenfasst.
Sie weichen aus. Einige Maßnahmen kosten den Staat definitiv etwas. Stellen und beantworten wir doch mal die Verteilungsfrage!
Gern! Die Vermögensteuer ist ausgesetzt, die Erbschaftsteuer ist nahezu ausgesetzt. Jeden Tag wird über eine Milliarde Euro vererbt, das sind nicht alles kleine Häuschen, sondern auch sehr große Kapitalvermögen. Die Mitte ächzt unter den Belastungen durch die größte Steuersenkung für große Einkommen und Vermögen, die es jemals in Deutschland gab. Die Reichen wurden stark entlastet und aus der Verantwortung entlassen. Was viele sehr reiche Menschen nicht wollen.
Wer ist damit gemeint? Sprechen wir von 60.000 Euro Jahreseinkommen, 500.000, einer Million? Und von welchen Vermögen?
Es geht um Einkommen von mehr als 250.000 Euro im Jahr. Ein Chef hatte früher etwa das 15-Fache eines einfachen Arbeiters. Heute hat ein Topmanager das 800-Fache. Das muss ein Ende haben. Wir müssen außerdem gegen Steuervermeidung vorgehen, die sich vor allem Menschen mit sehr viel Geld zunutze machen.
Die Frage nach dem Vermögen haben Sie nicht beantwortet. Vielen Unternehmern dürfte anders werden: Der Mindestlohn soll steigen, Aufstockung wegfallen, zusätzlich zum Jahresurlaub soll jeder Mensch im Jahr zwölf Tage bezahlt Pflichtfortbildungen besuchen, wir sollen weniger Stunden bei vollem Lohnausgleich arbeiten. Welchen Platz haben Unternehmen in Ihrer Gesellschaft?
Die spielen eine wichtige Rolle, und sie profitieren von unseren Ideen! Bisher leiden ehrliche Unternehmer im Wettbewerb mit den Hungerlöhnen der unanständigen Firmen, und obendrein bezahlen sie durch ihre Steuern die aufstockenden Leistungen. In unserer Gesellschaft würde Augenhöhe entstehen. Übrigens auch, wenn wir Steuerflucht unterbinden.
Trotzdem bleiben hohe Kosten.
Jeder Niedriglöhner, der einen anständigen Lohn erhält, trägt den nicht in die Schweiz aufs Konto. Der gibt den in Deutschland aus. Eine Stärkung der Binnenkonjunktur und eine Abkehr von der Abhängigkeit vom Export ist im Sinne der Unternehmen hier, gerade wenn sich die globale Konjunktur eintrübt.
Das mag volkswirtschaftlich stimmen. Aber das gilt natürlich nicht für den einzelnen Unternehmer.
Das war immer das Argument gegen den Mindestlohn, dass die Friseure die bisher 4,50 Euro bezahlt haben, den Schlüssel umdrehen müssten. Tatsächlich ist nichts davon passiert. Im Gegenteil, die Volkswirtschaft und die Unternehmen haben profitiert.
Und wer es sich trotzdem nicht leisten kann, hat Pech gehabt, und kein funktionierendes Geschäftsmodell?
Manche Geschäftsmodelle funktionieren nur durch Ausbeutung, schauen Sie sich die Paketdienstleister an. Andere verweigern sich der Transformation, weil sie sowieso nur noch ein paar Jahre weitermachen wollen. Die hätten aber durchaus die Chance, neu anzufangen.
Ist das, was Sie da ausformulieren, eigentlich der "demokratische Sozialismus", der im Grundsatzprogramm der SPD steht?
Das ist ein Begriff, um den die Sozialdemokratie immer gerungen hat. Es hat nur eine Phase in 156 Jahren gegeben, in der wir den Begriff "demokratischer Sozialismus" nicht in den Mund genommen haben, unter Gerhard Schröder. Und die Scherben der Schröder-Ära fegen wir heute zusammen. Es geht darum, zu debattieren, wie der Kapitalismus so zu gestalten und zu bändigen ist, dass er den Menschen dient. Der Markt hat keine Gemeinwohlinteressen.
Außenpolitisch und sicherheitspolitisch weiß man nicht recht, wo Sie stehen. Die Verteidigungsministerin will viel mehr Geld für die Bundeswehr und weg von der extremen Zurückhaltung bei Bundeswehreinsätzen. Wie stehen Sie dazu?
Ich warne vor einer Militarisierung der Außenpolitik. Die Außen- und Sicherheitspolitik der SPD wird sich immer an der Friedenssicherung und an der Krisenprävention messen. Einsätze kann es nur mit UN-Mandat geben, und sie müssen sich an der Notwendigkeit messen.
Sie würden eher bei der zurückhaltenden Linie der vergangenen Jahre bleiben?
Wir müssen mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Aber mit starken diplomatischen Bemühungen, einer verbesserten Entwicklungszusammenarbeit und europäischen Partnern. Wir müssen alles dafür tun, damit es gar nicht zu weiteren militärischen Konflikten kommt.
Nun wissen wir, was Sie wollen. Sie haben auch eindeutige Bedingungen für den Verbleib in der schwarz-roten Koalition gestellt. Klingt alles nach einem Ende der Regierung.
In der Revisionsklausel steht, dass man prüft, ob neue Aufgaben und Notwendigkeiten aufgetreten sind. Die Welt hat sich seit dem Abschluss des Koalitionsvertrags rasant weitergedreht. Mit Fridays for Future ist die größte Bewegung dieses Jahrzehnts entstanden. Die Spaltung auf dem Arbeitsmarkt ist bisher durch die gute Konjunktur etwas verdeckt worden. Gerade weil sich die Konjunktur abkühlt, muss die Wirtschaft mit massiven öffentlichen Investitionen und steigenden Löhnen angekurbelt werden. Die Koalition muss politische Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit finden, auch die Union wird ein Interesse daran haben.
Das Klimapaket wird die Union kaum substanziell antasten.
Der Ball liegt dann im Spielfeld der Union. Kein Klimaforscher sagt, dass wir mit dem Klimapaket die gesteckten Ziele für 2030 erreichen können. Ich würde gern hoffen, dass es in der Union einen Ruck gibt. Aber derzeit scheint die Union sich mehr für Kanzlerfrage zu interessieren als für gute Politik.
Auch in der SPD verteidigen viele das Klimapaket.
Da ist auch bei uns die Einsicht noch nicht bei allen gleich weit gereift. Olaf Scholz lehnt die Pro-Kopf-Rückzahlung der Einnahmen aus dem CO2-Preis mit der Begründung ab, uns fehlten die Daten und technischen Mittel. Wir wüssten nicht, wo die Leute wohnen und wo man das Geld hinschicken soll. Ich finde, da könnte man schon ein bisschen Fantasie aufbringen.
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Woher kommt diese Fantasielosigkeit?
Ich fürchte, es ist wie beim Tempolimit, das schon lange SPD-Beschlusslage ist: Man hat Angst vor dem Volk, Angst vor Protesten auf der Straße, Angst vor deutschen "Gelbwesten".
Angst vor Protesten gegen Klimaschutz, die es geben könnte, aber weniger Angst vor Protesten von mehr als einer Million Menschen, die es schon gab. Warum ist das so?
Das könnte daran liegen, dass man die Proteste der jungen Leute für harmlos und überwindbar hält. Ich verstehe, dass uns auch die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Sorge bereiten müssen, die wegen des Abschieds von der Kohle oder vom Verbrennungsmotor ihre Arbeit verlieren. Wir dürfen das nicht gegeneinander ausspielen. Das ist doch immer wieder die Aufgabe der Sozialdemokratie.
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