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SPD-Fraktionsvize Wiese über Friedrich Merz: "Nimmt Rechtsbruch in Kauf"


SPD-Fraktionsvize Wiese
"Friedrich Merz nimmt einen Rechtsbruch in Kauf"


28.09.2024 - 14:53 UhrLesedauer: 7 Min.
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SPD-Politiker Wiese: "Zurückweisungen an deutschen Grenzen müssen europarechtskonform sein." (Quelle: IMAGO/dts Nachrichtenagentur/imago-images-bilder)

Das Sicherheitspaket der Ampel droht im Streit zerrieben zu werden. SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese verteidigt das Paket als "notwendige Antwort" auf den Solinger Terroranschlag – auch gegen Kritik in den eigenen Reihen.

Migration, Rente, Haushalt 2025: Die Ampel steht vor riesigen Aufgaben, doch könnte die nächsten Monate nicht mehr erleben. Die FDP sägt offen am Fundament der Regierung, die Grünen tauschen ihre komplette Spitze aus. Und die SPD? Muss ebenfalls aufpassen, dass ihre Fliehkräfte nicht ausgreifen. Das liegt nicht nur am chronisch unbeliebten Kanzler Olaf Scholz. Auch beim "Sicherheitspaket" der Ampel formiert sich parteiinterner Widerstand gegen die Pläne der SPD-Führung.

Wackelt das Maßnahmenbündel, das auf das Attentat von Solingen folgte? Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Dirk Wiese, gibt sich zuversichtlich, dass der Zeitplan eingehalten wird. Der Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises, der in diesem Jahr sein 50. Jubiläum feiert, fordert zudem seine Partei auf, in die Offensive zu gehen: mit einem Industriestrompreis, einem pragmatischen Migrationskurs – und einer Reform der Schuldenbremse.

t-online: Herr Wiese, bei den Grünen warfen diese Woche die Parteichefs das Handtuch, kurz darauf verließ der Vorstand der Grünen Jugend die Partei. Müsste nicht auch bei der SPD etwas passieren?

Dirk Wiese: Die SPD hat in der letzten Großen Koalition sehr unruhige Zeiten erlebt und ich bin froh, dass wir sie überwunden haben. Wir haben Verantwortung für das Land, dazu stehen wir. Respekt für die Entscheidung von Omid Nouripour und Ricarda Lang, aber ich sehe keine Notwendigkeit, den Grünen nachzueifern.

Dirk Wiese.
Dirk Wiese. (Quelle: Juliane Sonntag/getty-images-bilder)

Dirk Wiese, SPD-Fraktionsvize und Sprecher des Seeheimer Kreises

Dirk Wiese ist stellvertretender Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, unter anderem zuständig für Innen- und Rechtspolitik. Wiese ist zudem einer von drei Sprechern des Seeheimer Kreises, dem konservativen Flügel der SPD-Bundestagsfraktion. Im Jahr 1974 als Arbeitsgemeinschaft von SPD-Abgeordneten gegründet, sieht sich der Seeheimer Kreis als "pragmatische" und "moderne" Stimme der Sozialdemokratie.

Kann eine personelle Erneuerung nicht heilsam sein?

Ob das bei den Grünen heilsam sein wird, muss sich erst zeigen. Ich war insbesondere von der Härte der Kritik der Grünen Jugend überrascht. Manche Dinge sollte man besser intern klären. Ich bin froh, dass wir in der SPD konstruktiver miteinander diskutieren.

Das sehen nicht alle Genossen so. Auch in der SPD wurde zuletzt die Kritik an Kanzler Olaf Scholz immer lauter, vor allem an seinem spröden Auftreten. Muss sich Olaf Scholz mehr anstrengen?

Bei der Bundestagswahl wird es eine klare Richtungsentscheidung für dieses Land geben: Werden wir mit Olaf Scholz Deutschlands Zukunft gestalten oder mit Friedrich Merz zurück in die Vergangenheit gehen? Die Wähler müssen wissen, was auf dem Spiel steht.

Die Union liegt bei über 30 Prozent in den Umfragen, die SPD bei 16. Wie kann der Kanzler Merz schlagen?

Ich will nicht verhehlen, dass wir auf Merz als Kanzlerkandidaten der Union gehofft haben. Wir haben diese Woche im Bundestag erlebt, wie dünnhäutig Merz ist, wenn man nur das Thema Blackrock anspricht. Merz macht Politik für die oberen ein Prozent und nicht für die breite Mitte der Gesellschaft.

Die Sozialdemokratie hat seit Amtsantritt von Olaf Scholz fast alle Wahlen verloren. Wie soll die SPD aus dem Stimmungstief herauskommen?

Wir müssen einen ordentlichen Zahn zulegen, das ist uns klar. Aber es ist möglich. Olaf Scholz hat zuletzt im Bundestag einen anderen Ton angeschlagen. Wir müssen alle gemeinsam jetzt die Ärmel hochkrempeln, dann schaffen wir das auch.

"Wir", das heißt auch der Kanzler?

Alle gemeinsam.

Nach dem islamistischen Attentat von Solingen versprach die Ampel, zügig ein Sicherheitspaket zu beschließen. Bei einer Expertenanhörung hagelte es nun Kritik, auch von Ampelabgeordneten. Wackelt das Paket?

Das Sicherheitspaket ist die notwendige Antwort auf diesen fürchterlichen Terroranschlag: Wir verschärfen das Waffenrecht, geben unserer Polizei mehr Befugnisse und sorgen für die konsequente Durchsetzung des Rechtsstaats. In der Anhörung sind Hinweise gekommen, über die wir jetzt sprechen werden. Es bleibt aber beim Ziel, das Gesetz im Oktober im Bundestag zu verabschieden.


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"Wenn Menschen hier ankommen und schwerste Straftaten begehen, müssen sie das Land verlassen."


SPD-FRaktionsvize Dirk Wiese


Ob das klappt, muss sich zeigen. Denn auch in der SPD formiert sich Widerstand: Ein Brandbrief Tausender SPD-Mitglieder wirft führenden Sozialdemokraten vor, ganze Bevölkerungsgruppen unter Terrorverdacht zu stellen und rechte Narrative zu bedienen. Was antworten Sie ihnen?

Ich finde es nachvollziehbar, wenn wir als SPD unterschiedliche Positionen deutlich machen. Aber die Kritik schießt deutlich über das Ziel hinaus. Für uns als SPD ist das individuelle Grundrecht auf Asyl nicht verhandelbar. Das unterscheidet uns etwa von der Union oder Parteien rechts davon.

Der Vorwurf bezieht sich vor allem auf die Forderung von Sozialdemokraten, Flüchtlinge an den deutschen Grenzen zurückzuweisen. War das ein Schritt zu weit in Richtung CDU/CSU?

Nein, wir haben eine klare Linie: Zurückweisungen an deutschen Grenzen müssen europarechtskonform sein. Friedrich Merz hingegen nimmt einen Rechtsbruch in Kauf. Diese Differenzierung sollte bitte jeder beachten. Wir haben aber auch für innere Sicherheit zu sorgen: Wenn Menschen hier ankommen und schwerste Straftaten begehen, haben sie ihren Schutzanspruch verwirkt und müssen das Land verlassen.

Auch in der Sitzung der SPD-Fraktion am Dienstag wurde das Sicherheitspaket auseinandergenommen. Kritisiert wurde etwa der biometrische Datenabgleich mit öffentlichen Quellen im Internet. Werden Sie nachbessern?

Wir werden uns damit auseinandersetzen. Ich will aber auch dazu sagen, der Datenabgleich erfolgt aus öffentlich zugänglichen Quellen. Eine Polizei muss doch in der Lage sein, ein Foto bei Instagram oder Facebook einzusehen, das eine Person aktiv und wissentlich hochgeladen hat. Insofern werte ich das als vertretbaren Eingriff.

Eine weitere Kritik betrifft die Leistungskürzung bei sogenannten Dublin-Geflüchteten. Lässt sich hier ein Kompromiss finden?

Diese Kritik nehme ich sehr ernst. Es geht um Personen, die ausreisepflichtig sind, keine Rechtsmittel mehr haben und bei denen ein EU-Land sich zur Rücknahme bereiterklärt hat. Hier sind Kürzungen unter Wahrung des Existenzminimums durchaus vertretbar.

Rutscht die SPD in der Migrationsfrage nach rechts? Oder passt sich die SPD an eine neue Realität an, die Willkommenskultur und offene Grenzen hinter sich gelassen hat?

Nein, die SPD rutscht nicht nach rechts. Unsere sozialdemokratischen Prinzipien in der Migrationsfrage heißen Humanität und Ordnung. Wir haben als Ampel mit dem Staatsbürgerschaftsrecht und dem Chancenaufenthaltsrecht wichtige Gesetze auf den Weg gebracht. Deutschland ist ein Einwanderungsland. Gastarbeiter haben dieses Land mit wirtschaftlich erfolgreich gemacht. Wir sind auf Fach- und Arbeitskräfte für unseren Industriestandort angewiesen. Zugleich stehen wir für eine geordnete Zuwanderung. Dies ist genau das, was sich viele sozialdemokratische Bürgermeister und Landräte wünschen, die bereits an der Belastungsgrenze sind.

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Neuer Ampelzoff droht auch bei der Rente: Olaf Scholz nennt das Rentenpaket II das "Fundament" der Regierung, doch die FDP droht nun mit einer Blockade. Wackelt die Rentengarantie des Kanzlers?

Nein. Das Gesetz ist seit dieser Woche im Bundestag und wird nun beraten. Es gibt eine feste Vereinbarung zwischen Arbeitsminister Hubertus Heil und Finanzminister Christian Lindner. Insofern mache ich mir keine Sorgen, dass die FDP zu ihrem Wort steht.

FDP-Vize Johannes Vogel nennt das Paket "nicht zustimmungsfähig" und geht damit in die direkte Konfrontation zu Parteichef Lindner. Wie ernst ist das aus Ihrer Sicht zu nehmen?

Die FDP ist jetzt gut beraten, ins Gesetzgebungsverfahren einzusteigen. Es wird aber keine großen Anpassungen mehr geben. Der Streit innerhalb der FDP scheint mir auch nur zum Teil mit dem Gesetz zu tun zu haben. Ich habe den Eindruck, Johannes Vogel bringt sich in der Nachfolgedebatte um Christian Lindner in Stellung. Wir sollten das nicht überbewerten.


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Vielleicht ist es an der Zeit, dass die FDP in sich geht.


SPD-fraktionsvize Dirk Wiese


Auch ein anderer Partei-Vize sägt am Fundament der Regierung: Wolfgang Kubicki geht nicht davon aus, dass die Ampel bis Weihnachten überlebt. Gerüchteweise könnte die FDP Mitte November den Exit wagen. Zerbricht die Ampel in den nächsten Wochen?

Ich bin zuversichtlich, dass die Ampel hält. Die SPD ist sich jedenfalls ihrer Verantwortung für das Land auch bewusst. Und die Zwischenrufe von Wolfgang Kubicki muss man aushalten.

Sie machen es der FDP aber auch nicht einfacher. In einem Papier zum 50-jährigen Jubiläum des Seeheimer Kreises, das t-online exklusiv vorliegt, bezeichnen Sie die Schuldenbremse als "Innovations- und Wachstumsbremse". Wollen Sie die FDP bei den gerade begonnenen Haushaltsverhandlungen ärgern?

Nein, das ist unsere Position als Seeheimer Kreis und auch als ganze SPD, die wir damit zum Ausdruck bringen. Vielleicht ist es an der Zeit, dass die FDP in sich geht. Ihre Wahlniederlagen sprechen für sich. Ihr rigider Sparkurs verfängt beim Wähler offenbar nicht mehr. Wir wollen die Schuldenbremse auch nicht abschaffen, sondern reformieren. Wenn in Deutschland Brücken einstürzen und die Bahn fast nie pünktlich kommt, sollten wir als Regierung nicht sagen: Immerhin haben wir die Schuldenbremse eingehalten.

Halten Sie es ernsthaft für möglich, dass sich die FDP noch mal bewegt in der Frage?

Ich erwarte von allen in der Regierung, politische Herausforderungen mit Pragmatismus anzugehen. Eine Reform der Schuldenbremse fordern nicht nur wir, sondern mittlerweile der Großteil der Ökonomen. Statt veraltete Dogmen vor sich herzutragen, sollte die FDP sich ernsthaft überlegen, in welchem Zustand das Land in fünf bis zehn Jahren sein soll.

Krise bei VW, schwache Konjunkturdaten, Deutschland droht eine wirtschaftliche Abwärtsspirale. Was will die Kanzlerpartei dagegen tun?

Wir arbeiten in der Ampel an einer Wachstumsinitiative, um Deutschland wieder nach vorn zu bringen. Wir müssen die Bürokratie entschlacken und vor allem unsere Energiepreise weiter drücken. Wir sind längst nicht mehr auf dem Niveau wie kurz nach dem russischen Ukraine-Überfall im Jahr 2022, aber auch noch nicht dort, wo wir sein wollen. Unsere Unternehmen sind noch zu stark belastet durch zu hohe Netzentgelte. Um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, brauchen wir außerdem einen Industriestrompreis.

Bislang hat auch der SPD-Kanzler den Industriestrompreis blockiert. Muss sich Scholz bewegen?

Wir werden da als SPD nicht lockerlassen, weil wir ihn als entscheidend ansehen für den Industriestandort Deutschland.

Gehen Sie davon aus, dass das noch in diesem Jahr passieren wird?

Ich rechne damit, dass wir uns das als Koalition gemeinsam in den nächsten Wochen genau ansehen werden.

Herr Wiese, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Dirk Wiese
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