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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Härtere Corona-Maßnahmen Der heimliche Triumph der Kanzlerin
Aufmüpfige Länderchefs bremsen eine übervorsichtige Kanzlerin aus: Das ist der Eindruck nach dem Corona-Gipfel. Doch er stimmt nicht. Denn Angela Merkel hat viel durchgesetzt – und ist wieder die Regisseurin.
Es war gegen 22.45 Uhr, Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten Markus Söder und Michael Müller hatten bereits eine ganze Weile über die Ergebnisse des mehr als acht Stunden dauernden Corona-Gipfels berichtet, als plötzlich die Frage im Raum stand: Wie frustriert sind Sie, Frau Merkel?
Erkundigungen nach ihrem Gemütszustand weist die Kanzlerin in der Regel zurück. Nur selten lässt sie in der Öffentlichkeit durchblicken, was gerade in ihr vorgeht. Aber es waren aus der Sitzung eben ein paar wenige Sätze herausgedrungen, die so klangen, als würde eine vernunftbegabte Erzieherin nach stundenlangem Einreden langsam an dem Tollhaufen aus 16 uneinsichtigen Kindern verzweifeln: "Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden", sagte Merkel am frühen Abend in die Runde der Ministerpräsidenten. Es reiche einfach nicht. Und etwas patzig: "Dann sitzen wir in zwei Wochen eben wieder hier.“
Im Zweifel: weiterarbeiten
Man darf davon ausgehen, dass Merkel es suboptimal fand, dass diese Sätze in die Öffentlichkeit gedrungen waren. Also musste sie nun etwas sagen. Es gebe Dinge, mit denen sie zufrieden sei. Und eben solche, an denen "man weiterarbeiten muss".
Dann folgte ihre entscheidende Botschaft, die nicht nur eine Ermahnung an die Spitzenpolitiker war, sondern an die mehr als 80 Millionen Menschen, die in Deutschland leben: "Was mich beunruhigt, ist der exponentielle Anstieg, den müssen wir stoppen, sonst wird es in kein gutes Ende führen. Das sehen wir an allen Ecken und Enden." Da brauche man nur in die Nachbarländer gucken. Und damit es auch wirklich jede und jeder versteht fügte sie hinzu: "Diesen exponentiellen Anstieg müssen wir stoppen: je schneller, desto besser."
Das klang allerdings immer noch so, als sei Merkel nicht wirklich mit den Ergebnissen zufrieden. Dabei hat sie durchaus einiges erreicht: Nicht nur, dass der Beschluss wie von ihr gewünscht alarmistisch klingt und sie viele Details durchgesetzt hat. Auch wurde mit dem gestrigen Tag so deutlich wie lange nicht mehr, dass Merkel wieder die Regisseurin der deutschen Corona-Politik ist.
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Merkel setzte nicht alle Punkte durch, aber viele
Es ging schon damit los, dass Merkel die Regierungschefs der Länder nach Monaten alle ins Kanzleramt anreisen ließ, man könnte auch sagen: zitierte. Das war ihr Signal: Es ist so ernst, dass digitale Konferenzen allein nicht mehr helfen.
Merkel präsentierte der Runde ein mehr als sechs Seiten langes Papier, das im Kanzleramt entstanden war. Eigentlich schätzen die Ministerpräsidenten es nicht, mehr oder weniger vollendete Tatsachen präsentiert zu bekommen. Umso bemerkenswerter ist es, dass Merkel zwar nicht alle Punkte durchsetzte, aber doch ziemlich viele.
Und damit auch durchaus einen Paradigmenwechsel. Künftig gibt es ein dreistufiges System, das sich allein an einer Kennzahl orientiert: Infizierte pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen, die sogenannte Inzidenz.
Erste Eskalationsstufe
Solange die Inzidenz unter 35 liegt, ändert sich nichts. Doch ab einem Wert von 35 gelten einschränkende Maßnahmen. Bei Feiern und Zusammenkünften dürfen sich nur noch 25 Menschen im öffentlichen und 15 im privaten Raum treffen. Zudem gilt eine erweiterte Maskenpflicht.
Zwar hätte Merkel noch gern ab einer Inzidenz von 35 eine verpflichtende Sperrstunde durchgesetzt – das war aber auch den linientreusten Ministerpräsidenten offenbar zu viel. Doch ein Ziel hat Merkel erreicht: frühere, deutlich weitreichendere Regeln. Entsprechend wies sie explizit darauf hin, dass sie zufrieden damit sei, dass es strengere Kontaktbeschränkungen bereits ab einer Inzidenz von 35 gibt.
Zweite Eskalationsstufe
Hinzu kommt eine Verschärfung der Regeln in den Gebieten, die bislang schon als Risikogebiet gelten. Also jene mit 50 Infektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Dort gilt ab 23 Uhr nun eine Sperrstunde. Dann darf nirgendwo mehr Alkohol verkauft werden, auch nicht in kleinen Kiosken. Die Maskenpflicht wird ausgeweitet, maximal 10 Menschen dürfen sich treffen, im privaten Raum dürfen sie sogar nur aus zwei Haushalten kommen.
Damit soll einer der wichtigsten Ursprünge für die Verbreitung des Virus eingedämmt werden: Feiern und Versammlungen gelten als besondere Infektionsherde. Bund und Länder erklärten zudem, dass ab dem Wert von 50 eine Nachverfolgung der Virusverbreitung kaum noch möglich sei. Nachdem die Kanzlerin im Sommer den Ministerpräsidenten weitgehend überlassen hatte, wie die Regeln im Einzelnen ausgestaltet werden, gibt es nun einheitliche Mindeststandards in Deutschland.
Dritte Eskalationsstufe
Die indirekte Botschaft von Merkel an die Hotspots lautet: Tut alles, damit der Anstieg von 50 Infektionen pro 100.000 Einwohnern nicht nennenswert überschritten wird. Ansonsten drohen noch schärfere Maßnahmen, wenn der Anstieg nicht innerhalb von zehn Tagen gestoppt wird.
In diesem Fall wäre mit "erheblichen Folgen für die Gesundheit von Bürgern" zu rechnen, heißt es in dem Beschluss. Konkret wurde vereinbart: Dann dürfen sich im öffentlichen Raum nur noch fünf Menschen treffen. Denkbar wäre sogar auch ein zweiter, bundesweiter Lockdown, also ähnlich harte Ausgangsbeschränkungen wie im März.
Was reicht Merkel nicht?
Absehbar ist, dass den nun verabschiedeten Regelungen kein Länderchef mehr entkommt. Weitere Verschärfungen sind wahrscheinlicher als baldige Lockerungen. Denn dass sich die Lage im aufziehenden Winter ähnlich rasch entspannt wie im Frühling, glaubt wohl niemand.
Warum also klang Merkel unzufrieden? Was reicht ihr nicht?
Den Eskalationsmechanismus hat sie zwar durchgesetzt, aber Merkel hätte sich wohl strengere Einschränkungen gewünscht. Eine Sperrstunde ab 23 Uhr erst dann, wenn eine Region schon ein Hotspot geworden ist, wenn die Lage also schon außer Kontrolle ist, erscheint im Vergleich zu Ländern wie Frankreich tatsächlich etwas unambitioniert. Dort darf von 21 bis 6 Uhr niemand mehr seine Wohnung verlassen.
Und auch bei den Feiern muss die Kanzlerin Abstriche hinnehmen. NRW, Hessen und Rheinland-Pfalz wollen nur vorschreiben, wie groß private Partys in Kneipen sein dürfen – nicht, wie groß sie zu Hause sein sollen. Auch Sachsen hält an einer älteren Regelung fest, und Niedersachsen will sich das erst noch einmal überlegen. So ist es in den Protokollerklärungen, im Kleingedruckten am Ende des Beschlusses, festgehalten. Feiern zu Hause zu begrenzen könnte rechtlich tatsächlich eher heikel sein. Und vor allem schwer zu kontrollieren. Doch es geht natürlich wie so oft in der Politik um ein Signal.
Daheim könnt ihr so wild feiern, wie ihr wollt – das ist sicher nicht das, was Merkel ausdrücken wollte.
Der größte Streit bleibt ungelöst
Und dann ist da natürlich noch das Beherbergungsverbot. Darüber wurde schon vorher tagelang gestritten. Der Zoff war so gewaltig, dass er nun vertagt wurde. Am 8. November, also nach den Herbstferien, will man die Regelung überprüfen. Mehrere Länder haben sich angesichts der massiven Kritik auch aus der Wirtschaft schon wieder von ihr verabschiedet. Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Hamburg blieben hart.
Merkel ist mit der uneinheitlichen Regelung nicht zufrieden, das sagte sie auf der Pressekonferenz sehr deutlich. Und Uneinigkeit ist auch besonders bedeutsam, weil gerade das Beherbergungsverbot alle trifft, selbst wenn nur ein Land es einführt. Ein Verbot in Mecklenburg-Vorpommern bedeutet, dass alle Reisenden aus Hotspots der anderen 15 Bundesländer dort einen negativen Corona-Test vorweisen müssen.
Was der Doktor empfiehlt
Ein Erfolg also – oder doch zu wenig? Markus Söder formulierte es im Anschluss so: "Ob das reicht, ist meiner Meinung nach offen." In der Runde selbst hatte er laut Teilnehmern ähnlich wie Merkel mit Nachsitzen gedroht: Die Frage sei nur, ob rechtzeitig gehandelt werde, "denn sonst sitzen wir in zehn Tagen eh wieder hier".
Im Zweifel müssen sich eben alle Bürger an das halten, was der Herr Doktor vorgibt. Jeder solle nicht nur fragen: "Was darf ich jetzt?", sagte der Arzt und Kanzleramtschef Helge Braun am Donnerstag im "ARD"-Morgenmagazin. "Sondern wir müssen im Grunde genommen alle mehr machen und vorsichtiger sein als das, was die Ministerpräsidenten gestern beschlossen haben."
Das heißt eben auch: Wenn die Bürger nicht mitspielen, wird die Medizin immer bitterer.
- Eigene Recherche
- Mit Infos der Nachrichtenagentur dpa