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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Mehrheit bei Migration mithilfe der AfD? Er spielt mit dem Feuer
Nach der Messerattacke in Aschaffenburg will die Union Anträge zu Migration in den Bundestag einbringen. Kanzlerkandidat Merz weiß, dass er dabei eine potenzielle Mehrheit mithilfe der AfD riskiert.
Am Donnerstagabend, gegen 22 Uhr, passiert in einer Telefonschalte der CDU-Spitze etwas Historisches. Friedrich Merz ergreift als Erster das Wort: In der kommenden Woche werde die Unionsfraktion umfassende Anträge zu Migrations- und Flüchtlingspolitik in den Bundestag einbringen. Man werde dann in der Mitte des Parlaments, also bei SPD, Grünen und FDP, für eine Mehrheit werben. Aber: Die Union werde am Ende keine Rücksicht darauf nehmen, wer mitstimmt.
Ein Manöver, von dem man bislang abgesehen hatte. Zu groß war die Sorge, es könnte bei einer Abstimmung eine Mehrheit mithilfe der AfD zustande kommen. Auch Merz hatte Mehrheiten, die nur gemeinsam mit der AfD entstehen können, lange ausgeschlossen.
Bis jetzt. Denn nachdem am Mittwoch in Aschaffenburg ein ausreisepflichtiger Afghane zwei Personen, eine davon ein Kleinkind, mit einem Messer getötet hat, reicht es dem CDU-Vorsitzenden. Merz ist überzeugt, das Thema Migration könne nicht mehr bis nach der Bundestagswahl warten. Er will jetzt handeln. Also sagt er den Mitgliedern seines Präsidiums: "Es ist mir völlig egal, wer sonst noch mitmacht." Er geht, so sagt Merz es selbst, "All in".
Migrations-Antrag im Bundestag: Nur mit welcher Mehrheit?
Für Merz könnte es ein entscheidender Wendepunkt sein. Wie das ausgeht? Völlig offen. Denn: Spätestens seit Mittwoch ist innerhalb der Union klar, dass das entscheidende Thema in der letzten Wahlkampfphase die Migration sein wird. Merz weiß hier um das Glaubwürdigkeitsproblem, das nicht nur seine Partei hat. Er weiß auch, dass Wahlkampfversprechen alleine nicht mehr ausreichen. Also versucht er es auf anderem Wege. Der Parteivorsitzende will zeigen, dass CDU und CSU schon jetzt handlungsfähig sind. Er will zeigen, dass die Union, so würde es sein Generalsekretär Carsten Linnemann wohl sagen, "einfach mal macht", statt nur zu versprechen.
Der Hebel dafür: Die Union kann in der kommenden Sitzungswoche nach wie vor Anträge, auch zur Migrationspolitik, in den Bundestag einbringen, über die dann abgestimmt wird. Und genau das ist der Plan: Noch an diesem Freitag sollen die Fraktionen von SPD, Grünen und FPD dafür einen ersten Entwurf zugeschickt bekommen.
Theoretisch wären dann unterschiedliche Konstellationen für eine Mehrheit möglich: CDU/CSU und SPD etwa, oder CDU/CSU, Grüne und FDP. Wenn sich zwischen den vier Fraktionen jedoch kein Kompromiss finden lässt, gäbe es auch noch eine andere Möglichkeit: eine Mehrheit aus der Union, der FDP, dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) und der AfD.
Es ist ein Risiko, das der CDU-Vorsitzende bereit ist, in Kauf zu nehmen.
Merz' Kalkül: Druck auf SPD, Grüne und FDP
Am Freitagmorgen bekräftigt Merz in Berlin: "Wer diesen Anträgen zustimmen will, der soll zustimmen. Und wer sie ablehnt, der soll sie ablehnen. Ich gucke nicht rechts und nicht links, ich gucke in diesen Fragen nur geradeaus." Mit Blick auf den Messerangriff in Aschaffenburg ergänzt er: "Jetzt liegt ein kleines Kind demnächst auf dem Friedhof, und deswegen sage ich es hier noch mal: Jetzt ist Schluss mit irgendwelchen taktischen Spielchen." Es ist die klare Ansage, dass die Union den Antrag in jedem Fall einbringen wird. Zumal der Kanzlerkandidat Merz damit auch öffentlich Druck auf SPD, Grüne und FDP macht, zuzustimmen, damit eine Mehrheit ohne die AfD zustande kommt.
Dabei hatte Merz SPD und Grünen noch vor wenigen Wochen im Plenum während einer Rede vorgeschlagen, nur noch die Entscheidungen auf die Tagesordnung zu setzen, über die man sich zuvor geeinigt habe. So werde in jedem Fall eine "zufällige oder tatsächlich herbeigeführte Mehrheit" mit der AfD verhindert.
Bei der AfD selbst hatte der CDU-Chef damit reichlich Ärger erregt. Umso größer scheint jetzt die Freude zu sein. AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel frohlockte am Freitag auf der Plattform X: "Die Brandmauer ist gefallen!" In den sozialen Medien zeigen sich zahlreiche weitere erleichtert, teilweise fast euphorisch. Dafür gibt es durchaus Gründe. Denn sollte die Union den Antrag am Ende einbringen und mithilfe der AfD eine Mehrheit erzwingen, könnte der Partei das so kurz vor der Wahl nutzen.
Weidel hatte Merz noch am Donnerstag einen offenen Brief geschrieben, in dem die AfD-Chefin dem CDU-Vorsitzenden eine Zusammenarbeit beim Thema Migration anbot. Nun bekräftigt Merz zwar, es gebe weiterhin keinerlei Zusammenarbeit oder Absprachen mit der AfD. Klar ist aber auch: Stellt die Union einen Antrag, in dem Wissen, dass er nur mit Stimmen der AfD eine Mehrheit findet, öffnet sie damit eine Tür. Die Union hat in der Vergangenheit immer wieder in aller Klarheit abgelehnt, Mehrheiten mit der AfD herbeizuführen. Zumindest dieser Teil der – wenn man sie so nennen mag – Brandmauer scheint damit gefallen zu sein.
- Eigene Recherche