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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ampel-Streit während Indien-Reise Der Knall war programmiert
Während Scholz und seine Minister in Indien auf Reisen sind, erweckt die Ampel zu Hause mal wieder den Eindruck, sie sei kurz davor auseinanderzufliegen. Am Ende kann die Sache noch länger gehen als man denkt.
Seit einer ganzen Weile trägt Olaf Scholz etwas mit sich herum. An seiner linken Hand hat sich unter dem Daumennagel eine schwarze Stelle gebildet. Weil der Kanzler sich im Urlaub die Hand in einer Hoteltür eingeklemmt hat. Sowas tut nicht nur weh, sondern sieht auch blöd aus. Und das jetzt schon eine ganze Weile. Erst war es nur ein bisschen türkis, fast noch ganz hübsch, dann wurde es langsam lila. Jetzt ist der Nagel schwarz.
Müsste man sich die Ampel als eine Verletzung vorstellen, sie sähe wohl so aus wie der Daumen des Kanzlers. Am Anfang war es noch gar nicht so schlimm. Hier und da kleine politische Spitzen unter Koalitionspartnern. Irgendwann wurde es immer dunkler – und jetzt ist es schwarz. Immerhin, der Schmerz ist weg, aber schön ist es nicht.
Gute Beziehungen – nur nicht zu Hause
In diesen Tagen fragen sich die Deutschen zum x-ten Mal, ob die Ampel zerbricht. Während der Bundeskanzler und eine ganze Reihe von Ministerinnen und Ministern die vergangenen Tage in Indien versucht haben, die Beziehungen zum bevölkerungsreichsten Land der Welt auszubauen, scheint man zu Hause schon wieder kurz vor der Trennung zu stehen.
Es ist so: Bei der vergangenen Regierungserklärung im Deutschen Bundestag hat der Kanzler eine industriepolitische Offensive angekündigt. Noch vor Ende des Monats wolle er Unternehmensvertreter, Gewerkschaften und Verbände zu einem Industriegipfel ins Kanzleramt einladen. Klingt erst mal nach keiner ganz schlechten Idee. Schließlich ist man in den Unternehmen sehr besorgt um die eigene Wettbewerbsfähigkeit. Die Regierung rechnet damit, dass die Wirtschaft im zweiten Jahr in Folge schrumpft. Auch der Internationale Währungsfonds hat seine Prognose für dieses Jahr noch einmal nach unten korrigiert und erwartet für Deutschland in 2024 ein Nullwachstum. Sich mit denen zu treffen, die davon betroffen sind, um zu überlegen, wie man gegensteuern kann, ergibt Sinn.
Nur, sind bei dem Thema nicht auch der Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und der Finanzminister Christian Lindner (FDP) entscheidend und vielleicht sogar zuständig? Das fand Scholz offenbar nicht. Jedenfalls entschied der Kanzler, dass es reichte, die beiden erst kurz vor der Regierungserklärung über seine Pläne zu informieren. Eine Teilnahme der zwei an den Gesprächen? Tut offenbar nicht Not. Stattdessen sagt Scholz im Plenum: "Das, was dabei rauskommt, werde ich diesem Parlament vorschlagen, auch auf den Weg zu bringen, damit es vorangeht in Deutschland."
Der Knall war programmiert – und ließ nicht lange auf sich warten. In der Ampel brach unmittelbar ein Wettrennen um Maßnahmen gegen die angespannte Wirtschaftslage aus.
Was du kannst, kann ich auch – Habecks Wirtschaftsagenda
Wenige Tage nach Scholz schlägt Wirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck eine Agenda zur Belebung der deutschen Wirtschaft vor. Sie trägt den Titel "Update für die Wirtschaft – Impuls für eine Modernisierungsagenda". Bund und Länder sollen demnach etwa gemeinsame Fonds auflegen, um damit Investitionen anzureizen und eine Modernisierung der Infrastruktur zu ermöglichen. So sollen dem Staat finanzielle Spielräume über die Schuldenbremse hinaus ermöglicht werden. Die nennt Habeck eine "Investitions- und Wachstumsbremse".
Das Volumen, das der Fonds haben müsste, nennt Habeck zwar nicht konkret. Klar ist aber: Ohne weit mehr Schulden ließe er sich kaum füllen. Also die Schuldenbremse reformieren? Oder ein neues Sondervermögen auflegen und im Grundgesetz verankern? Es sind Grundsatzfragen, die mit seiner Idee einhergehen. Fragen, die eine Regierung in der Regel erst intern bespricht. Nun ist man sich in Wirtschaftsministerium und Kanzleramt uneins darüber, wann genau Scholz' Leute informiert worden seien. In jedem Fall hat man auch hier auf einen extrem knappen Zeitraum gesetzt. Der "Deutschlandfonds" ist damit ein ziemlicher Tritt vor das Schienbein des Kanzlers – und vor das von Christian Lindner.
Hinzu kommt, dass der Wirtschaftsminister zunächst in einer Pressemitteilung am Mittwoch erklärt, er wolle seine Vorschläge nun an Verbände von Start-ups, Handwerk, Mittelstand, Industrie sowie Gewerkschaften und Ökonomen senden, um sich anschließend "zu einem vertieften Austausch Ende November" zu treffen. In Indien hingegen beteuert Habeck, er habe ein Papier zur Vorbereitung auf die Gespräche im Kanzleramt geschrieben. Wer die beiden Politiker in Neu-Delhi beobachtet, erkennt an Auftritt und Körpersprache schnell, dass die Stimmung im Keller ist.
Hat hier jemand drei Mal Theater bestellt?
Rund 12.000 Kilometer entfernt beschließt Christian Lindner derweil auch noch etwas in die Waagschale zu werfen. Weil, warum nicht? Aber nicht, bevor er die Vorschläge seines Kabinettskollegen noch einmal schön zerlegt hat. Den Vorstoß von Habeck nennt Lindner "konzeptionelle Hilflosigkeit". Und um Scholz gleich auch noch einen mitzugeben, plädiert der Finanzminister stattdessen wieder für Kürzungen, zum Beispiel beim Bürgergeld.
Dann verkündet Lindner, er werde ebenfalls zu einem Gipfel einladen. Wenn Scholz am kommenden Dienstagnachmittag Vertreter von Industrie und Gewerkschaften im Kanzleramt empfängt, treffen Lindner und die FDP-Fraktion im Bundestag Spitzenvertreter von Wirtschaftsverbänden, die nicht ins Kanzleramt geladen sind, etwa den Zentralverband des Deutschen Handwerks. Die Gegenveranstaltung hat anschließend sogar eine eigene Pressekonferenz. Als Habeck am Freitag in Neu-Delhi gefragt wird, ob er nicht doch auch einen Gipfel planen wolle, antwortet der provokant: "Ich selbst werde keinen Gipfel machen, der Gipfel ist meine Arbeit." Sein Papier sei "ein Impuls für den Gipfel des Kanzlers" gewesen, so Habeck, er wolle in seiner Rolle "als Anwalt der Wirtschaft" zum Gelingen des Treffens beitragen.
Es ist ein gehöriges wirtschaftspolitisches Gezanke, das die drei Ampelpolitiker da präsentieren. Scholz, der eigentlich nie aus der Haut fährt, reicht es am Samstagabend. Bei einem Pressestatement sagt er angesprochen auf die Frage, was da schon wieder los sei: "Wir müssen wegkommen von den Theaterbühnen." Bisherige Formate zur Belebung der Wirtschaft seien oft Showveranstaltungen gewesen. Er aber wolle sich in vertraulicher Runde mit Industrievertretern und Gewerkschaftern zusammensetzen. Und zur "vertraulichen Runde" gehören in dem Zusammenhang offenbar weder Habeck noch Lindner.
Warum der Haushalt nicht wirklich entscheidet, ob die Ampel platzt
Man darf sich bei all dem Heckmeck fragen, ob jetzt nicht wirklich ein neuer Tiefpunkt erreicht ist. Ob einer der Koalitionäre, vermutlich die FDP, nicht doch ihre Konsequenzen aus dem scheinbar irreparablen Verhältnis zieht – und aussteigt. Dann könnte es zum Beispiel auf Neuwahlen im Frühjahr hinauslaufen.
Der Haushalt, den der Bundestag bis zum 14. November fertiggestellt haben soll, wird dabei eine wichtige Rolle spielen. Lindner hatte bereits angedeutet, dass er nur, wenn es gelingt, einen stabilen Etat auf die Beine zu stellen, weitermacht. Nur, was ist heute schon "stabil"? Derzeit ist die globale Minderausgabe noch zu hoch. Das ist Geld, das aktuell im Haushalt fehlt, was aber über mögliche Einsparungen, die sich ergeben, oder durch Mehreinnahmen ausgeglichen wird. Um diese zu senken, drängt Lindner aufs Sparen, etwa beim Bürgergeld. Außerdem sollen die Milliarden, die für den Bau einer Chipfabrik von Intel bei Magdeburg vorgesehen sind, die aber nicht akut benötigt werden, aus dem Klima- und Transformationsfonds in den Haushalt fließen.
Aus Ampel-Kreisen heißt es, man sei überzeugt, beim Haushalt noch irgendwie auf einen Nenner kommen zu können. Auch könnte man die globale Minderausgabe noch so weit senken, dass es für die FDP schwer wäre, einen Koalitionsbruch zu rechtfertigen. Was aber, wenn es gar nicht wirklich am Haushalt hängt? Womöglich sind es am Ende die geplanten Maßnahmen für die Wirtschaft, die nicht weitreichend genug sind. Oder noch etwas ganz anderes. Erfahrungen zeigen, dass das in der Ampel ganz schnell gehen kann. Eins, zwei, drei – und schon ist Theater. Einen Grund zu gehen, findet man fast immer. Lindner muss sich vielmehr die Frage stellen, ob das Zuspruch-Potenzial, was er durch den Bruch der Koalition bei Wählerinnen und Wählern sieht, groß genug ist. Oder ob sich das nicht doch negativ auf die Werte der FDP auswirken wird. Bei Neuwahlen droht der Partei Umfragen zufolge, Stand jetzt, die außerparlamentarische Opposition.
Scholz, Habeck und Lindner im längsten Wahlkampf aller Zeiten
Wenn es nur darum geht, sich von der Ampel abzusetzen, passiert das ohnehin gerade schon auf allen drei Seiten. Noch nie hat ein Wahlkampf so früh begonnen wie dieses Mal, fast ein Jahr vor der nächsten regulären Bundestagswahl. Selbst der Kanzler hat offenbar den Modus gewechselt. Aus dem "Lasst mich mal machen" und "Ihr werdet schon sehen" ist mittlerweile ein "Seht her, ich kümmere mich" geworden. Zum Beispiel, wenn Scholz alleine einen Industriegipfel im Kanzleramt ausrichtet, um anschließend Maßnahmen im Bundestag vorzuschlagen, "damit es vorangeht in Deutschland". Er will damit zeigen, dass er das Thema zur Chefsache macht. Nur eben, ohne das Team einzubinden. Wie das am Ende ausgehen wird, ist fast vorhersehbar: nicht gut.
Die Ampel hat bei aller Kritik seit ihrem Amtsantritt auch viel in Bewegung gesetzt. Migrationspolitisch ist es weit mehr als Angela Merkel und Horst Seehofer ihrer Zeit zustande brachten, aber auch gesellschafts- oder familienpolitisch. Hinzu kommt, dass es der zu zwei Dritteln unerfahrenen Regierung im Februar 2022 erst einmal gelungen ist, die notwendige Ruhe zu bewahren. Zwar sollte der russische Angriffskrieg später noch zu einem der größten Problembereiter für die Ampel werden, im ersten Moment ist es ihnen jedoch gelungen, das Land durch die Krise zu steuern. Die Lichter blieben an, die Eskalation aus. Die Zustimmungswerte im Frühjahr 2022 spiegelten das.
An diesem Wochenende, zweieinhalb Jahre später, scheint davon in der öffentlichen Wahrnehmung kaum etwas übrig geblieben zu sein. Was auch mit äußeren Umständen, vor allem aber mit der Kommunikation der drei Parteien zu tun hat. Jetzt noch ein Jahr im Kampfmodus zu verbringen, wird die Sache nicht besser machen. SPD, Grüne und FDP müssen sich entscheiden, ob sie den Schalter noch einmal umlegen wollen. Wenn nicht, ist es wie mit dem schwarzen Daumennagel: Er wächst von Monat zu Monat weiter raus. Und irgendwann ist er weg. Man ärgert sich dann vielleicht noch, dass es so lange gedauert hat.
- Eigene Recherche