Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Gerhard Schröder Alles egal
Am Montag wurde bekannt, dass Gerhard Schröder nach Moskau gereist ist. Mit solchen Aktionen schadet der Ex-Kanzler nur noch einem – sich selbst.
194 Länder gibt es auf der Welt. In sehr viele davon hätte Gerhard Schröder derzeit problemlos reisen können, ohne dass sich irgendjemand daran gestört hätte. Ausgesucht hat er sich aber ein besonderes. Ausgerechnet jenes Land, das derzeit der Schurkenstaat Nummer 1 der internationalen Politik ist: Russland.
Zunächst hieß es, Schröder mache "Urlaub" in Moskau. Am Dienstag sagte seine Ehefrau So-yeon Schröder-Kim dann dem "Spiegel", ihr Mann führe jedoch Gespräche über "Energiepolitik" in Moskau.
Eigentlich ist das völlig egal. Genauso wie die Frage, ob Schröder am Ende aus seiner Partei ausgeschlossen wird oder nicht. Schröder hat für die SPD, die er einst ins Kanzleramt führte, keinerlei Relevanz mehr. Weder politisch noch emotional.
Seit Monaten scheint Schröder losgelöst von der Wirklichkeit nur noch nach dem Motto eines semi-prominenten Schlagersängers zu agieren: Egal. Und selbst dass Putin einen brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt? Egal!
Dass Deutschland und die EU versuchen, mit Sanktionen und Isolation das Regime in Moskau zum Einlenken zu bewegen? Alles egal!
Schröder war das gelebte SPD-Prinzip
Zu welch tragischer Figur er sich damit selbst degradiert, ist ihm offenbar nicht mehr bewusst. Denn reagierte seine Partei zunächst noch verstört auf sein Verhalten, so kommentiert man die Eskapaden des früheren Regierungschefs und Parteivorsitzenden inzwischen nur noch mit einem Achselzucken. Schröder schadet nur noch einem – sich und seinem Ruf in der Nachwelt.
Um die ganze Dramatik dieses Abstiegs zu erfassen, muss man sich bewusst machen, wer Schröder einmal war. Er war der Selfmademan, der sich aus ganz einfachen Verhältnissen in der Politik nach oben gearbeitet hatte. Der gezeigt hatte, dass man es mit Talent und eisernem Willen überallhin bringen kann, vom Rütteln am Zaun des Kanzleramts ins Zentrum der Macht selbst.
Niemand stand mehr für das Kernprinzip der SPD, dass es jeder in Deutschland schaffen können soll, wenn er oder sie sich anstrengt. Aufstieg durch Bildung und Ehrgeiz, nicht durch Herkunft und Portemonnaie.
Er berührte die Parteiseele
Aber nicht nur das. Schröder berührte die Parteiseele. Er konnte die Menschen mitreißen, begeistern, zum Träumen bringen. "Gerd aufs Pferd" jubelten die Genossen und Genossinnen, als er 1990 bei den Landtagswahlen in Niedersachsen antrat, um den damaligen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht (Vater von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen) aus dem Amt zu treiben. Was ihm gelang. Zwei weitere Landtagswahlen konnte Schröder für sich entscheiden; mit dem Sieg von 1998 fegte er seinen parteiinternen Konkurrenten um die Kanzlerkandidatur für die bevorstehende Bundestagswahl, Oskar Lafontaine, aus dem Rennen.
Ein halbes Jahr später gelang Schröder bei der Bundestagswahl 1998 dann eine weitere Sensation: Er besiegte Amtsinhaber Helmut Kohl. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde eine komplette Regierung abgewählt.
Als Kanzler blieb Schröder authentisch
Er war damals oben angekommen. Dort, bei den Mächtigen, den Entscheidern. Der Elite, die so oft auf Menschen wie ihn heruntergeschaut hatte. Nun schauten sie zu ihm auf. Mehr noch: Sie suchten seine Nähe.
Auch als Kanzler blieb Schröder authentisch. Falsche Demut war nicht seine Sache. Offen stellte er zur Schau, wie sehr er seinen Aufstieg genoss, trat im Brioni-Anzug und mit Cohiba-Zigarre auf. Den erwartbaren Spott ließ er abperlen.
Auch sein Gespür für die Menschen behielt er lange. Legendär sein Spruch bei einer Veranstaltung: "Hol mir mal ne Flasche Bier, sonst streik ich hier." Mit seiner Weigerung, die USA bei ihrer Militärintervention gegen den Irak zu unterstützen, traf er den Nerv der Bevölkerung. Sein größtes politisches Werk aber war die Agenda 2010, zu der auch die Hartz-IV-Reformen gehörten. "Only Nixon could go to China" ist ein politisches Sprichwort. Und nur ein SPD-Politiker konnte in Deutschland die schmerzhaftesten Sozialreformen durchsetzen, die das Land je erlebt hatte.
Merkel profitierte von ihm
Schröders Nachfolgerin Angela Merkel sollte noch lange von diesem Schritt profitieren, aber für seine eigene Partei war die Agenda eine einzige Zumutung. Wer so etwas tut, der braucht Mut. Mutig war auch Schröders Entscheidung, vorzeitig Neuwahlen anzusetzen. Er wusste, dass ihn das die Kanzlerschaft kosten könnte. Und so kam es.
Doch was einst einen großen Politiker ausgemacht hatte, verkehrte sich nun ins Gegenteil. Die Unberirrtheit wurde zur Halsstarrigkeit, das Talent zur Führung wurde zur Ignoranz der Partei.
Keine drei Wochen, nachdem Schröder das Kanzleramt für Angela Merkel geräumt hatte, wurde bekannt, dass er künftig den Aufsichtsrat der Gaspipeline-Firma Nord Stream AG leiten würde, deren Haupteigentümer der russische Konzern Gazprom ist. Nicht nur bei den anderen Parteien sorgte dieser Schritt für harsche Kritik. Schröder ignorierte sie wie einst die Attacken auf seine Brioni-Kleidung.
Vielleicht wäre er damit durchgekommen, hätte sein alter Freund Wladimir Putin nicht den Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet. Spätestens jetzt hätte er sich vom Kremlchef lossagen müssen, sämtliche wirtschaftlichen Verbindungen kappen müssen.
Einem Irrglauben alles geopfert
Doch Schröder scheint in seiner eigenen Welt gefangen zu sein: In dieser ist er immer noch ein großer Staatsmann, der mit Putin auf Augenhöhe verhandeln kann. Für diesen Irrglauben hat er alles geopfert, seinen Ruf, seine Partei und – was am schwersten wiegt – auch fast alle Menschen, die ihm nahestanden. Seine engen Mitarbeiter haben gekündigt, langjährige Weggefährten haben sich enttäuscht abgewandt. Dabei hätte spätestens seine erste eigenmächtige Reise nach Moskau als "Vermittler" ihn darüber belehren können, dass auch er keinerlei Einfluss mehr auf Putin hat.
Die SPD hat große Kanzler hervorgebracht: Willy Brandt, Helmut Schmidt. Auch sie waren keine unfehlbaren Menschen. Aber es ist ihnen gelungen, sich ihre Größe bis zum Schluss zu bewahren.
Schröder wird nicht als großer Kanzler in die Geschichte eingehen. Sondern als kleiner. Als einer, der an sich selbst gescheitert ist. Der am Ende jeglichen Kontakt zur Realität verloren hat, die er einst so entscheidend mitgeprägt hatte. Es ist eine Tragik vom Ausmaß eines antiken Dramas.