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Grünen-Politiker Erik Marquardt zu Migration: "Das ist absurd"


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Deutschlands Migrationspolitik
"Es ist absurd"

  • Johannes Bebermeier
InterviewVon Johannes Bebermeier

02.10.2024Lesedauer: 8 Min.
Nahostkonflikt - RmeilehVergrößern des Bildes
Eine Familie auf der Flucht (Archivbild): Wie könnte Deutschland zu einer besseren Migrationspolitik kommen? (Quelle: Marwan Naamani/dpa/dpa-bilder)

Die Migrationspolitik in Europa funktioniert nicht, die Debatte ist aufgeheizt und führt zu zweifelhaften Lösungen. Wie könnte es besser werden?

Über wenige Themen debattiert Deutschland seit Jahren so ausführlich wie über die Migration. Trotzdem scheint nur selten jemand mal wirklich mit den politischen Lösungen zufrieden zu sein. Selbst die handelnden Politiker oft nicht. Die Fronten in der Debatte sind verhärtet.

Erik Marquardt, 36 Jahre alt, beschäftigt sich seit 2015 mit Migration und Asyl. Er hat die Fluchtrouten nach Europa zunächst als Fotojournalist bereist und macht seit 2019 im Europäischen Parlament als Abgeordneter für die Grünen Asylpolitik.

Wie kommen wir zu einer Migrationspolitik, die besser funktioniert? Darüber spricht Marquardt im Interview mit t-online. Er sagt: "Wir können immer wieder gegen die gleiche Wand laufen. Dann werden wir aber nur dümmer."

t-online: Herr Marquardt, gibt es in Deutschland ein Problem mit Migration?

Erik Marquardt: Es gibt ein großes Problem mit Migration. Politisch ist das Problem, dass wir seit mehreren Jahren eine Diskussion führen, die völlig von den Problemen entkoppelt stattfindet. Und damit auch von möglichen Lösungen. Wir diskutieren falsch über Migration und Asyl.

Was bedeutet das konkret? Die Zahl der in Deutschland lebenden Flüchtlinge hat kürzlich mit 3,48 Millionen einen neuen Höchststand erreicht. Es gibt Kommunen, die darüber klagen, es nicht mehr zu schaffen. Muss die Politik darauf hinarbeiten, dass weniger Asylsuchende ankommen?

Natürlich. Das Ziel der Politik muss sein, dass möglichst wenig Menschen auf der Welt nach Europa und nach Deutschland fliehen. Die Frage ist nur, wie wir das hinbekommen – und welcher Denkschule wir dabei angehören wollen.

Welche stehen zur Auswahl?

Liberale Demokratien sagen eigentlich: Wir wollen Ursachen bekämpfen, eine faire Verteilung mit unseren Verbündeten und die Fluchtmigration in rechtsstaatlichen Verfahren gut organisieren. Es braucht gesellschaftlichen Zusammenhalt und gute Integration. Die anderen sagen: Wir wollen mit autoritären Maßnahmen verhindern, dass Menschen nach Europa fliehen können. Recht des Stärkeren? Stärke des Rechts? Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit? Egal, Hauptsache weg.

Ein Einwand lautet: Wir können nicht allen helfen, ohne unsere liberalen Demokratien zu überfordern.

Allen helfen müssen wir ohnehin nicht, weil gar nicht alle zu uns wollen. Wenn wir nur in Horrorszenarien denken oder sprechen, wird das keine vernünftige Politik. Aber im Moment sind es in zu vielen Kommunen zu viele Menschen für die vorhandenen Integrationsstrukturen, das ist richtig. Die Frage ist aber: Wie ändern wir das wirklich?

Das heißt?

In der Migrationsdebatte wird inzwischen von vielen der Eindruck erweckt, man könne mit einfachen Maßnahmen eine ganz andere Welt bauen, in der Deutschland keine Probleme mehr hätte. Das stimmt nur leider nicht, es lenkt von der echten Mammutaufgabe ab. Und es gibt den Leuten Auftrieb, die nie selbst gestalten müssen, die eigentlich gar keine Lösungen wollen. Mit dem Nachahmen der falschen populistischen Antworten kapitulieren demokratische Parteien vor den Rechtspopulisten. Es wäre jetzt an der Zeit, die weiße Fahne einzupacken und zu kämpfen.

Was also tun angesichts der Mammutaufgabe?

Es ist erst einmal wichtig, dafür zu werben, dass wir den Weg liberaler Demokratien gehen wollen. Weil liberale Demokratien große Vorteile haben, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit zum Beispiel. Oder dass sich jeder Mensch hier vor Gerichten gegen Willkür des Staates wehren kann. Es wurde zu wenig begründet, warum Demokratien nicht perfekt, aber der bestmögliche Weg sind, und das ist ein Problem. Wir müssen aber auch ehrlich eingestehen: Rechtsstaatlichkeit bedeutet dann auch Zumutungen. Nicht jeder Mensch hat ein Recht auf Asyl, aber das wird in rechtsstaatlichen Verfahren geklärt und nicht mit dem Knüppel. Praktisch lassen sich viele Vorschläge wie ein Aufnahmestopp nur mit Knüppeln durchsetzen. Das ist mir etwas zu mittelalterlich.

Sagen Sie damit: Weniger Härte, mehr Menschenrechte?

Nein, ich sage: Wir müssen aufhören, in falschen Gegensätzen zu diskutieren. Die einen behaupten, wer immer über Menschenrechte spricht, der ist naiv, weil das zu Chaos führt. Die anderen sagen, wer darüber spricht, Migration besser steuern zu wollen, der will die komplette Abschottung. Wir haben uns da in eine sehr ungesunde Diskussion hineingebrüllt. Das Grundkonzept müsste lauten: Die allermeisten Menschen wollen Teil einer offenen Gesellschaft werden, das müssen wir mit aller Tatkraft unterstützen. Andere sind Feinde unserer Werte und Regeln und so was akzeptieren wir nicht länger. Das müssen wir schaffen, aber zu der Diskussion darüber kommen wir gar nicht mehr.

Können Sie ein Beispiel geben?

Wir haben ein Problem mit nicht-integrierten jungen Männern, die Straftaten begehen. Das können Jugendliche aus Syrien oder Tunesien sein, es können aber auch rechtsradikale Deutsche sein – egal. Dem müssen wir uns natürlich widmen. Da können wir über härtere Strafen und Sanktionen reden. Oder wir können darüber reden, wie wir die Prävention verbessern oder die Erziehung. Das ist eine konstruktive Diskussion, in der die demokratischen Parteien über die beste Lösung streiten können und sollen.

Aber?

Gerade läuft es oft anders. Die diskutierte Lösung ist völlig entkoppelt vom eigentlichen Problem. Nach dem Muster: Wir haben Probleme mit nicht-integrierten männlichen Jugendgruppen? Dann brauchen wir Asylverfahren in Drittstaaten, Grenzschließungen oder Kürzungen im Sozialen. Klimaerwärmung? Kühlschränke auf!

Aber es geht ja auch immer um die konkreten Werkzeuge: Sind Abschiebungen für Sie ein Teil der Lösung?

Wenn das Asylrecht funktionieren soll, dann muss es in allen Teilen rechtsstaatlich funktionieren. Dazu gehören auch Rückführungen. Es geht mir nicht darum, sich Sorgen darüber zu machen, ob ein islamistischer Terrorist wirklich nach Bulgarien abgeschoben werden darf. Eher darum, wie er möglichst keine Gefahr mehr für Menschen sein kann. Aber Abschiebungen treffen auch oft die Falschen, weil sie in großem Stil als populistisches Symbol missbraucht werden.

Ihr Parteifreund Cem Özdemir hat in einem Gastbeitrag in der "FAZ" versucht, den Kompass in der Migrationsdebatte wieder richtig einzustellen, wie er schreibt. Ist ihm das gelungen?

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Wir können den Kompass nicht so einstellen, wie es uns passt. Es muss klar bleiben, wo Norden ist. Sonst verirrt man sich. Aber wir wollen beide in eine bessere Richtung. Ich bin beim Grundtenor anderer Meinung als Cem Özdemir. Wir haben in den vergangenen Jahren in Europa keine lasche Politik der offenen Grenzen gemacht. Es war eine Abschottungspolitik, die sogar über rechtsstaatliche Mittel hinausgeht.

Wo sehen Sie das?

Wer auf einem Flüchtlingsboot in Seenot sitzt, der erreicht bei den Seenotrettungsleitstellen in Malta und Italien niemanden mehr. Die schicken keine Boote zum Retten. Stattdessen kommt die libysche Küstenwache, die selbst an Schlepperaktivitäten beteiligt ist, damit die Leute bloß nicht in Europa ankommen. Schutzsuchenden wird an den Außengrenzen schon lange mit systematischer Gewalt und Zurückweisung begegnet.

Das bedeutet?

Härte war das Leitmotiv der EU-Asylpolitik der letzten zehn Jahre. Die aktuelle Lage ist das Ergebnis dieser Politik. Jetzt zu versprechen, dass mehr Härte zu besseren Ergebnissen führt, ist gefährlich. Es weckt Erwartungen, die in einem Rechtsstaat unrealistisch sind oder nur von Extremisten erfüllt werden können.

Die sogenannten europarechtskonformen Zurückweisungen, die Nancy Faeser vorgeschlagen hat, sind also auch nicht sinnvoll?

Nein. Schon mit den Grenzkontrollen wird die falsche Erwartung geweckt, dass sich die Asylzahlen dadurch effektiv senken ließen. Doch selbst wenn wir die Grenzen flächendeckend kontrollieren könnten, was derzeit nicht möglich ist, sind Grenzkontrollen ja eher eine Serviceeinrichtung für Asylsuchende. Dort können sie sofort Asyl beantragen und dieses Asylgesuch muss geprüft werden.

Die Hoffnung ist aber doch auch, die Dublin-Fälle schneller loszuwerden. Also die Asylsuchenden, für die ein anderer europäischer Staat zuständig ist.

Ja, und auch dazu sind die Pläne nicht geeignet. Es ist absurd.

Warum?

Das größte Problem in Europa ist, dass wir keinen festen Verteilschlüssel haben, nach dem Migranten fair auf die Länder aufgeteilt werden. Sondern eben das Dublin-System, das nicht funktioniert. In Deutschland aber haben wir diesen festen Verteilschlüssel …

… den Königsteiner Schlüssel.

Genau. Der Faeser-Vorschlag bedeutet jetzt im Kern: Wir bauen uns ein Dublinsystem für Deutschland. An den deutschen Grenzen soll es Lager geben, wo über "Zurückweisungen" entschieden wird, und das möglichst schnell. Die Flüchtlinge werden also nicht mehr auf alle Bundesländer verteilt, sondern bleiben vor allem in Brandenburg, Sachsen und Bayern.

Der Plan ist, die Dublin-Verfahren so zu beschleunigen.

Ja, und generell spricht nichts dagegen, Verfahren zu beschleunigen. Aber wie soll das funktionieren? Es muss weiterhin möglich sein, gegen die Entscheidungen von Beamten zu klagen. Und es gibt festgelegte Gerichtsstände. Das wird dazu führen, dass die Verwaltungsgerichte in den Bundesländern an den Grenzen auf einmal über zigfach so viele Fälle entscheiden müssen. Und die Gerichte sind jetzt schon überlastet. Da kann man eigentlich nur mit dem Kopf schütteln. Und das werden Regierungen in Brandenburg, Sachsen und Bayern auch tun, wenn sie sich wieder mit der Realität beschäftigen wollen.

Was muss dann passieren, damit es eine bessere Migrationspolitik gibt?

Es würde der Migrationsdebatte sehr helfen, wenn wir die Suche nach der einen großen Lösung aufgeben. Es werden viele kleine Bausteine sein müssen. Um eine gemeinsame Wissensbasis zu schaffen, wäre es sinnvoll, ein Gremium von Menschen aus Praxis und Wissenschaft zu schaffen. Es könnte beim Bundeskanzleramt angesiedelt sein und sich mit konkreten Problemen und möglichen Lösungen beschäftigen. Und über diese Vorschläge könnte der Bundestag diskutieren und entscheiden. Es würde uns in der politischen Welt sehr helfen, aus diesem Luftgitarrenspiel auszubrechen. Uns Grünen müssen nicht alle Antworten gefallen, aber wir wollen jetzt endlich ernsthafte Antworten.

Was braucht es noch?

Wir müssen wirklich verstehen, dass Migration sich nur europäisch organisieren lässt. Und dass Deutschland einen großen Einfluss darauf hat, ob das gelingen kann. So wie wir derzeit über Zurückweisungen diskutieren, erschweren wir eine Lösung, weil andere Staaten neue Argumente bekommen, sich gemeinsamen Lösungen zu verwehren.

Sprich: Deutschland sollte vor allem darauf drängen, die ausgehandelte Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems, GEAS, schnell umzusetzen?

Die Reform hat viele Nachteile, ich habe das immer kritisiert, aber jetzt ist sie beschlossen und muss wie jedes Recht auch umgesetzt werden. Wir sollten als Grüne betreiben, dass die Umsetzung beschleunigt wird und zwar vor allem sofort bei zwei Teilen.

Welche?

Wir müssen das Screening schnell umsetzen, also dass an den Außengrenzen bei allen geschaut wird: Gehört dieses Kind eigentlich zu diesem Vater? Braucht jemand medizinische Unterstützung? Und dass es eine Sicherheitsüberprüfung und Registrierung gibt. Das ist wichtig, denn es braucht natürlich rechtsstaatlich kontrollierte Außengrenzen, um die Grenzen innerhalb Europas offenzuhalten.


Quotation Mark

Wir können auch immer wieder gegen die gleiche Wand laufen. Dann werden wir aber nur dümmer.


Erik Marquardt


Das müssten also die Staaten an den Außengrenzen leisten.

Ja, und die werden das nicht einfach so tun, das sehen wir ja seit Jahren. Sie werden immer schauen, was sie selbst dafür bekommen. Wer wirklich etwas in Deutschland ändern will, muss den Außengrenzstaaten etwas anbieten.

Was könnte das sein?

Der Solidaritätsmechanismus muss auch schneller kommen. Staaten wie Deutschland, Frankreich und Österreich sollten vorangehen. Also Staaten, in denen bisher viele nicht-registrierte Asylsuchende aus den Außengrenzenstaaten ankommen. Wir müssen sagen: Wir erwarten jetzt, dass ihr die Asylsuchenden an den Außengrenzen ordentlich registriert – und dafür nehmen wir euch als Deutschland im nächsten Jahr 50.000 Menschen ab. Andere Staaten müssen dann mitziehen.

Das würde aber bedeuten, den Solidaritätsmechanismus noch mal ordentlich aufzustocken.

Ja, die derzeitige Regelung reicht nicht aus. Und ob wir das in Europa ändern, hängt von großen Staaten wie Deutschland ab. Wir müssen mal eine Ansage machen. Wenn wir nur mit einem bescheidenen Angebot reingehen, dann holen die kleineren Staaten ihre Excel-Tabellen raus, rechnen die Zahl auf ihre Größe runter und am Ende reicht es nicht, um ernsthaft etwas zu verändern. Wer glaubt denn, dass Griechenland oder Polen Leute ordentlich registrieren, wenn wir ihnen dafür weiterhin nur Blumen anbieten?

Das Gegenargument lautet: Erst müssen weniger Asylsuchende unregistriert zu uns durchgeleitet werden, dann können wir mehr über den Solidaritätsmechanismus aufnehmen.

Ja, und das ist der grundlegende Denkfehler. Es ist ein Henne-Ei-Problem. Die Staaten an den Außengrenzen werden nicht ernsthaft registrieren, wenn sie befürchten müssen, dass alle bei ihnen bleiben müssen. Also braucht es ein ausreichendes Angebot von Binnenstaaten, jetzt etwas zu ändern.

Wie optimistisch sind Sie, dass es das geben wird?

Bisher trauen wir uns nicht, weil wir den Menschen dann sagen müssten, dass weiterhin Geflüchtete nach Deutschland kommen. Der wichtige Unterschied ist: Sie kommen auf geordneten Wegen und wir können sie in Europa besser verteilen. Was eben auch bedeutet, dass die Kommunen viel besser planen könnten. Wir können aber auch immer wieder gegen die gleiche Wand laufen. Dann werden wir aber nur dümmer.

Herr Marquardt, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit dem Grünen-Europaabgeordneten Erik Marquardt
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