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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neuer Verteidigungsminister Boris Pistorius Ein Termin wird besonders heikel
Die ersten Stunden und Tage waren für einen neuen Minister wohl noch nie so brutal: Von der ersten Minute an ist der neue Chef des Verteidigungsressorts voll gefordert.
Boris Pistorius wirkt angespannt, als er um 8.03 Uhr den Saal des Schloss Bellevue betritt. An seiner Seite geht Vorgängerin Christine Lambrecht im roten Blazer. Sie ist für Pistorius an diesem Morgen eine Art lebendes Mahnmal, was auf seinem neuen Posten alles schieflaufen kann.
Sieben Minuten später ist es schon vorbei. Zumindest der einfachste Teil. Lambrecht ist entlassen und Geschichte, der neue Verteidigungsminister heißt jetzt Pistorius. Er brauche "einen kühlen Kopf, gute Nerven, Führungsstärke, klare Sprache und politische Erfahrung", gibt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ihm mit auf den Weg. Wer wollte da widersprechen.
Denn es geht rastlos weiter für Pistorius, so wie schon in den vergangenen Tagen. Um 9 Uhr legt er im Bundestag seinen Amtseid ab. Um 9.40 Uhr wird er im Verteidigungsministerium mit militärischen Ehren empfangen. Direkt danach empfängt er den ersten Gast – und zwar gleich den wichtigsten Kollegen, den er hat: US-Verteidigungsminister Lloyd Austin.
Herzlich willkommen übrigens, Boris
Diese Stunden wirken ein bisschen wie im Film "Plötzlich Prinzessin", in dem ein ganz normales Mädchen über Nacht in die Welt des Adels katapultiert wird. Nur dass die Realität, die den neuen Verteidigungsminister erwartet, alles andere als märchenhaft ist. Pistorius hat einen Höllenstart. Und damit ist nicht nur dieser Donnerstag gemeint.
Boris Pistorius wird geahnt haben, dass er bereits Entscheidungen treffen muss, bevor er seine Umzugskisten überhaupt auspacken kann. Wie sollte es auch anders sein in Kriegszeiten? Doch dass die ersten Politiker schon am Dienstagmorgen etwas von ihm wollen, also bevor Olaf Scholz seinen Namen überhaupt verkündet hat, das ist dann doch besonders.
Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP gibt ihm mit auf den Weg, dass er bei der Lage natürlich keine "Schonfrist" bekomme. Wenig später verlangt CDU-Chef Friedrich Merz, Pistorius solle sich doch bitteschön endlich dafür einsetzen, dass Deutschland Leopard-Panzer an die Ukraine liefere. Und als es Abend wird, will der frühere ukrainische Botschafter Andrej Melnyk von ihm schon "Kampfpanzer, Kampfjets, Kriegsschiffe, Mehrfachraketenwerfer, Artillerie, Flugabwehr und natürlich ausreichend Munition".
Achso, und herzlich willkommen übrigens, Boris.
Mit dem großen Einstand wird es aber auch nach seiner Vereidigung und seinem Amtseid eher schwierig. Denn die schlechte Nachricht für Boris Pistorius lautet: Ruhiger wird es nicht. Im Gegenteil.
Der heikelste Termin gleich zu Beginn
Schon am Freitag steht für den Neuen ein Termin an, der heikler kaum sein könnte. Auf der US-Airbase im rheinland-pfälzischen Ramstein trifft sich die "Kontaktgruppe zur Verteidigung der Ukraine". In dieser Runde koordiniert der Westen unter Führung der USA, wie man die Ukraine am besten unterstützten kann.
Und das bedeutet eben immer auch allgemeinere Fragen wie: Mit welchen Waffen? Aber eben auch konkretere: Auch mit Kampfpanzern? Und ganz konkrete: Mit deutschen Kampfpanzern wie dem Leopard 2?
In den vergangenen Tagen wuchs der Druck aufs Kanzleramt und Verteidigungsministerium deutlich. International, aber eben auch in der eigenen Koalition. Es sind längst nicht mehr nur die üblichen Verdächtigen, die Kampfpanzer für die Ukraine fordern.
Wobei die das natürlich immer noch tun, der Grünen-Politiker Anton Hofreiter etwa. "Ich wünsche Boris Pistorius für sein neues Amt viel Erfolg und erwarte, dass er sich als Verteidigungsminister dafür einsetzt, dass wir der Ukraine endlich Leopard 2 zur Verfügung stellen", sagte er t-online. "Erst wenn Putin erkennt, dass er diesen Krieg nicht gewinnt, wird er zu ernsthaften Verhandlungen bereit sein."
Doch auch Omid Nouripour, Chef der Grünen, sagte der "Welt" am Dienstag: Die Position der Partei sei es, dass die Ukraine Kampfpanzer bekommen solle und dabei "auch die Bestände der Bundeswehr nicht tabu sein dürfen".
Ist das die Kompromisslinie?
Doch kommt es auch dazu? Das hängt wohl weniger von Pistorius als vom Kanzleramt ab. Das setzte schon am Mittwoch den Ton. Es wurde gestreut, Deutschland sei nur bereit, Kampfpanzer zu liefern, wenn die USA das auch tun. Und dazu kommt es wohl (noch) nicht. Das US-Verteidigungsministerium ließ nur wenig später mitteilen, keine ihrer Kampfpanzer vom Typ Abrams schicken zu wollen.
Und dann? US-Verteidigungsminister Lloyd Austin sagte vor seinem Besuch bei Pistorius ganz offen, was die USA stattdessen von Deutschland wollen. Ziel sei es, die Deutschen davon zu überzeugen, dass wenigstens andere lieferwillige Länder den Leopard 2 an die Ukraine abgeben dürfen.
Da die Kampfpanzer in Deutschland produziert wurden, muss die Bundesregierung die Exporte anderer Länder genehmigen. Und das wollen Polen und Finnland, womit auch international der Druck auf Deutschland zuletzt enorm wuchs. Zumal Großbritannien schon entschieden hat, "Challenger 2"-Kampfpanzer zu liefern.
Einige Medien berichten, selbst für die Exportgenehmigungen bestehe Scholz bislang darauf, dass auch die USA ihre Kampfpanzer lieferten. Ob er bei dieser strikten Linie bleibt, ja bleiben kann? Vizekanzler Robert Habeck jedenfalls sah schon vergangenen Donnerstag einen großen Unterschied zwischen der Frage, ob Deutschland selbst liefere – oder anderen die Lieferung verweigere.
Habeck sagte, Deutschland solle "sich nicht in den Weg stellen, wenn andere Länder Entscheidungen treffen, die Ukraine zu unterstützen – unabhängig davon, welche Entscheidung Deutschland trifft". Es könnte die Kompromisslinie des Kanzleramts sein. Pistorius käme in Ramstein die Aufgabe zu, diesen komplizierten Kompromiss den Verbündeten zu erklären und als sinnvoll zu verkaufen. Keine leichte Aufgabe.
Und am Sonntag schon wieder Kampfpanzer
Zumindest vom Ambiente ein wenig angenehmer geht es für Pistorius am Sonntag weiter. Er fliegt mit dem Bundeskabinett zum deutsch-französischen Ministerrat. Eigentlich ist das Treffen eher ein Wohlfühltermin, um die abgekühlte deutsch-französische Freundschaft wieder aufzuwärmen.
Doch die französische Regierung gab bereits zu erkennen, dass sie auch über Kampfpanzer reden will. Natürlich mit dem Verteidigungsminister Boris Pistorius.
Wenn er dann im Februar zum Nato-Verteidigungsministertreffen in Brüssel muss und zur Münchner Sicherheitskonferenz, dürfte er zumindest voll im Stoff sein. Was sich gut trifft. Denn in München hält der deutsche Verteidigungsminister am Eröffnungstag traditionell so etwas wie eine Grundsatzrede.
"Druckbetankung" in Kanzleramt und Ministerium
Wenn Boris Pistorius nicht gerade in Ramstein, Paris, Brüssel oder München ist, heißt das natürlich nicht, dass er nichts zu tun hat. Im Gegenteil: Er wird sich einarbeiten müssen in dieses schrecklich komplizierte Ressort, das bisher fast alle seine Minister geschafft hat.
Natürlich hat die "Druckbetankung" von Pistorius längst begonnen, also das Eintrichtern vieler Infos binnen kurzer Zeit. Schließlich übernimmt der neue Minister sein Amt in der größten sicherheitspolitischen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.
Bereits am Mittwoch war er deshalb im Kanzleramt. Während Olaf Scholz in Davos sprach, hatte sein bald wichtigster Minister ein Gespräch mit dem außenpolitischen Berater des Kanzlers, Jens Plötner. Auch seinen künftigen Arbeitsplatz, den Bendlerblock – jenen Gebäudekomplex im Berliner Stadtteil Tiergarten, in dem die Bundesverteidigungsminister ihr Büro haben – besuchte er.
Dort gab es für Pistorius neben vielen Aktenordnern auch erste "Deep dives", wie die Briefings mit Abteilungsleitern und Fachleuten genannt werden. Sie finden entweder im Ministerbüro selbst, in Besprechungsräumen oder im sogenannten U-Boot statt, einem abhörsicheren Raum. Neben grundsätzlichen Informationen über die Bundeswehr und ihren aktuellen Zustand wurde Pistorius auch auf das Treffen mit dem US-Kollegen Austin vorbereitet.
Wie viel Beinfreiheit wird er haben?
Da passt es, dass Pistorius ankündigte, er werde sich "vom ersten Tag an mit 150 Prozent" in sein neues Amt stürzen. Schon bald wird die Frage für ihn allerdings eher sein, wie viel Prozent Handlungsspielraum er tatsächlich hat.
Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das Kanzleramt die großen Entscheidungen in der Verteidigungspolitik an sich gezogen. Die "Zeitenwende" mit dem Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro ist sowieso eine reine Scholz-Idee. Und zuletzt hat das Kanzleramt sogar Dinge wie einen Munitionsgipfel mit der Industrie ausgerichtet.
Im klatschfreudigen politischen Berlin wird geraunt, dass Christine Lambrecht zuletzt nur noch wenig allein entscheiden durfte. Das dürfte an ihrem fehlenden Rückhalt im Ministerium gelegen haben. Aber auch daran, dass Scholz Lambrecht von Anfang an vor allem für ihre Treue geschätzt und eingestellt hat.
Obwohl Scholz Pistorius bei der Vorstellung sogar einen "Freund" nannte, wird der bisherige niedersächsische Innenminister in der SPD eigentlich nicht zum Scholz-Lager gezählt. Auch wenn beide in Osnabrück geboren sind. Doch das wird das Kanzleramt wohl nicht davon abhalten, auch künftig selbst in die Details der Verteidigungspolitik hineinzuregieren. Manchmal mischen sich Kanzler gern deutlich mehr als nur in die Richtlinien der Politik ein.
Dass Pistorius zumindest im Stil anders auftreten wird als Lambrecht und Scholz selbst, scheint jedoch sicher zu sein. Pistorius ist von deutlich lebhafterem Temperament als Scholz und dafür bekannt, politisch auch mal ins Risiko zu gehen.
Es gibt in der SPD Stimmen, die sich eine solche Rollenverteilung zwischen Bendlerblock und Kanzleramt schon früher gewünscht hätten. Gerade seit Kriegsbeginn. Der zurückhaltende, eher spröde Kanzler auf der einen Seite. Und auf der anderen Seite der etwas forschere, auch empathischere Verteidigungsminister.
Zumindest diese Arbeitsteilung scheint mit Boris Pistorius möglich zu sein.
- Eigene Recherchen
- Beobachtungen im Schloss Bellevue und im Bundestag
- tagesschau.de: Druck aus Estland, Finnland und Polen
- sz.de: Die Briten preschen vor
- spiegel.de: Was Boris Pistorius in den ersten Amtstagen bevorsteht (kostenpflichtig)