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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wahlkampf in Sachsen Die Grünen? "Um Gottes willen!"
Grüne werden gerade beschimpft, bedroht und angegriffen. Im Osten ist das besonders schlimm. Auch weil es hier so wenige gibt.
Claudia Kurzweg versucht einfach mal ihr Glück. In der Hand ein paar Flyer mit ihrem Gesicht drauf. Im Rücken eine Flagge der Grünen. "Guten Tag, ich kandidiere für den Stadtrat", sagt sie und geht lächelnd auf eine junge Frau zu, die gerade an ihr vorbeieilt. Die schaut kaum auf, schüttelt den Kopf und sagt: "Auf gar keinen Fall."
Wer Wahlkampf macht, muss mit Ablehnung leben. Wer in diesen Wochen Wahlkampf für die Grünen macht, noch mit deutlich mehr: nämlich mit Beschimpfungen, mit Drohungen und auch mit Gewalt. Die Schlagzeilen sind voll davon.
Das ist längst nicht nur in Ostdeutschland ein Problem. Aber hier ist die Lage vielerorts besonders prekär. Das liegt wohl daran, dass es besonders viele Menschen gibt, die der AfD nahestehen. Aber es liegt eben auch daran, dass es besonders wenige Grüne gibt. So wie in Torgau im Kreis Nordsachsen. In der 20.000-Einwohner-Stadt gibt es genau drei Grüne – und genau eine, die in den Stadtrat will: Claudia Kurzweg.
Wer sie besucht, sie beim Flyerverteilen in der Fußgängerzone und an Haustüren beobachtet, der bekommt einen Eindruck davon, was passiert, wenn Drohungen und Gewalt in der Politik immer alltäglicher werden. Wenn die Parteien kein Mittel dagegen finden. Und der Demokratie irgendwann die Demokraten ausgehen.
Braunbären und Regenbogenflagge
Claudia Kurzweg, 54 Jahre, steht an diesem Freitag im Mai in der Nähe des Marktplatzes von Torgau. Ein schmaler Bach ist in das moderne Kopfsteinpflaster eingelassen. Die historischen Häuser sind herausgeputzt, die Schaufenster gut bestückt.
Es gibt vergleichsweise wenige Arbeitslose, dafür viele Touristen in Funktionskleidung, die an der einen Hand ihr Rad und in der anderen ihr Eis balancieren. Es gibt hier die Elbe und den Elberadweg und sogar Braunbären gibt es, sie tapsen im Graben umher, der sich um das Schloss Hartenfels schlängelt.
Und es gibt hier Männer wie den, der an diesem Vormittag mit einem schwarzen T-Shirt in der Fußgängerzone steht, das über dem Bauch etwas spannt und das eine gereckte Faust zeigt und den Schriftzug: "Mein Leben, meine Regeln." Auf Claudia Kurzwegs T-Shirt küssen sich zwei Schnecken, den Campingtisch für ihre Flugblätter ziert eine Regenbogenflagge. "Man ist halt anders als die anderen", sagt sie irgendwann. So als Grüne in Sachsen.
Claudia Kurzweg lebt schon seit 30 Jahren in Torgau, ursprünglich kommt sie aus Baden-Württemberg. Sie engagiert sich in der Kulturszene und ist Mitarbeiterin zweier grüner Landtagsabgeordneter in deren Büro in Torgau. Zu den Grünen kam sie erst vor drei Jahren über den Job. Und hat in dieser Zeit einiges erlebt.
Eigentlich wäre es für sie besonders wichtig, für ihre Partei zu werben. Bisher gibt es in Torgau keine einzige Grüne im Stadtrat. Doch an diesem Freitag im Mai ist die Kommunalwahl nur noch zwei Wochen entfernt, und Kurzweg macht heute eigentlich das erste Mal so richtig Wahlkampf. Nicht optimal, stimmt schon, aber ging nicht anders, sagt sie. Zu wenig Zeit, zu wenig Geld und vor allem: zu wenig Hilfe.
Die Grünen empfehlen ihren Leuten inzwischen, immer mindestens zu dritt Wahlkampf zu machen, der Sicherheit wegen. In Torgau aber gibt es eben nur drei Grüne, und alle auf einmal können eigentlich nie. Kurzweg hat sich Hilfe aus Berlin kommen lassen, eine Parteifreundin, gefunden über eine grüne Onlineplattform, die es dafür gibt. Praktische Sache. Nicht so praktisch: Ihr dritter Parteifreund aus Torgau hat abgesagt. Muss also auch so gehen.
"Muss mir mal anschauen, wie so eine Grüne aussieht"
Eigentlich läuft es gut an diesem Tag in der Fußgängerzone. Klar, da war die junge Frau. Und da ist der Mann, der sagt, er sei Unternehmer und die Grünen für ihn "ein rotes Tuch – geht gar nicht". Und ja, da sind die Kinder, die vorbeihüpfen, lachen und rufen: "AfD ist besser!" Aber sonst gibt es neben viel Gleichgültigkeit auch Zuspruch, nicht nur von Bekannten.
Claudia Kurzweg ist davon selbst etwas überrascht. Sie kennt es anders. Härter. Man muss sie nach ihren Erfahrungen fragen, von sich aus klagt sie nicht. Sie hat keine Lust, sich in die Opferrolle zu reden. Immerhin, physische Gewalt gegen sich habe sie noch nicht erlebt, sagt sie dann. Alles andere schon.
Zweimal ist die Fensterscheibe des Grünen-Büros zuletzt eingeschlagen worden. Sie haben jetzt Sicherheitsglas eingebaut. Kürzlich stand auf einmal ein fremder Mann im Büro. "Ich muss mir mal anschauen, wie so eine Grüne aussieht", habe er gesagt, durchaus im Ernst. So erzählt es Kurzweg. "Da habe ich mich gefühlt wie im Zoo."
Wenn Kurzweg an Haustüren klingelt, wird sie manchmal begrüßt mit Worten wie: "Gehen Sie weiter, ist besser so." Oder: "Wenn Sie mir nicht so sympathisch wären, hätte ich Sie die Treppe heruntergestoßen."
Es sind Drohungen, doch Kurzweg erzählt davon, als sei nicht viel dabei. Vielleicht wegen der Opferrolle, die sie nicht will. Vielleicht auch, um das alles nicht an sich heranzulassen. Doch dass es mehr geworden ist, schlimmer geworden ist – das sagt auch sie. Vor einigen Wochen hat sie zwei Workshops gemacht, um sich vorzubereiten auf den Wahlkampf. Bei einem ging es um Deeskalation. Beim anderen um Selbstverteidigung. Auf so eine Idee wäre sie vor drei Jahren im Bundestagswahlkampf noch nicht gekommen.
Schwache Partei stark unter Druck
Der neue Hass gegen die Grünen trifft im Osten auf eine ohnehin schwache Partei. Den Grünen fehlen hier schon immer die Mitglieder, um die Gesellschaft mitzuprägen. Und weil Mitglieder fehlen, fehlen auch Mitgliedsbeiträge, mit denen man eine Parteistruktur aufbauen könnte, die ihre Leute unterstützt und bestärkt.
Es ist ein Teufelskreis, der jetzt mit den vermehrten Angriffen umso zerstörerischer ist. Das macht sich auch in Torgau bemerkbar. Es gab hier, in der 20.000-Einwohner-Stadt, mal einen vierten Grünen. Der ist wieder ausgetreten, erzählt Kurzweg. Weil er das rechte Mobbing von Bekannten und Verwandten nicht ausgehalten habe.
Sich hier als Grüne zu outen ist schwieriger, als sich als lesbische Frau zu outen.
Claudia Kurzweg
Claudia Kurzweg sagt das so, als könne sie es verstehen. Sie lebt in Torgau als offen lesbische Frau, organisiert den Christopher Street Day in der Stadt. Sie will den Hass gegen queere Menschen nicht verharmlosen, das ist ihr wichtig. Trotzdem sagt sie: "Sich hier als Grüne zu outen ist schwieriger, als sich als lesbische Frau zu outen."
Plattitüden statt Plan
Was aber tun, damit es besser wird? Damit der Demokratie hier nicht wirklich irgendwann die Demokraten ausgehen? Im Februar fuhr Claudia Kurzweg nach Leipzig, um das den Mann zu fragen, der bei den Grünen für die großen Fragen zuständig zu sein scheint: Robert Habeck.
Bei einem Bürgerforum erzählte Kurzweg dem Vizekanzler, wie das so ist, als Grüne in Sachsen. Sie wollte von Habeck wissen, wie man die Leute ermutigen und schützen könne. Der aber war ebenso ratlos. Er könne da aus seiner beschützten Welt schwer Rat geben, das sei nicht angemessen, fand er. Sich Alliierte zu suchen, könne helfen. Die Demokratie lebe von Menschen, die sich engagierten. Es brauche Zivilcourage. Solche Sachen sagte Habeck. Es waren Plattitüden, kein Plan.
Dabei kündigen die Grünen schon seit Jahren an, jetzt aber wirklich, wirklich ihre Schwäche im Osten beheben zu wollen. Wie genau, blieb meist nebulös. Genutzt hat es: wenig bis nichts. Vor den Landtagswahlen im Herbst, in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, will man nun noch mal neu nachdenken. Ob es was hilft?
Für Claudia Kurzweg kommt das ohnehin zu spät. Bei der vergangenen Kommunalwahl 2019 kam die AfD in Torgau aus dem Stand auf 18,2 Prozent. Sie hätte vier der insgesamt 20 Stadträte stellen können, hatte aber nur zwei. Inzwischen ist Personal für die AfD kein großes Problem mehr. Geld für den Wahlkampf auch nicht. Kurzweg sagt: "Alles unter 30 Prozent würde ich feiern."
Die "blauen Blöcke" und die Ausländer
Für diesen Freitag im Mai hat Claudia Kurzweg ihren Stand in der Fußgängerzone abgebaut. Sie hat ein paar Plakate und Flugblätter in ihren Wagen gepackt und ist losgefahren. Ihr Ziel liegt nur wenige Minuten entfernt, und scheint doch weit weg von der historischen Innenstadtidylle: Torgau-Nordwest.
Der Stadtteil ist das, was man ein Problemviertel nennt. Die Plattenbauten sind groß, die Spannungen auch. Eine Geflügelfabrik quartiert hier ihre Arbeiter ein. "Vor allem Roma aus Slums in der Slowakei", sagt Kurzweg. Es sind nur zwei von vielen Hochhäusern, aber sie sind berüchtigt: die "blauen Blöcke". Wegen der Farbe, die von den Wänden der heruntergekommenen Häuser blättert.
Die Kommune hat einen 20-Punkte-Plan geschrieben, um etwas gegen den Lärm und das Unsicherheitsgefühl zu tun, das viele hier beklagen. Es soll zum Beispiel nächtliches Wachpersonal geben. Doch die Politik bekommt die Probleme nicht in den Griff. Kurzweg geht hier von Hochhaus zu Hochhaus und läutet sich durch die Klingelbretter. Von den wenigen, die überhaupt mit ihr sprechen wollen, klagen die meisten über "die zwei Blöcke" oder gleich über "die Ausländer" oder sagen: "Brauchen wir nicht drüber reden."
Ein Geschenk für die AfD
Viertel wie dieses sind ein Geschenk für die AfD, da spielt es kaum eine Rolle, wie gut es dem Rest der Stadt geht. Sie sind kein natürliches Habitat für Grüne. Claudia Kurzweg ist trotzdem hergekommen. "Es gibt reale soziale Probleme", sagt sie, "aber das Problem an den Problemen ist, dass sie ethnisiert werden." Also statt der Armut die Ausländer für sie verantwortlich gemacht werden.
Es gehe den Menschen hier um Ordnung, Sicherheit und Sauberkeit, sagt Kurzweg. Eher keine grünen Kernkompetenzen. In den wenigen kurzen Gesprächen an den Haustüren wirbt sie für den 20-Punkte-Plan und versucht, die Leute davon zu überzeugen, dass ein Treffpunkt für die Menschen im Viertel helfen könnte. So wirklich überzeugt scheint niemand.
Irgendwann zwischen Hochhaus zwei und acht läutet Claudia Kurzweg an einer Wohnung. Ein älterer Herr mit rundem Gesicht und buschigem Bart steckt den Kopf aus der Tür. Kurzweg stellt sich vor, der Mann lacht und ruft: "Um Gottes willen!" Dann ist die Tür wieder zu. Wohl kein Grünen-Fan.
Doch Claudia Kurzweg gibt noch nicht auf. Unten vor dem Haus steckt sie dem Mann ein spezielles Flugblatt in den Briefkasten. "AfD: Partei der sozialen Ungleichheit" steht darauf. Es soll AfD-Anhänger mit grünen Argumenten bekehren. Hier in Torgau-Nordwest wirkt es wie eine fast absurd naive Hoffnung. Nur: Was bleibt Claudia Kurzweg schon übrig, als einsame Grüne in feindlicher Umgebung?
- Eigene Recherchen
- Begleitung des Wahlkampfs von Claudia Kurzweg in Torgau