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Digitalisierung in Deutschland: Wir verschlafen die Zukunft – fatale Folgen


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Stillstand in Deutschland
Wir verschlafen die Zukunft – mit fatalen Folgen

MeinungVon Sven Böll

Aktualisiert am 26.08.2020Lesedauer: 6 Min.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kanzleramtschef Helge Braun.Vergrößern des Bildes
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Kanzleramtschef Helge Braun. (Quelle: imago-images-bilder)
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Es stimmt ja: Deutschland ist bislang gut durch die Corona-Krise gekommen. Dennoch verpassen wir gerade einmal mehr die Chance, unser Land endlich zu modernisieren – mit einer Mischung aus Unwillen und Unfähigkeit.

Wenn Angela Merkel am Donnerstag mit den Ministerpräsidenten darüber spricht, wie es mit den Corona-Beschränkungen weitergeht, wird es um allerlei Fragen gehen: Wie viele Gäste dürfen auf einer privaten Party dabei sein? Wie lange sollen Reiserückkehrer in Quarantäne? Welche Strafe müssen Maskenverweigerer zahlen?

Das sind zweifellos wichtige Fragen.

Allerdings drängen sich zunehmend auch andere, mindestens genauso wichtige, Fragen auf. Sie wird aber wohl auch dieses Mal niemand stellen. Was auch daran liegt, dass die Antworten äußerst unangenehm für die Beteiligten wären.


Denn ein halbes Jahr, nachdem die Pandemie voll in Deutschland angekommen ist, müsste die Runde der 17 Regierungschefs aus Bund und Ländern konstatieren, dass der digitale Fortschritt weiter auf sich warten lässt. Die bittere Erkenntnis im Spätsommer 2020 lautet: Offenbar reicht nicht einmal der Druck der schwersten ökonomischen und gesellschaftlichen Krise seit Jahrzehnten, damit Deutschland endlich den Ausbruch aus Analogistan wagt.

Es geht hier nicht darum, Politiker pauschal zu kritisieren. Vielmehr soll es um Fragen gehen, auf die man als Bürger wirklich gern eine plausible Antwort hätte. Weil es – so pathetisch das klingen mag – um unser aller Zukunft geht. Also auch darum, ob wir den Lebensstandard halten können.

Wenn wir weiter 20. Jahrhundert spielen, wird uns das jedoch nicht gelingen. Und danach sieht es leider aus, wenn man nur drei der vielen "Warum noch immer nicht"-Fragen stellt.

Warum kann noch immer nicht jede Schule jederzeit auf digitalen Unterricht umstellen?

Es ist eine Meldung aus der Tagesschau: "Führende Unternehmen fordern eine schnellere und flächendeckende Verbreitung von Internetanschlüssen in Deutschland", sagt der Sprecher. In einer Studie hätten sie darauf hingewiesen, dass Menschen ohne Internet-Zugang deutliche Nachteile in der Ausbildung hätten.

Tja, zu sehen ist diese Nachricht nicht im aktuellen Archiv der Sendung, sondern in der Rubrik "Tagesschau vor 20 Jahren". Die Forderung nach einer konsequenteren Digitalisierung und der Verweis auf die sozialen Folgen stammt vom 24. August 2000.

Lang, sehr lang, ist's her.

Deshalb war es bereits im Frühjahr 2020 unverständlich, dass die meisten Schulen immer noch keinen Plan für digitalen Unterricht hatten. Und es vom Engagement eines Lehrers abhing, ob die Schüler in den Wochen der Schließung vernünftig unterrichtet wurden oder nicht.

Vor einem halben Jahr bestand allerdings die vage Hoffnung, dass es den Schulen angesichts des Corona-Schocks gelingen würde, in den folgenden Monaten nachzuholen, was sie in den Jahren davor verpasst haben. Zumindest ansatzweise.

Nun, da die Sommerferien fast überall vorbei sind, lässt sich bilanzieren: Diese Hoffnung war hochgradig naiv.

Den Bundesländern ist Stillstand in der Bildungspolitik noch immer wichtiger als Aufbruch: Sie sind selbst kaum bereit (und viele wohl auch operativ nicht in der Lage), massiv in die Digitalisierung zu investieren. Aber wenn der Bund Milliarden bereitstellen will, ist es auch nicht recht. Die Folge: Defizite überall. Zu wenige Schüler, deren Eltern es nicht bezahlen können oder wollen, haben einen Laptop oder ein Tablet zu Hause. Zu viele Lehrer haben keine Fortbildung im digitalen Unterrichten bekommen. Die wenigsten Länder verfügen über funktionierende Lernplattformen.

Wenn Du im Kleinen scheiterst, versuche doch einfach das ganz Große – nach diesem Motto hat der Koalitionsausschuss aus Union und SPD am Dienstag eine "digitale Bildungsoffensive" beschlossen. Es soll eine bundesweite Bildungsplattform geben, die nicht nur für die Schulen, sondern auch für die Weiter- und die Erwachsenenbildung genutzt werden kann. Erste Zwischenergebnisse wird es wahrscheinlich erst in ein paar Jahren geben. Wenn überhaupt. Schließlich ist bereits der Versuch des Bundes gescheitert, nur für die Schulen eine nationale Lernplattform aufzubauen.

Die Digitalisierung der Schulen kommt auch deshalb nicht voran, weil die gesamte Verwaltung in der Vergangenheit feststeckt. Die Corona-Krise wäre insgesamt die Chance für einen breit angelegten Aufbruch im öffentlichen Dienst gewesen. Aber der blieb selbst dort aus, wo die Bundesfaxrepublik Deutschland dringender denn je auf moderne Technologie angewiesen wäre.

Warum stammen die aktuellsten Corona-Daten noch immer von einer US-Universität?

Seit das Robert-Koch-Institut (RKI) Anfang Mai seine regelmäßigen Pressekonferenzen eingestellt hat, begnügt sich die Behörde damit, in den Morgenstunden eines jeden Tages die Zahl der Neuinfizierten und Genesenen in einem Dashboard zu aktualisieren und abends einen ausführlicheren Situationsbericht auf der Webseite zu veröffentlichen.

Sowohl das Corona-Dashboard als auch die PDF-Berichte haben sich seit Beginn der Pandemie weder inhaltlich noch optisch erkennbar verändert. Beide kommen weitgehend mit dem Farbspektrum realsozialistischer Staaten aus, die Grafiken dürften in ähnlicher Form bereits unter Windows 95 möglich gewesen sein. Und was die Geschwindigkeit der Arbeit des Instituts angeht, würde wohl niemand behaupten, Schnelligkeit gehe vor Gründlichkeit.

Es scheint weder RKI-Präsident Lothar Wieler noch Gesundheitsminister Jens Spahn zu stören, dass die aktuellsten Zahlen der Corona-Infizierten in Deutschland noch immer von einer US-Universität veröffentlicht werden. Die wiederum erhält ihre Zahlen indirekt auch von vielen Freiwilligen, die in Deutschland fortlaufend die Daten zusammentragen.

Das ist der viertgrößten Volkswirtschaft, die die Welt mit ihren Autos und Maschinen beglückt, unwürdig. Vielleicht wäre es ein inhaltlicher und optischer Anfang, wenn der deutsche Gesundheitsminister freundlich bei seinem Kollegen aus Singapur anfragt, ob er das bessere Dashboard des Stadtstaats kopieren darf.

Und sich gleich im Anschluss mit seinen Kollegen aus den Bundesländern kurzschließt, wie eine zeitgemäße Pandemiebekämpfung aussieht. Zum Auftakt könnte Harald Michels aus dem Alltag berichten. Der Leiter des Gesundheitsamtes Trier erklärte kürzlich im ZDF, warum die Mitarbeiter damit überfordert sind, die positiv Getesteten rasch zu informieren, wenn Tausende Befunde auf einmal kommen. Die Befunde kämen per Fax rein, so Michels. "Und die haben alle den gleichen Dateinamen: 'Telefax.pdf'". Sie müssten alle geöffnet und unter dem Namen der betroffenen Patienten abgespeichert werden, um Verwechslungen zu vermeiden. Seine Forderung: Es sei dringend notwendig, das elektronische Melde- und Informationssystem "mal auf Vordermann zu bringen".

Man möchte Herrn Michels zurufen: "Seien Sie doch bitte nicht so bescheiden!" Schließlich müssen wir die gesamte Verwaltung auf Vordermann bringen.

Es reicht allerdings nicht, wenn sich die Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes hinterfragen. Auch alle anderen Bürger müssen es tun. Denn das deutsche Verhältnis zum Datenschutz mutet zusehends bizarr an.

Warum haben wir noch immer kein rationaleres Verhältnis zum Datenschutz gefunden?

Die Corona-Warn-App war die große Hoffnung für die Nachverfolgung der Infektionsketten – so lange es sie noch nicht gab. Inzwischen ist sie seit mehr als zwei Monaten auf dem Markt, und es ist verdächtig ruhig um das vermeintliche Wunderwerkzeug geworden.

17,5 Millionen Mal wurde die App inzwischen heruntergeladen. Sofern hinter jedem Download tatsächlich immer ein anderer Smartphone-Besitzer steckt und sofern bei allen das Programm auch tatsächlich läuft, nutzen rund 20 Prozent der Bürger sie. Das ist nicht nichts, aber auch nicht gerade ein Riesenerfolg.

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Ein Grund für die geringe Bereitschaft mag darin bestehen, dass sich selbst vielen Nutzern, die von Anfang an dabei sind, auch Wochen später die Funktionsweise der App noch immer nicht wirklich erschließt. Aber es wäre zu einfach, nur auf die Regierung und die Entwickler zu zeigen.

Ein mindestens genauso wichtiger Grund dürfte im zunehmend merkwürdig anmutenden Verhältnis der Deutschen zum Datenschutz bestehen. Die allermeisten besitzen ein Smartphone. Und die wenigsten haben ein Problem damit, dass Facebook-Chef Mark Zuckerberg und Apple-Chef Tim Cook mehr über sie wissen, als sie selbst. Wenn allerdings Angela Merkel oder Jens Spahn in der schwersten Gesundheitskrise seit einem Jahrhundert (theoretisch) erfahren könnten, wer sich wo aufgehalten hat, gilt das als größtmöglicher Skandal.

Es geht nicht darum, den Datenschutz zu schleifen. Er ist ein hohes Gut. Nur ist es nicht rational, dass wir Unternehmen fast alles durchgehen lassen, der Regierung aber nahezu nichts. Schließlich sind Zuckerberg und Cook längst viel mächtiger als Merkel und Spahn. Entsprechend ist das Missbrauchspotenzial erheblich.

Es muss in Deutschland auch nicht gleich eine Pflicht zum Download einer Regierungstechnologie geben. Aber die Frage, warum es keine weit verbreitete App gibt, mit der man sich im Restaurant, bei einer Veranstaltung oder nach der Rückkehr aus einem Risikogebiet registriert, sollte man schon noch stellen dürfen. Zumal die das Leben in der Krise insgesamt erleichtern könnte. Etwa, weil die Gesundheitsämter weniger herumtelefonieren müssten. Und Wissenschaftler vielleicht zusätzliche Erkenntnisse über die Verbreitung des Virus gewännen.

Das waren nur drei dringende Fragen, auf die es möglichst bald eine nachvollziehbare Antwort geben sollte – und anschließend bitte nicht Aktionismus, sondern zielführende Taten.

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