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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Schonungslose SPD-Analyse "Die Wahl ging spätestens 2015 verloren"
Nie schnitt die SPD im Bund schlechter ab als 2017. Jetzt legt eine Expertengruppe eine Analyse des Scheiterns vor. Die schmerzt – aber macht auch konkrete Vorschläge.
Das vergangene Jahr war für die SPD eine Katastrophe: Sie verlor bei drei von vier Landtagswahlen massiv und schnitt bei der Bundestagswahl so schlecht ab wie nie. Um zu verstehen, warum, und um eine Strategie dagegen zu entwickeln, beauftragte die Partei eine Kommission.
Die Arbeitsgruppe hat mit Genossen aller Hierarchie-Ebenen gesprochen, mit Wahlforschern zusammengearbeitet und einen detaillierten 109-seitigen Bericht vorgelegt. Er schont die Partei nicht. Im Gegenteil.
Warum also scheiterte die SPD so kläglich? Die wichtigsten Gründe, die der umfassende Bericht identifiziert:
1. Keiner wusste, wofür die Partei stand
Inhaltlich sei die Partei zu unentschlossen. "Die Partei ist für den Frieden und genehmigt Rüstungsexporte. Die SPD ist für sichere Arbeitsverträge und schränkt die Leiharbeit nicht ein. (...) Solche Politik überzeugt nicht, weil dahinter keine Haltung erkennbar wird." Die Botschaften seien unklar, nicht mutig, wolkig, profillos.
Wahlkämpfer hätten nicht gewusst, was sie am Infostand eigentlich erzählen sollten.
Die SPD habe es also nicht geschafft, Unterschiede zur Union herauszustreichen. Selbst 73 Prozent der SPD-Anhänger hätten in einer Umfrage gesagt, es gebe keine oder geringe Unterschiede zwischen Union und SPD. An dem Eindruck änderte sich in den vergangenen Jahren wenig.
Das habe sich auch auf die Wahrnehmung der Kompetenz ausgewirkt.
Gespräche mit Wählern hätten gezeigt, dass ihnen oft nicht klar gewesen sei, wer in der großen Koalition wofür zuständig war – auch SPD-Erfolge bei Themen wie Rente und Mindestlohn wurden oft der Kanzlerin zugeschrieben. So galt die Union den Wählern auch in der Arbeitsmarktpolitik kompetenter als die SPD.
2. Falsche Einschätzung der Saarland-Wahl
Die SPD habe vor der Landtagswahl im Saarland im März 2017, also ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl, zu stark auf die Option Rot-Rot-Grün mit Oskar Lafontaines Linkspartei gesetzt, obwohl die bei den Menschen sehr unbeliebt gewesen sei.
Die Autoren räumen aber auch das große strategische Dilemma der SPD ein: Sie robbte sich nur deshalb vorsichtig an die Linkspartei heran, weil Rot-Grün mittlerweile nicht mehr reicht und die Partei ansonsten gar keine Machtoption mehr hätte – was ebenfalls Wähler verschreckt.
In jedem Fall aber habe die SPD diese Landtagswahl zu stark als ersten Schritt auf dem Weg zu Schulz' Erfolg dargestellt, zu wenig als Landessache; als die SPD dann gegen die extrem beliebte CDU-Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer verlor, habe das Schulz geschadet.
3. Kampagne verschlafen
"Die Wahl 2017 ging nicht 2017 verloren, sondern spätestens 2015", schreiben die Autoren. Der Wahlkampf sei schlecht vorbereitet gewesen, ohne Strategie, aus der Aktualität heraus angepasst, nicht zugeschnitten auf den Kandidaten, ohne Plan und Ziel, und ohne aus den Fehlern der vorigen Kampagne zu lernen. Kurz: Die Partei hat den Wahlkampf Jahre im Voraus verschlafen und stolperte dann ohne Plan durch die entscheidenden Monate.
Seit Jahren seien keine Mitarbeiter aufgebaut worden, die Kampagnen organisieren können. Das Willy-Brandt-Haus sei schlecht organisiert und nicht nur, aber gerade auch unter Sigmar Gabriel seien Zuständigkeiten unklar gewesen. Der habe zudem während der Kandidatenkür die Partei als "Geisel seiner Launen, Selbstzweifel und taktischen Manöver" genommen.
Der Bericht führt weitere Beispiele auf, aber im Grunde fasst das vernichtende Urteil alles zusammen: Die Schulz-Kampagne "hatte nichts: keine Strategie, keine frischen Themen, kein eingespieltes Team, keine Kampagne und keine Idee".
4. Miserable Kommunikation
Dazu gehört, dass die SPD einfach schlechte Kommunikationsarbeit mache – von der Betreuung der Presse über zu wenig Social-Media-Arbeit bis zu unprofessioneller Bildsprache und komplizierten und unverständlichen Formulierungen. (So geht es in der aktuellen Koalition bisher auch weiter).
Vorschläge
Die Arbeitsgruppe macht auch Vorschläge – unter anderem diese:
- Das Willy-Brandt-Haus umbauen. Räumlich: Hellere Räume, mehr Großraumbüros, bessere Ausstattung. Organisatorisch: weniger Leitung, mehr Leute auf der Arbeitsebene, eigene Einheit für Kampagnen, mehr Konzentration auf Kommunikation.
- Auch ein neuer Leiter für strategische Kommunikation sei nötig. Die SPD brauche mehr Leute in der Kommunikationsabteilung.
- Die Partei müsse eine klare Haltung entwickeln, müsse dann dabei bleiben und dürfe auch nicht im Widerspruch dazu handeln. Etwa, indem sie im Finanzministerium vier Männer und keine Frau zu Staatssekretären macht, obwohl sie für Gleichberechtigung ist.
- Sie müsse aufhören, von "kleinen Leuten" zu sprechen, sondern Wählern auf Augenhöhe begegnen.
- Einfacher und präziser sprechen.
- Präsidium und Vorstand verkleinern.
- Dauerhaft und langfristig Mitarbeiter aufbauen und fördern.
- Den Kanzlerkandidat solle künftig die Parteiführung vorschlagen, bei mehreren Kandidaten müssten die Mitglieder entscheiden.
- Die Kampagne müsse im Zweifel Strategien für alle möglichen Kandidaten entwickeln.
- Analyse im Auftrag der SPD
- Gastbeitrag von Generalsekretär Lars Klingbeil auf "Zeit Online"