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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Impfpflicht-Pleite für Scholz Wie konnte das passieren?
Olaf Scholz wollte sie, alle Ministerpräsidenten auch, Karl Lauterbach sowieso – doch die allgemeine Impfpflicht ist am Donnerstag gescheitert. Chronologie eines politischen Debakels.
Da sitzt er nun auf seinem blauen Stuhl im Plenarsaal. Olaf Scholz schaut nach rechts, er schaut nach links, er schaut auf den Boden. Sein Gesicht zeigt keine Regung. Dabei geht es auch für ihn an diesem Donnerstagmorgen um sehr viel: Der Bundestag debattiert über die Impfpflicht.
Also über jenes Projekt, für das Scholz sich bereits vor Monaten ausgesprochen hat. Am Vormittag hat er extra seine Außenministerin Annalena Baerbock aus Brüssel zurückbeordert, damit sie in Berlin mit abstimmen kann. Der Kanzler braucht jede Stimme.
Dabei geht es ja längst nicht mehr um eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren, wie Scholz sie ursprünglich wollte. Und Gesundheitsminister Karl Lauterbach. Und alle Ministerpräsidenten. Nein, die Frage ist nur noch, ob das Vorhaben irgendwie gerettet wird. Der Kompromiss lautet nun, dass eine Impfpflicht ab 60 Jahren eingeführt werden soll.
Es ist 12:42 Uhr, als Bundestagsvizepräsidentin Aydan Özoğuz das Ergebnis vorliest: 296 Ja-Stimmen, 378 Nein-Stimmen. Sie sagt: "Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung abgelehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung."
Es ist ein deutliches Ergebnis. Und es ist auch eine deutliche Niederlage für viele Spitzenpolitiker, allen voran für Olaf Scholz. Dass ein Kanzler sich für ein Projekt einsetzt, es aber dennoch scheitert, ist ein äußerst seltenes Phänomen. Und es würde in normaleren Zeiten – also ohne Ukraine-Krieg – vermutlich für größere Eruptionen im politischen Berlin sorgen.
Nur: Wie konnte das passieren?
Die einfache Erklärung lautet: Es gibt im Bundestag keine Mehrheit für eine allgemeine Impfpflicht. Die etwas kompliziertere Erzählung handelt allerdings von Fehleinschätzungen, mangelnder Durchsetzungskraft – und, wie so oft, eben auch von allerlei politischen Spielchen.
Es gibt eine gefühlte Mehrheit: November 2021 bis Ende Januar 2022
Alles beginnt am 30. November. Nach einer Bund-Länder-Runde zur Corona-Lage, die ohne Beschlüsse endet, positioniert sich der Bald-Kanzler Olaf Scholz. Ja, er wolle die Impfpflicht, sagt er an jenem Abend in gleich zwei TV-Interviews fast wortgleich: "Mein Vorschlag: Anfang Februar oder Anfang März."
Plötzlich ist die Idee einer Impfpflicht ab 18 Jahren für alle Deutschen in der Welt. Mit Unterstützung von ganz oben. Während noch im Wahlkampf viele genau dieses Szenario ausgeschlossen hatten, kippt nun die Stimmung.
Gerade erst ist die Omikron-Variante entdeckt worden. Deutschland steckt noch mitten in der Delta-Welle. Dass die neue Virusvariante sich durch deutlich harmlosere Verläufe auszeichnen wird, ist noch nicht bekannt. Es herrscht große Sorge vor dem Winter mit neuen Mutationen – speziell davor, dass die in Deutschland immer noch hohe Zahl der Ungeimpften alles noch viel schlimmer macht. Auch in Umfragen gibt es deutliche Mehrheiten für die Impfpflicht.
Bei der SPD und den Grünen ist schnell eine große Mehrheit dafür. Sogar FDP-Chef Christian Lindner zeigt sich offen für die Idee. Doch in seiner Fraktion gibt es auch viele Gegner. Der erste Antrag im Bundestag zum Thema kommt von Wolfgang Kubicki, dem Vize-Parlamentspräsidenten. Er beinhaltet: ein striktes Nein zur Impfpflicht. Ein knappes Drittel der Liberalen versammelt sich dahinter.
Scholz erklärt im Winter, dass seine Regierung keinen eigenen Antrag in den Bundestag einbringen werde. Eine Gewissensentscheidung ohne Fraktionszwang soll es geben. Scholz sagt, er tue das wegen der grundlegenden Bedeutung der Frage. Eine offene Debatte trage zur "Befriedung der politischen Diskussion" bei. Und behauptet gar, sein Vorgehen sei ein Beispiel für "demokratisches Leadership". Doch sein Handeln hat vor allem einen Grund: Scholz weiß, dass er schon zu diesem Zeitpunkt für die Impfpflicht keine eigene Mehrheit mit der Ampelkoalition hat. Er hofft, die Sache werde trotzdem gut gehen.
Zeitgleich verpufft Scholz' groß angelegte Impfkampagne ziemlich schnell. In Interviews verteidigt der Kanzler das Vorhaben zwar weiter. Doch je mehr Zeit vergeht und je deutlicher wird, dass Omikron eher milde Verläufe auslöst, desto stärker zielen seine Argumente auf den kommenden Winter: Ohne Impfpflicht werde man die Pandemie einfach nicht überwinden. Er argumentiert also weiter für die Pflicht.
Entscheiden muss eh der Bundestag. Anfang Januar zeichnen sich drei Positionen ab: die Forderung nach einer allgemeinen Impfpflicht ab 18, wie Scholz sie will, eine eingeschränkte Impfpflicht für vulnerable Gruppen (zum Beispiel ab 50) und die generelle Ablehnung der Impfpflicht. Alle drei Vorschläge werden später in separate Anträge gegossen.
Die Stimmung kippt: Ende Januar bis Mitte März 2022
Doch zunächst wird im Bundestag eine "Orientierungsdebatte" angesetzt. Sie soll dazu dienen, Argumente auszutauschen, ohne dass bereits ausformulierte Gesetzesvorschläge vorliegen. Tatsächlich soll das "Wir reden erst mal" aber auch Aufschub in einer Situation verschaffen, die immer verfahrener wird.
Am 26. Januar ist es so weit: Fast drei Stunden nehmen sich die Abgeordneten des Bundestags Zeit, um das Pro und Kontra einer Impfpflicht zu diskutieren. Die Meinungen gehen wild durcheinander und jetzt zeigt sich auch öffentlich, was sich im November schon abzeichnete: In der Ampel gibt es für die Impfpflicht keine Mehrheit. Trotzdem halten viele in der Koalition daran fest.
Und wer schweigt an diesem Tag? Ausgerechnet Olaf Scholz. Der Kanzler, der die Impfpflicht-Debatte losgetreten hat, meldet sich nicht zu Wort.
Aus den ursprünglich drei Anträgen werden nun fünf. Der erste spricht sich für eine allgemeine Impflicht aus und wird von vielen Abgeordneten von SPD und den Grünen, vereinzelt aber auch von FDP-Parlamentariern mitgetragen. Eine weitere Gruppe von Ampel-Abgeordneten um den FDP-Politiker und Arzt Andrew Ullmann plädiert für eine verpflichtende Impfberatung, die von einer Impfpflicht ab 50 gefolgt sein könnte, falls eine bestimmte Impfquote nicht erreicht wird. Auch diesem Vorschlag haben sich Abgeordnete anderer Fraktionen angeschlossen.
Die Unionsfraktion verhält sich lange ruhig. Dann geht sie mit einem eigenen Vorschlag ins Rennen: Dieser sieht einen gestaffelten "Impfmechanismus" vor, der je nach Pandemieentwicklung sukzessive für bestimmte Berufs- und Bevölkerungsgruppen (ab 50 Jahren, ab 60 Jahren für alle, die in kritischer Infrastruktur arbeiten) eingesetzt werden könnte, dem aber der Aufbau eines Impfregisters vorangehen müsste.
FDP-Politiker Kubicki vertritt mit dem von ihm initiierten Antrag die Front der Kritiker einer Impfpflicht. Auch die AfD lehnt in ihrem Vorschlag die Impfpflicht ab. Darüber hinaus fordert sie, dass auch die bereits eingeführte Teilimpfpflicht für Pflegekräfte wieder abgeschafft wird.
Nun liegen also fünf Anträge vor – und die Verhandlungen beginnen. Sie sind mühsam. Und werden auch nicht dadurch einfacher, dass es immer wieder Störfeuer gibt. Mitte März etwa teilt der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen mit, man sehe sich außerstande, eine allgemeine Impfpflicht ab 18 umzusetzen. Die kuriose Begründung: Die Krankenkassen könnten die notwendigen Briefe dafür nicht verschicken, weil es an Papier fehle.
Am 17. März diskutiert der Bundestag in erster Lesung über die Impfpflicht. Die Argumente gleichen denen aus der Orientierungsdebatte. Fast zwei Monate sind seither vergangen, fast zwei Monate ist wenig passiert.
Nur der Ton ist noch schärfer geworden. Von einer "einmaligen Chance" spricht Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der ebenfalls eine allgemeine Impfpflicht ab 18 fordert. Die AfD-Fraktionschefin Weidel bezeichnet die Impfpflicht hingegen als "totes Pferd". Sechs Tage später wirbt Scholz im Bundestag noch einmal persönlich für die Impfpflicht: "Nichts wäre schlimmer, als die mühsam erreichten Erfolge aufs Spiel zu setzen."
Doch dann rückt die Impfpflicht immer weiter weg vom Mittelpunkt des Interesses. Erst verschärft sich die Lage zwischen Russland und der Ukraine, dann kommt es zum Krieg. Corona wirkt nun plötzlich nicht mehr so wichtig. Und die Pandemie nicht mehr so bedrohlich: Zwar sind die Infektionszahlen weiterhin extrem hoch, doch von einer Überlastung des Gesundheitssystems kann keine Rede mehr sein.
Die Union beschließt zu diesem Zeitpunkt: Eine Impfpflicht ist nicht mehr angemessen. Wenn die Mehrheit für eine Impfpflicht vorher bereits wackelte, ist sie damit kurz vor dem Umfallen.
Das Projekt droht zu scheitern, doch es passiert erstaunlich wenig. Die Abstimmung im April abwarten, so lautet die Devise. Und alle glauben, die anderen müssten den ersten Schritt machen. Bei den Befürwortern einer Impfpflicht ab 50 heißt es noch Ende März, vielleicht gebe es ja Bewegung in der Gruppe derer, die eine Impfpflicht ab 18 Jahren haben wollen. Letztere wiederum sind selbstbewusst, weil ihr Antrag mehr als 230 Unterstützer hat, und sehen eher die 50er-Gruppe in der Pflicht zum Kompromiss. So geht es hin und her.
Und vom Kanzler? Kein Wort dazu. Scholz dämmert wohl bereits, dass sein politisches Vorhaben zu scheitern droht, vielleicht will er auch deshalb nicht noch einmal mit Verve dafür werben. Und hofft womöglich darauf, dass mancher seinen einst großen Einsatz für die Impfpflicht bereits vergessen hat.
Es geht schief: April 2022
Keiner treibt das Projekt mehr voran, niemand bewegt sich – und plötzlich ist die Zeit um. Am 4. April wird auch dem letzten Abgeordneten klar: Diese Woche wird tatsächlich abgestimmt. Und weiterhin ist keine Mehrheit in Sicht.
Deshalb geht plötzlich alles sehr schnell. Die Befürworter einer Impfpflicht ab 50 sagen, sie hätten sich mit der 18er-Gruppe geeinigt. Jedoch nicht auf eine Zahl in der Mitte der beiden Altersgrenzen, etwa bei 30 Jahren, sondern bei 60 Jahren. Die Hoffnung: Vielleicht ist die Union dann doch noch gesprächsbereit. Das würde für die Mehrheit reichen, denn die Abgeordneten um Impfpflicht-Gegner Kubicki kann man ohnehin nicht gewinnen.
Noch am Mittwoch, dem Tag vor der Abstimmung, geht es hin und her. Zunächst vermeldet der "Spiegel", dass die Union angeblich doch noch gesprächsbereit sei. Dann wäre der Plan aufgegangen. Angeblich habe sich Tino Sorge, der gesundheitspolitische Sprecher von CDU/CSU im Gesundheitsausschuss offen gezeigt. Die Freude ist zunächst groß, für etwa drei Stunden sieht alles nach einem Durchbruch aus. Danach, dass zumindest die ganz große Niederlange für Olaf Scholz abgewendet wird.
Dann taucht am Mittwochnachmittag plötzlich ein internes Papier auf: Thorsten Frei, der Parlamentarische Geschäftsführer der Union, schreibt an alle CDU- und CSU-Abgeordneten. Den wichtigsten Satz in seinem Text hat Frei nicht nur unterstrichen, sondern auch gefettet. Er lautet: "Nehmen Sie an allen Abstimmungen teil, stimmen Sie unserem Antrag zu, lehnen Sie die übrigen Vorlagen ab." Es ist der Sargnagel für das Projekt. Die Union hat gezögert, die Union hat überlegt, aber dann entschieden: Wir lassen die Ampel – und vor allem den Kanzler – auflaufen.
In der Regierung heißt es nun, dass die Union das freie Mandat nicht ernst nehme, wenn man den eigenen Abgeordneten vorschreibe, wie sie zu stimmen hätten. Hört man sich dagegen in der Union um, sagt mancher, das sei doch übliche Praxis der SPD zu ihren Oppositionszeiten gewesen.
Die Moral von der Impfpflicht-Geschicht
Was bleibt? Zunächst die Erkenntnis, dass die Impfpflicht nicht nur an Olaf Scholz gescheitert ist. Sondern auch am mangelnden politischen Willen der Abgeordneten, sich zu einigen. Die Verhandlungen kurz vor der Abstimmung hätten wohl bereits vor Wochen geführt werden müssen.
Trotzdem bleibt auch eine politische Niederlage des Kanzlers. Scholz hatte erst deutlich, dann zögernd und schließlich gar nicht mehr für die Impfpflicht geworben. Er ahnte also bereits, wie die Debatte ausgehen würde.
Ob Scholz' Autorität nun dauerhaft geschwächt ist, wird sich zeigen. Aber ein guter Tag war dieser Donnerstag für ihn nicht. Was ihn beruhigen mag: Auch alle Ministerpräsidenten der Union wollten eine allgemeine Impfpflicht ab 18 Jahren. Auch sie konnten sich nicht durchsetzen. Das Ergebnis der Diskussion über die Impfpflicht macht klar: Eine Basta-Politik gibt es heute tatsächlich nicht mehr.
- Eigene Recherche