Linken-Politikerin Janine Wissler im Interview "Was wir fordern, ist nicht utopisch"
Janine Wissler
T-Online.de: Frau Wissler, Sie gelten als Nachfolgerin von Sahra Wagenknecht. Wie wollen Sie aus dem großen Schatten Ihrer Vorgängerin heraustreten?
Janine Wissler: Sahra Wagenknecht ist eine der bekanntesten Persönlichkeiten unserer Partei, die sich in Themen wie der Finanzpolitik profiliert und ihre Kompetenzen unter Beweis gestellt hat. Ich schätze sie sehr und wir gehören beide dem linken Flügel der Partei an. Aber ich vergleiche mich nicht mit ihr, sondern muss meine eigene Rolle finden.
Besonders wichtig ist Ihnen angeblich die soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft. Wie wollen Sie diese finanzieren - mit Steuererhöhungen für Reiche?
Natürlich! Deutschland ist eine der reichsten Volkswirtschaften der Welt. Wie kann es sein, dass in dieser reichen Volkswirtschaft jedes vierte Kind in Armut lebt, Schulen und Universitäten verrotten und der Öffentliche Nahverkehr auf Verschleiß fährt? Das liegt nicht an mangelndem Geld, sondern an der ungerechten Verteilung. An den Finanzmärkten werden täglich Milliarden verzockt. Wir brauchen die Reichensteuer.
Was wir fordern, ist nicht utopisch, sondern war jahrelang Realität. Noch unter Helmut Kohl gab es eine höhere Einkommenssteuer und eine Besteuerung hoher Vermögen. Warum soll das heute nicht möglich sein? Ich sage: Hätten wir diese Steuersätze wieder, wären wir ein großes Stück weiter in der Finanzierung öffentlicher Ausgaben und Dienstleistungen.
Sie sind bisher eher als Landespolitikerin in Hessen und Aktivistin gegen Fluglärm bekannt. Was befähigt Sie für die Bundespolitik der Linken?
Ich bin ja bereits seit mehreren Jahren Mitglied im Parteivorstand und somit auch bundespolitisch aktiv. In den nächsten Jahren geht es vor allen Dingen darum, die Partei aufzubauen und noch stärker in der Gesellschaft und in den sozialen Bewegungen zu verankern. Ich denke, dass wir in Hessen sowohl beim Parteiaufbau als auch beim Thema einer möglichen Regierungsbeteiligung wichtige Erfahrungen gemacht haben, und die möchte ich einbringen.
Ich halte es für wichtig, dass wir - im Gegensatz zu den Grünen nach dem Regierungsantritt im Bund 1998 beispielsweise - an unseren Grundprinzipien und Wahlversprechen festhalten und diese nicht für eine Regierungsbeteiligung aufgeben.
Glauben Sie wirklich, Sie können mit Ihrem "demokratischen Sozialismus" Wähler aus der bürgerlichen Mitte erreichen?
Auf jeden Fall machen sich viele Menschen Sorgen aufgrund der Entwicklungen der letzten Jahre und sind unzufrieden. Die Verunsicherung durch prekäre Arbeitsverhältnisse und die zunehmende Zukunftsangst macht ja auch vor den Mittelschichten nicht halt.
Was wir klarmachen müssen ist, dass Sozialismus und Demokratie zusammengehören.
Würden Sie die DDR als Unrechtsregime bezeichnen?
Ich tue mich mit dem Begriff schwer. Was ist ein Unrechtsstaat? Die DDR war jedenfalls weder sozialistisch noch demokratisch.
Kommen wir zu den außen- und sicherheitspolitischen Aspekten: Fordern Sie allen Ernstes den Austritt Deutschlands aus der Nato und die Auflösung des Bündnisses?
Ja. Wir brauchen keine Nato mehr, sie ist ein Relikt aus dem Kalten Krieg. Und ich finde es in höchstem Maße bedenklich, wenn Nato-Generalsekretär Rasmussen vor dem Hintergrund der Situation in der Ukraine die Aufrüstung der Nato-Staaten fordert. Der Konflikt mit Russland ist nicht militärisch zu lösen.
Wer jetzt nach Aufrüstung ruft, handelt völlig verantwortungslos. Zudem ist die Forderung, die Rüstungsausgaben in den nationalen Haushalten zu erhöhen, im Lichte der Krise und Massenarbeitslosigkeit in den südlichen Mitgliedsstaaten Griechenland, Spanien oder Portugal der reine Wahnsinn.
Und wie sieht es mit der Sicherheit Deutschlands aus?
Durch wen wird die Sicherheit Deutschlands denn bedroht? Es ist doch eher so, dass deutsche Waffenexporte dazu beitragen, dass die Sicherheit in anderen Ländern bedroht ist. Wenn Bundespräsident Joachim Gauck davon spricht, dass Deutschland mehr internationale Verantwortung übernehmen sollte, sollte er sich dafür einsetzen, dass wir auf Waffenexporte verzichten, mehr Entwicklungshilfe leisten und eine Außenpolitik verfolgen, die auf mehr globale Gerechtigkeit abzielt. Eine Militarisierung der deutschen Außenpolitik und Auslandseinsätze der Bundeswehr hingegen lehnen wir ab.
Und wie sieht es mit Bundeswehr-Einsätzen unter UN-Mandat aus, bei denen wehrlose Menschen vor ihren Diktatoren geschützt werden sollen? Diese lehnen Sie auch ab.
Ja, denn es gibt keine "humanitären Interventionen". Kriege werden nie aus Nächstenliebe geführt, sondern aus ökonomischen und politischen Interessen. Alles andere ist Propaganda, und die Entscheidungsträger bedienen sich der Lüge, um diese Einsätze zu legitimieren. Hinter den meisten so bezeichneten Kriegseinsätzen - etwa im Kosovo oder in Afghanistan - standen handfeste ökonomische und strategische Interessen.
Die größte humanitäre Katastrophe weltweit ist der Hunger. Da interveniert der Westen nicht, im Gegenteil. Spekulationen mit Nahrungsmitteln, die die Preise in die Höhe treiben, sind nach wie vor nicht verboten. Das nenne ich eine heuchlerische Politik des Westens.
Apropos Politik des Westens. Es steht der Vorwurf im Raum, Linke hätten sich von Putin instrumentalisieren lassen und die manipulierten Wahlen auf der Krim als rechtmäßig bewertet.
Ich denke, alles, was es dazu zu sagen gibt, haben unsere Parteivorsitzenden mitgeteilt. Die Mitglieder der Partei waren nicht als offizielle Vertreter der Linken auf der Krim. Wichtiger aber als die Frage, warum Linke-Mitglieder auf der Krim waren, ist, was deutsche Bundeswehrsoldaten in der Ost-Ukraine verloren haben. Der Bundestag war darüber nicht informiert und das war sicher kein Beitrag zur Deeskalation.
Ich hege keine Sympathie für den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Politik in der Ukraine. Aber ich erachte auch seine Dämonisierung als falsch und nicht zielführend. Denn für die Eskalation sind beide Seiten, Russland und die EU beziehungsweise die Nato, verantwortlich. Und es geht letztlich doch darum, die Krise schnell und friedlich zu lösen.
Dies kann nur dadurch geschehen, dass alle Konfliktparteien an den Verhandlungstisch zurückkehren. Eine Aufrüstung oder Truppenstationierung der Nato an Russlands Grenzen wäre der nächste große Fehler der Nato nach der Osterweiterung, die viel zur Eskalation des Konfliktes beigetragen hat.
Sie sind fest verwurzelt im Straßenprotest und nehmen an Kundgebungen für soziale Gerechtigkeit oder gegen die NSA-Überwachung teil. Für viele sind Sie damit eine dieser realitätsfernen und ideologischen Politikerinnen.
Hätten Menschen in der Geschichte immer nur für das gekämpft, was "realistisch" und unmittelbar durchsetzbar erschien, dann gäbe es heute noch kein Frauenwahlrecht und die Leibeigenschaft wäre auch nie abgeschafft worden. Ob eine Forderung "realistisch" ist oder nicht, ist eine Frage von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen. Außerdem gibt es einen Unterschied zwischen Ideologie und Dogmatismus.
Es geht schon darum, grundsätzliche Antworten auf die aktuellen Probleme wie die Wirtschaftskrise zu bieten. Marxistische Ideen sind dabei aktueller denn je, denn der Marxismus hat die Finanz- und Kapitalismuskrise im Grunde vorhergesagt, und er zeigt Ansätze auf, wie eine gerechte globalisierte Welt aussehen kann. Wenn sich eine Ideologie in die Krise hineinmanövriert hat, dann ist es der Neo-Liberalismus; er ist, das zeigt die Banken- und Finanzkrise deutlicher denn je, gescheitert. Umso wichtiger ist es, Alternativen aufzuzeigen.
Als Linke gelten Sie auch als Visionärin. Sagen Sie uns: Wie sieht die Welt in 50 Jahren aus?
Wie die Welt dann aussieht, ist schwer vorherzusagen. Ich wünsche mir eine Welt, in der nicht der Streben nach Profit an erster Stelle steht und in der alle Menschen in Frieden und sozialer Absicherung leben können. Wenn der enorme Reichtum, den es auf der Welt gibt, gerecht verteilt wäre, müsste kein Mensch in Armut leben. Aber um das zu erreichen, muss man die Macht- und Eigentumsverhältnisse grundlegend ändern.
Das Interview führte unser Mitarbeiter Alexander Reichwein.
Janine Wissler (Jahrgang 1981) hat an der Goethe-Universität Frankfurt Politikwissenschaft studiert. Die gebürtige Hessin ist seit 1997 politisch aktiv. Sie zählt zu den Mitbegründern der Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit (WASG) in Hessen. 2007 wurde Wissler Mitglied im Bundesparteivorstand der Linken und im hessischen Landesvorstand. Seit 2008 ist sie Mitglied des hessischen Landtags, 2009 wurde sie von der stellvertretenden zur Fraktionsvorsitzenden gewählt. Mit Wissler schaffte die Linke bei der Landtagswahl 2013 mit 5,2 Prozent zum dritten Mal in Folge den Einzug ins Wiesbadener Parlament.