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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ampel-Antrag zur Ukraine Die Genossen springen über ihren Schatten
Die Ampelparteien senden zum Ukraine-Jahrestag eine klare Botschaft nach Moskau und fordern den Kanzler zu mehr Militärhilfen auf. Dafür mussten vor allem manche in der SPD eine Kröte schlucken.
Am Ende blieb die große Revolte aus: Die FDP-Spitzenkandidatin zur Europawahl, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, stimmte am Donnerstag – wie vorab angekündigt – als einzige Ampel-Abgeordnete für den Unionsantrag, deutsche Taurus-Waffen an die Ukraine zu liefern. Die Befürchtung mancher Regierungspolitiker, Strack-Zimmermanns Manöver könnte weitere Abweichler inspirieren, zur Opposition überzulaufen, bewahrheitete sich nicht, im Gegenteil.
Die überwiegende Mehrheit der Ampel-Abgeordneten (382 von 417) stimmte am Donnerstag für den eigenen Antrag anlässlich des Jahrestags des russischen Überfalls auf die Ukraine. Sie alle sprechen sich dafür aus, den ukrainischen Verteidigungskampf gegen Russland "mit ganzer Kraft" zu unterstützen und die Ukraine so lange mit Waffen zu versorgen, bis die Grenzen von 1991 (inklusive der Krim) wiederhergestellt sind.
Vor zehn Jahren begann mit der Krim-Annexion die russische Aggression gegen die Ostukraine, vor zwei Jahren gab Russlands Präsident Wladimir Putin den Invasionsbefehl. Das Votum im Deutschen Bundestag am Donnerstag lässt sich damit nicht nur als kraftvolles Signal nach Kiew verstehen, sondern ist auch eine Botschaft in Richtung Moskau: Deutschland steht auch in Zukunft an der Seite der Ukraine.
Machtverschiebung in der SPD
Bis es jedoch dazu kam, hat es lange gedauert. Acht Monate brauchten die Außen- und Sicherheitspolitiker der Ampel nach eigenen Angaben, um den Antrag in seiner nun verabschiedeten Form zu finalisieren. Viel Zeit, so viel ist klar, dürfte dabei auch dafür draufgegangen sein, um die Konflikte der Ampelpartner beizulegen und Zweifler zu überzeugen – vor allem in der SPD.
Denn der nun beschlossene Antrag enthält tatsächlich einige bemerkenswerte Passagen, die die deutsche Ukraine-Unterstützung auf eine neue Ebene heben könnten: Als Kriegsziel wird etwa die vollständige Wiederherstellung des ukrainischen Territoriums formuliert, es ist die Rede von Abnahmegarantien für die deutsche Rüstungsindustrie und von "weitreichenden Waffensystemen", die Deutschland der Ukraine liefern soll.
Das erstaunt vor allem deswegen, weil solche Punkte gerade für Teile der SPD bisher nur schwer verdaulich waren. Lange hatte das "Team Vorsicht" in der Kanzlerpartei das Sagen: Neuen Waffenlieferungen standen zahlreiche Sozialdemokraten darum stets skeptisch gegenüber, seit Kriegsbeginn pochten viele auf mehr Diplomatie – und besetzten damit in der Ukraine-Politik erfolgreich eine Nische, die Grüne und Liberale offen ließen.
Wichtigster Wortführer dabei von Anfang an: SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, der bis zuletzt lautstark vor einer drohenden Eskalation durch die russische Führung warnte und die einseitige Fokussierung auf Waffenlieferungen beklagte.
"Diplomatie" kommt nur ein einziges Mal vor
Diese Stimmen aber scheinen nun leiser zu werden, im aktuellen Ukraine-Antrag sind sie fast gar nicht zu hören. So fokussieren sich die Forderungen, die mit dem Kriegsziel und -ende zu tun haben, fast ausschließlich auf militärische Fragen: Mehr Militärhilfe, erhöhte Rüstungsproduktion, mehr Angriffe auf den rückwärtigen Raum der Russen, sogar Investitionshilfen für Rüstungshersteller werden angemahnt. Die Logik des Krieges dominiert die Logik der Diplomatie.
Nur in Punkt zehn wird die Bundesregierung dazu aufgefordert, "weiterhin in der internationalen Staatengemeinschaft dafür zu werben, den Druck auf Russland, den Krieg zu beenden, zu erhöhen". Das Wort "Diplomatie" kommt auf den neun Seiten überhaupt nur ein einziges Mal vor – und zwar als Forderung an das "russische Regime", seine Truppen abzuziehen und "zur Demokratie zurückzukehren".
Für Beobachter ein überraschendes Ergebnis. Denn in der Vergangenheit hatten Abgeordnete von Grünen und FDP oft über die "Pazifisten" und "Blockierer" in der SPD geklagt, denen auch immer wieder nachgesagt wurde, sie würden den Kanzler dabei ausbremsen, noch mehr für die Ukraine zu tun. Ob Scholz sich von wirklich von einer Handvoll Abgeordneter in strategische Entscheidungen hineinreden lässt, war dabei zwar ohnehin immer fraglich. So oder so scheint ihr Einfluss nun aber zu schrumpfen.
"Weitreichende Waffensysteme"
Denn eines ist klar: Zumindest, was das Verfahren anbelangt, hätte es genug Gelegenheiten gegeben, dem Antrag mehr Bemühungen um Diplomatie zu verschreiben.
Nachdem die Außen- und Sicherheitspolitiker der Ampelparteien die Vorarbeit geleistet hatten, ging der Entwurf an die stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und die Fraktionschefs weiter. Dort, an oberster Stelle, wurden die brisanten Themen geklärt: etwa die Passage zum Taurus beziehungsweise die zu den "weitreichenden Waffensystemen".
Wie aus Ampelkreisen zu erfahren ist, kam an dieser Stelle auch das Kanzleramt ins Spiel. Nur so ist auch zu erklären, dass am Ende nur von "weitreichenden Waffensystemen" die Rede ist und nicht vom Taurus, den eine große Zahl der Abgeordneten gerne in dem Papier gesehen hätten.
Wenn es also jetzt heißt, der Deutsche Bundestag fordere Kanzler Scholz auf, der Ukraine "weitreichende Waffensysteme" zu liefern, ist es in Wahrheit so: Kanzler Scholz fordert von Kanzler Scholz, "weitreichende Waffensysteme" an die Ukraine abzugeben. Und was darunter zu verstehen ist, darf er selbst entscheiden.
Die Ukraine "muss gewinnen" – aber was genau?
Und obwohl der Antrag an vielen anderen Stellen recht klar formuliert ist, wirkt er streckenweise dann doch wie ein Potpourri unterschiedlicher Auffassungen, die man notdürftig zusammengeflochten hat. Ein semantisches "All You Can Eat", wo für jeden etwas dabei ist.
Beispiel für diese Schwammigkeit ist ein Passus zum Kriegsende auf Seite sechs. Dort heißt es: "Für den Frieden in Europa und darüber hinaus ist es essenziell, dass die Ukraine diesen Verteidigungskampf gewinnt. Russland darf aus diesem Krieg nicht gestärkt hervorgehen. Präsident Putin und sein Regime müssen diesen Krieg verlieren; Russland muss scheitern, mit dem, was es sich vorgenommen hat."
Seit Invasionsbeginn wird in Deutschland heftig darüber gestritten, ob die Ukraine nun gewinnen oder Russland nicht gewinnen darf. Kanzler Scholz brachte Ersteres bis heute nicht über die Lippen, während der Rest seines Kabinetts weniger zurückhaltend ist. Jetzt, wo ein mit dem Kanzler abgestimmter Antrag vom "Gewinnen der Ukraine" spricht – ist der Streit damit beigelegt?
"Meine Papiergläubigkeit hat abgenommen"
Nicht unbedingt. Der SPD-Außenpolitiker Ralf Stegner betont, dass der Antrag nicht aussage, dass die Ukraine den Krieg gewinnen solle, sondern den Verteidigungskampf. "Das ist ein Unterschied", so Stegner zu t-online. Aus Stegner Sicht sei durchaus ein Szenario vorstellbar, wo die aktuelle Frontlinie eingefroren wird, um eine Waffenruhe zu verhandeln und zu einem späteren Zeitpunkt besetzte Gebiete wieder in voller Souveränität zu haben. Dafür gebe es historische Beispiele. "Entscheidend ist, dass Putin nicht mit Gewalt Grenzverschiebungen erreicht." Im Übrigen müsse die Ukraine das selbst entscheiden.
Die Formulierung im Antrag sei daher "keine Akzentverschiebung" in der Ukraine-Politik der SPD, so Stegner, ebenso wenig wie die Lieferung der "weitreichenden Waffensysteme".
Wie der Kanzler verstehe auch er etwa den Mehrfachraketenwerfer Mars II als weitreichendes Waffensystem, sagt der SPD-Politiker. Ohnehin solle man die Bedeutung "einzelner Kompromissformulierungen" nicht überschätzen: "Meine Papiergläubigkeit hat abgenommen, seit ich nicht mehr im Asta der Uni bin, und das ist schon eine Weile her", so Stegner. "Nicht Papiere beeindrucken Putin, sondern das Handeln der Verbündeten und anderer wichtiger Akteure wie China."
Der Text lasse zudem auch unterschiedliche Interpretationen zu. Entscheidend seien weniger Formulierungen als konkrete Politik, so Stegner: "Und da bin ich froh, dass wir einen Kanzler haben, der besonnen agiert."
Formulierungshilfe direkt aus dem Kanzleramt
Der außenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Nils Schmid, sieht das anders. Er sagt zu t-online: "Ziel war es, eine politische Einigung der drei Regierungsparteien herzustellen, was die künftige Ukraine-Strategie betrifft. Auch wenn wir uns in Nuancen unterscheiden, ist die Stoßrichtung klar: Die Ukraine muss vor allem militärisch in die Lage versetzt werden, ihr Territorium von russischen Invasionstruppen zu befreien", so Schmid.
Erst dann gebe es die Chance, aus einer Position der Stärke heraus auf diplomatischem Weg den Krieg zu beenden.
Der Außenpolitiker sagt, der Ampel-Antrag habe bewusst Formulierungen aus bestehenden politischen Vereinbarungen übernommen, etwa aus dem Nato-Beschluss beim Gipfel in Vilnius, aber auch aus Kanzlerreden. So sei auch die Passage zum ausgegebenen Kriegsziel entstanden, das Wording stamme direkt vom Kanzler, so Schmid.
Innere Zeitenwende
Ob das "Team Vorsicht" in der SPD die innere Zeitenwende auch nachhaltig vollzogen hat, ist noch nicht abschließend geklärt. Ein etwas launiges Statement von Fraktionschef Mützenich am Tag vor der Abstimmung lässt daran zumindest zweifeln. Mützenich wiederholte darin das Strohmann-Argument, ein Waffensystem alleine könne den Krieg nicht entscheiden (was niemand behauptet).
Es war als Kritik an denjenigen gedacht, die beklagten, dass es der Taurus am Ende doch nicht in den Antrag geschafft hat. Offenbar fällt es selbst dem Lager der Taurus-Gegner immer schwerer, gute Gründe zu finden, warum man die Waffe nicht liefert, die Experten zufolge zwar der Ukraine nicht den Sieg bringen würde, aber zumindest dabei helfen könnte.
- Gespräche mit Nils Schmid, Ralf Stegner und Michael Müller
- Ampel-Antrag zur Ukraine