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Analyse des Koalitionsvertrags: Alles wird anders – oder doch nicht?


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Analyse des Koalitionsvertrages
Was sich jetzt für die Deutschen ändert


Aktualisiert am 25.11.2021Lesedauer: 6 Min.
Annalena Baerbock, Robert Habeck, Olaf Scholz, Christian Lindner und Volker Wissing: Wirklich eine "Fortschrittskoalition"?Vergrößern des Bildes
Annalena Baerbock, Robert Habeck, Olaf Scholz, Christian Lindner und Volker Wissing: Wirklich eine "Fortschrittskoalition"? (Quelle: Michael Kappeler/dpa/dpa)

Der Titel des Koalitionsvertrags klingt ambitioniert: "Mehr Fortschritt wagen." Aber wie viel Zukunft steckt wirklich drin? Und wer hat sich durchgesetzt? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Immerhin retten sie sich schon gegenseitig. Als SPD, FDP und Grüne am Mittwoch ihren Koalitionsvertrag vorstellen, will eine Reporterin wissen, wie all die Vorhaben eigentlich finanziert werden sollen. Der nächste Kanzler Olaf Scholz antwortet sperrig: "Wir haben uns vorgenommen, dass das ein Jahrzehnt der Investition wird." Denn natürlich wolle man "wiedergewählt werden". Er sagt dann noch ein paar Sätze, in denen oft das Wort "Investition" vorkommt, die aber keine Antwort auf die Frage sind.

Doch dann nutzt der nächste Vizekanzler Robert Habeck die Gelegenheit: "Die Antwort ist: Ja. Wir wissen, was wir wollen und wie wir das bezahlen." Genauer wird Habeck zwar auch nicht, aber die Botschaft stimmt: Alles im Griff, wir regeln das schon.

Der neue Koalitionsvertrag, in dem die Ampelkoalition aufgeschrieben hat, wie sie das genau regeln wollen, hat 177 Seiten. Er ist das Ergebnis von wochenlangem Ringen, angeblich wurde um einzelne Sätze stundenlang gefeilscht.

Wer hat sich in den Verhandlungen wo durchgesetzt?

Der Koalitionsvertrag enthält etliche Kernforderungen der SPD: So wird etwa der Mindestlohn auf 12 Euro erhöht. Ein stabiles Rentenniveau und mehr sozialer Wohnungsbau sind ebenfalls wichtige Punkte aus der sozialdemokratischen Agenda. Bei Hartz IV ist die Bilanz jedoch bestenfalls gemischt. Es nennt sich zwar ab jetzt Bürgergeld, die Sanktionen sollen reformiert werden und die Vermögensprüfung teils weniger restriktiv sein. Der Regelsatz steigt jedoch erst mal nicht, obwohl SPD und auch Grüne das wollten.

Bei den Grünen ist es nicht ganz so einfach: Einerseits ist es ein deutliches Zeichen, dass Robert Habeck ein um den Klimaschutz erweitertes Wirtschaftsministerium übernimmt. Andererseits gibt es auch Rückschläge. Das Verkehrsministerium bekommen sie nicht. Und der CO2-Preis für Verkehr und Wärme soll nicht stärker steigen als ohnehin vorgesehen. "Angesichts des derzeitigen Preisniveaus durch nicht CO2-Preis-getriebene Faktoren halten wir aus sozialen Gründen am bisherigen (...) Preispfad fest", heißt es im Vertrag. Dafür ist als sozialer Ausgleich ein Klimageld vorgesehen – ein Grünen-Projekt.

Entscheidend für die Grünen dürfte sein, dass der Kohleausstieg jetzt wirklich bereits 2030 vollzogen werden soll, also acht Jahre früher als bislang spätestens geplant. Möglich werden soll das vor allem durch einen Mindestpreis beim EU-Zertifikatehandel von 60 Euro, der Kohle unwirtschaftlich machen soll. Weitere Klimaschutzprojekte sind ebenfalls enthalten: etwa die Wasserstoffproduktion, die ausgebaut werden soll, und dass "alle geeigneten Dachflächen" für die Installation von Solarzellen genutzt werden sollen.

Der wichtigste Erfolg der FDP ist eine Personalie: Christian Lindner wird Finanzminister. Auch sonst sind die Erfolge der Liberalen beachtlich. Unter anderem wird es weder ein Tempolimit noch ein Verbot des Verbrennungsmotors geben. Gegen die Grünen durchgesetzt haben sich die Liberalen zudem bei der Einhaltung der Schuldenbremse. So ist festgelegt, die Verschuldung ab 2023 "auf den verfassungsrechtlich von der Schuldenbremse vorgegebenen Spielraum" zu beschränken.

Und wer ist jetzt der Gewinner der Koalitionsverhandlungen?

Auch wenn die Liberalen viel durchsetzen konnten: Ein so deutlicher Gewinner wie noch beim Sondierungspapier ist die FDP nun nicht mehr. Eher sieht es so aus, als hätten alle drei Parteien ihre Stärken einbringen können. Die FDP kümmert sich ums Digitale und die Finanzen, die Grünen um den Klimaschutz und die SPD um soziale Themen. Jeder kann sich auf seinem Stammgebiet profilieren, weil es sich auch in der Ressortverteilung niederschlägt.

Für die Sozialdemokraten bedeutet das aber auch, dass sie zwar mit "Zukunftsmissionen" Wahlkampf betrieben haben, allerdings kein wirkliches Ministerium besetzen, das klassische Zukunftsthemen bearbeitet. Sie müssen hoffen, dass der Kanzler seine Wahlkampfreden wahr macht und sich auch darum kümmert.

Ist klar, wie das alles finanziert werden soll?

Die grundsätzliche Frage "Wer soll das bezahlen, wer hat so viel Geld?" stellt sich für jede Regierung. Und die Antwort ist meistens eine der schwierigeren, wenn nicht sogar die komplizierteste. Ein wenig drängt sich der Eindruck auf, die künftigen Regierungspartner wüssten auch nach wochenlangen Verhandlungen noch immer keine wirklich schlüssige Antwort. Wohl auch deshalb haben sie das Thema Finanzen fast ans Ende ihres Vertrages gepackt. Getreu dem Motto: Es gibt so viel, das deutlich wichtiger ist.

Auffallend ist: Dafür, dass es ja typischerweise gerade bei diesem Thema vor allem um Zahlen geht, kommen diese erstaunlich wenig vor. Klar, ein höherer Sparerpauschbetrag (1000 Euro für Singles, 2000 Euro für Verheiratete) ist genauso beziffert wie eine Erhöhung des Ausbildungsfreibetrags auf 1.200 Euro. Doch beides senkt die Einnahmen des Staates oder erhöht die Ausgaben, hilft folglich nicht dabei, zusätzliches Geld zu mobilisieren.

Bei einigen Aspekten haben sich SPD, Grüne und FDP im Klein-Klein verloren. Fast eine Seite widmen sie der Frage, bis wann die Förderung des Kaufs von Plug-in-Hybriden ausläuft und wie für sie die künftige Besteuerung bei Dienstwagen aussieht. Bei den wirklich großen Fragen bleibt es dagegen eher schwammig. "Um finanzielle Potenziale für Zukunftsinvestitionen zu schaffen, werden wir (...) auch Ausgabenkürzungen vornehmen und Ausgabenreste abbauen", heißt es etwa. Oder: "Wir wollen zusätzliche Haushaltsspielräume dadurch gewinnen, dass wir im Haushalt überflüssige, unwirksame und umwelt- und klimaschädliche Subventionen und Ausgaben abbauen." Zudem sollen "alle Ausgaben auf den Prüfstand gestellt werden".

Das sind alles erst einmal Floskeln. Um sich konkretere weitere finanzielle Optionen zu verschaffen, wollen die Parteien auch tricksen: Die staatliche KfW-Bank soll private Investitionen fördern, Staatskonzerne wie die Deutsche Bahn können sich stärker verschulden. Außerdem soll der Energie- und Klimafonds zu einem Transformationsfonds umgebaut werden und zusätzliche Milliarden bekommen, die im Haushalt dieses Jahres übrig bleiben.

Ob das reicht, ist unklar. Allzu viel sollte man deshalb auch nicht von einer etwaigen Steuerreform erwarten. "Gerechte Steuern sind die Basis für staatliche Handlungsfähigkeit", steht geschrieben. Und nur etwas konkreter: "Wir wollen das Steuersystem für Menschen und Unternehmen einfacher machen. Dazu wollen wir die Digitalisierung und Entbürokratisierung der Steuerverwaltung vorantreiben."

Wer hat die Macht im Kabinett?

Als Erstes natürlich der neue Bundeskanzler Olaf Scholz. Er verfügt über die "Richtlinienkompetenz". Das heißt: Können sich etwa Minister über ein Gesetzesvorhaben nicht einigen, hat er das letzte Wort. Das weiß Scholz, das weiß die SPD – auch deshalb ist die Partei einigermaßen gelassen, was die Verteilung von Posten angeht. Einen Streit, wie ihn Grüne und FDP ums Finanzministerium geführt haben, wollte sich die SPD nicht leisten.

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Die Ampel hat einen Kompromiss gefunden, wie auch FDP und Grüne über ausreichend Macht verfügen: Christian Lindner bekommt das von ihm so ersehnte Finanzressort, dafür wird Robert Habeck offiziell Vizekanzler, vertritt also im Fall der Fälle Scholz. In der politischen Praxis hat die FDP ebenfalls großen Einfluss: Der Finanzminister ist nach dem Kanzler der mit Abstand wichtigste Ressortchef. Nicht nur, weil er übers Geld wacht, sondern auch, weil er in der Europolitik ein entscheidender Spieler ist.

Die Grünen besetzen das künftige Wirtschafts- und Klimaschutzministerium. Es wird auch der von der Partei gewünschte "Klimacheck" für Gesetze eingeführt. Das ist den Grünen wichtig und könnte ein bedeutender Hebel werden. Habeck hat daher nicht nur mit seinem Vizekanzler-Posten einigen Einfluss. Über weit weniger Gestaltungsmacht dürfte hingegen die künftige Außenministerin Annalena Baerbock verfügen. Sie wird bald ein Amt innehaben, das zwar meistens für gute Zustimmungswerte sorgt, aber wenig echten Einfluss mitbringt.

Ansonsten ist die Macht im Kabinett recht ausbalanciert, etwa mit dem Verteidigungs- und dem Innenministerium für die SPD und dem Justizressort für die FDP. Ob die Grünen mit ihren sonstigen Ministerien wirklich allzu glücklich sind, ist zumindest fraglich: Weder das Landwirtschafts- noch das Familienministerium sind in der Vergangenheit als Kraftzentren aufgefallen. Das kann sich natürlich ändern.

Was sagt der Koalitionsvertrag über das Vertrauen zwischen den Partnern?

Das Sondierungspapier der drei Parteien war mit zwölf Seiten bereits länger als ursprünglich geplant. Und der eine oder andere Koalitionär hätte sich wahrscheinlich auch einen knapperen Koalitionsvertrag gewünscht: Weit über 50.000 Wörter, fast 180 Seiten haben SPD, Grüne und FDP gebraucht, um ihre Gemeinsamkeiten in Projekte zu kleiden oder Unstimmigkeiten hinter Floskeln zu verbergen. Das ist eher ein Indiz dafür, dass das Vertrauen noch nicht übermäßig groß ist. Was durchaus verständlich ist, schließlich ist es die erste Ampelkoalition auf Bundesebene.

Wohl auch deshalb brechen die drei Parteien nicht den Trend, der sich seit Langem beobachten lässt: Koalitionsverträge werden tendenziell immer länger: Union und FDP waren 1990 noch mit rund 80 Seiten ausgekommen, die Große Koalition brauchte 2017 schon mehr als doppelt so viele. Nun sind es eben noch mal ein paar Seiten mehr als vor vier Jahren.

Wie wichtig ist der beschlossene Vertrag überhaupt?

Natürlich sind Verträge wichtig. Und zumeist achten auch alle Partner darauf, dass die Projekte, die ihnen viel bedeuten, möglichst präzise hinterlegt werden, sodass man später auf ihre Umsetzung pochen kann.

Nur: Man kann sich im Leben alles Mögliche vornehmen und auch aufschreiben, allerdings hält sich das Leben eben oft nicht so recht daran. Vier Jahre sind rückblickend schnell rum, aus heutiger Sicht aber eine lange Wegstrecke. Die großen Herausforderungen der vergangenen Jahre – von der Euro- und Finanz- über die Flüchtlings- bis zur Corona-Krise – standen in keinem Koalitionsvertrag.

Und manchmal wunderten sich die Koalitionäre auch erst im Laufe der Zeit, welche Unwuchten sich aus harmlos daherkommenden Sätzen ergeben. So hatten SPD und Grüne 2005 fast schon nebenbei erwähnt, sie würden die Vorschläge der Hartz-Kommission "konsequent umsetzen".

Verwendete Quellen
  • Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP
  • Eigene Recherchen
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