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Zum journalistischen Leitbild von t-online.SPD-Chef Lars Klingbeil "Wir haben uns jahrzehntelang ausgeruht"
Die Ampel steht vor einem Milliardenloch, im Juni wird in Europa gewählt und in der Ukraine droht eine russische Großoffensive. SPD-Chef Lars Klingbeil erklärt im Interview, ob Deutschland auf all das vorbereitet ist – und sagt, was jetzt passieren muss.
Es ist Dienstag, Lars Klingbeil ist nervös. Am Abend empfängt der FC Bayern Real Madrid im Halbfinale der Champions League. Dass es ein (aus Münchner Sicht) eher enttäuschendes 2:2 werden wird, konnte der eingefleischte Bayern-Fan zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht wissen.
Klingbeil hätte eigentlich allen Grund, auch in politischer Hinsicht in Unruhe zu verfallen: Vor Kurzem rechneten Historiker in einem Brandbrief an die SPD-Führung mit der Russland-Politik der Genossen ab. Ein riesiges Haushaltsloch droht die Ampel zu zerreißen, und obendrein tanzt die FDP ihren Koalitionspartnern mit immer neuen Vorschlägen auf der Nase herum.
Doch bei diesen Fragen zeigt sich der SPD-Chef im Interview mit t-online eher gelassen. Klingbeil erklärt, warum die SPD-Historiker aus seiner Sicht übers Ziel hinausgeschossen sind, warum CDU-Chef Merz seiner Europawahl-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen Grenzen setzen sollte, und mahnt, dass Deutschland "vielleicht noch zehn Jahre Geld und Waffen mobilisieren muss", um der Ukraine zu helfen.
t-online: Herr Klingbeil, namhafte Historiker mit SPD-Parteibuch hatten der SPD kürzlich in einem Brandbrief eine "gefährliche Realitätsverweigerung" im Umgang mit Russland vorgeworfen. Waren Sie sauer, dass der Brief an die Öffentlichkeit gelangt ist?
Lars Klingbeil: Nein. Ich finde es gut, wenn Historiker sich in öffentliche Debatten einbringen. Ich teile aber einige Punkte in dem Brief nicht.
Zum Beispiel?
Die Unterstellung, die SPD habe ihre Russland-Politik im Grunde noch gar nicht begonnen aufzuarbeiten. Das stimmt einfach nicht. Wir haben einen Parteitagsbeschluss, der klar feststellt, dass wir Fehler gemacht haben und der einen neuen Kurs vorgibt. Vorangegangen sind viele öffentliche Veranstaltungen, auch gemeinsam mit dem Geschichtsforum, die diese Kursänderungen angestoßen haben. Wir sind die einzige Partei, die das getan hat. Bei der Union steht das noch aus.
Am Dienstag hatten Sie die Historiker zu einer Aussprache in die SPD-Parteizentrale eingeladen. Was haben die Ihnen gesagt?
Das Gespräch war vertraulich und bleibt es auch. Ich kann aber so viel sagen: Es war ein gutes Gespräch.
Ein weiterer Vorwurf in dem Brief lautete: In der SPD gebe es zunehmend "wissenschaftsfeindliche Aussagen und abwertende Äußerungen" gegenüber Experten. Ist da etwas dran?
Ich schätze den Austausch mit Wissenschaftlern und treffe mich selbst oft mit Expertinnen und Experten und Thinktanks. Das bereichert meine Arbeit.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat gerade in die gleiche Kerbe geschlagen, als er Militärkenner "Kaliberexperten" nannte, die "ausgelassen" und "mit wachsendem Ehrgeiz" über Waffenlieferungen diskutierten. War das klug, gerade von jemandem, der für die gescheiterte Russlandpolitik der letzten Jahre steht?
Frank-Walter Steinmeier hat als einer der wenigen Politiker in Deutschland seine Fehler in der Russland-Politik eingeräumt und sich dafür entschuldigt. Er hat deutlich gemacht, dass Debatten breiter geführt werden sollten. Das wünsche ich mir auch.
Die "Einfrieren"-Rede von SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich hatte vor einigen Wochen eine heftige Kontroverse ausgelöst. Mittlerweile hört man auch in der SPD, dass sie im Mindesten ungeschickt war. Sollte man solche Forderungen künftig lieber lassen?
Ich kann nur wiederholen, was ich schon mehrmals gesagt habe: Die Debatte um die Rede von Rolf Mützenich war absurd. Die SPD ist in ihrer Unterstützung für die Ukraine klar. Trotzdem ist es richtig, nicht nur über Waffenlieferungen zu debattieren, sondern auch über diplomatische Initiativen. Wir können nicht zulassen, dass der Friedensbegriff nur von den Wagenknechten und den Rechtsradikalen von der AfD besetzt wird. Die meinen mit Frieden nämlich eine Kapitulation vor Putin und das ist falsch.
Auch abgesehen von dem Historiker-Brief gibt es zunehmend die Kritik, dass die Zeitenwende in der SPD erschlafft. Beobachter sagen, dass bei den Genossen langsam wieder die Kräfte zulegen, die vom Epochenwechsel eigentlich gar nichts wissen wollen. Stimmt der Eindruck?
Nein. In der ganzen Welt wird über Friedensinitiativen gesprochen, die Friedenskonferenz in der Schweiz steht bevor und das unterstützen wir als Deutschland. Zugleich spricht doch die Politik der Bundesregierung und der SPD eine ganz eindeutige Sprache: Es bleibt bei der Strategie, die Ukraine so stark zu machen, dass sie zum richtigen Zeitpunkt aus einer Position der Stärke verhandeln kann. Wir werden nicht über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer entscheiden. Derzeit sieht es leider so aus: Putin will nicht verhandeln, sondern wartet die Präsidentschaftswahlen in den USA ab.
Kanzler Scholz begründet seine zurückhaltende Ukraine-Politik stets damit, dass er die Bevölkerung mitnehmen muss. Seine Kritiker wenden ein, er müsse noch viel mehr für die Ukraine tun. Ist die Grenze der Zumutbarkeit wirklich schon erreicht?
Diese Grenze wird doch ständig neu vermessen. Vor Ausbruch des Krieges hätte niemand es für möglich gehalten, wie stark wir die Ukraine militärisch unterstützen. Wir sind der zweitgrößte Unterstützer nach den USA. Das ist ein Marathonlauf. Wir müssen vielleicht noch zehn Jahre Geld und Waffen mobilisieren, um der Ukraine zu helfen. Dafür brauchen wir das Mandat der Bevölkerung. Deutschlands Sicherheit wird auch in der Ukraine verteidigt.
Die Lage in der Ukraine ist dramatisch. Die ukrainische Front wackelt, bald droht eine russische Großoffensive. Ist die Ampel darauf vorbereitet, falls die ukrainische Verteidigung kollabiert?
Ja, die Lage ist gerade schwieriger geworden. Die Ukrainer wurden in diesem Krieg allerdings schon häufiger unterschätzt, insofern bin ich bei negativen Szenarien immer etwas skeptisch. Wichtig ist, dass aus ganz Europa, nicht nur aus Deutschland, Waffen und Munition schnell in der Ukraine ankommen.
Auch finanziell? Im Notfall hieße das, dass Deutschland massiv seine Hilfen aufstocken müsste, sei es für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge oder weitere Waffenhilfen.
Wenn es wirklich zu einer Situation kommt, wo wir die Ukraine-Hilfen noch mal kräftig anheben müssen, werden wir eine Lösung finden.
Das hieße dann ein Aussetzen der Schuldenbremse?
Wie das konkret aussieht, müssen wir dann sehen. Die Bundesregierung hat versprochen, dass sie die Ukraine so lange unterstützt, wie sie Hilfe braucht. Daran wird nicht gerüttelt.
Bis zum 2. Mai müssen die Ministerien ihre Etatwünsche und Sparvorschläge für den Haushalt 2025 einreichen. Finanzminister Christian Lindner (FDP) hat die Ressorts auf einen Sparkurs eingeschworen, noch klafft eine 25 Milliarden Euro große Haushaltslücke. Fürchten Sie ein Streichkonzert?
Die Lücke wird sich nicht einfach wegkürzen lassen. Die Regierungsparteien werden in den nächsten Wochen und Monaten dazu Gespräche führen und eine Lösung finden. Es ist meine Erwartung als Parlamentarier und SPD-Vorsitzender, dass der Haushaltsentwurf bis zur Sommerpause vorliegt.
Gibt es Überlegungen, die Ukraine-Hilfen aus dem regulären Haushalt auszuklammern?
Es gibt viele Überlegungen. Welche davon zu konkreter Politik werden, kann ich noch nicht sagen.
Verkehrsminister Volker Wissing hat gesagt: Eine Umgehung der Schuldenbremse bedeutet das Ampel-Aus.
Volker Wissing hat selbst ein Interesse daran, die Investitionen in Straßen und Schienen massiv zu steigern. Hier gibt es noch viel zu tun. Vor vielen Jahren waren wir extrem stolz auf unsere Infrastruktur in Deutschland, heute freut man sich, wenn der Zug pünktlich ankommt. Investitionen in die Infrastruktur kosten Geld, das weiß auch der Verkehrsminister.
Einer hat sich schon lautstark über Lindners Sparkurs beschwert: Verteidigungsminister Boris Pistorius warnte vor einem "Rüstungsstopp", sollte er nur 50 Millionen Euro zusätzlich bekommen, wie es eine erste Aufstellung vorsieht. Ist die Zeitenwende in Gefahr?
Nein, aber wir müssen uns ernsthaft fragen, was das bedeutet, wenn wir geplante Rüstungsprojekte nicht finanzieren können. Die Industrie braucht Planungssicherheit, die Beschaffung von Militärgütern funktioniert nicht von heute auf morgen. Die Zeitenwende betrifft mehrere Ministerien, auch das Ressort von Entwicklungsministerin Svenja Schulze, die dafür ausreichend Mittel benötigt. Aber es stimmt natürlich: Boris Pistorius hat mit die größte Verantwortung, unser Land wieder verteidigungsfähig zu machen.
Pistorius sagt, er brauche 6,5 Milliarden Euro mehr, um seine Vorhaben umzusetzen. Im vorigen Jahr hatte er auch hoch gepokert, aber nur einen Bruchteil durchsetzen können. Unterstützen Sie seine Forderung, damit sich das Szenario vom letzten Jahr nicht wiederholt?
Über die genaue Höhe des Verteidigungsetats muss jetzt gesprochen werden. Aber Pistorius kann sicher sein, dass er meine Unterstützung hat: Wir müssen deutlich mehr in unsere Verteidigung investieren. Wir haben uns jahrzehntelang ausgeruht und zu wenig für unsere eigene Sicherheit getan.
Die SPD trommelt seit einer Weile für einen höheren Mindestlohn. Die Spitzenkandidatin der SPD bei der Sachsen-Wahl, Petra Köpping, hat kürzlich im t-online-Interview gefordert, den Mindestlohn von 12,41 Euro auf 15 Euro anzuheben. Schließen Sie sich ihr an?
Ich sage seit Längerem, dass die Erhöhung zum 1. Januar um wenige Cents viel zu gering war. Die Mindestlohnkommission hat nun die Chance, ihren Fehler vom letzten Mal zu korrigieren und den Mindestlohn kräftig anzuheben.
Und wenn nicht?
Ich erwarte, dass die Kommission wieder zu einem Konsens findet. Die Arbeitgeberseite kann nicht einseitig ihre Interessen durchdrücken. Das funktioniert bei Tarifverhandlungen auch nicht. In Deutschland verdienen acht Millionen Beschäftigte weniger als 14 Euro in der Stunde. Das ist zu wenig. Die Inflation hat sich zwar abgeschwächt, aber die Preise sind noch immer viel zu hoch.
Ihr liberaler Koalitionspartner sieht das anders. Die FDP setzt unter anderem auf Sozialkürzungen, um die Wirtschaft zu beleben. Auf dem Parteitag haben die Liberalen gerade das Aus der Rente mit 63 beschlossen, eigentlich ein Kernanliegen der Genossen. Warum fiel die Reaktion der SPD trotzdem so verhalten aus?
Sie haben es selbst gesagt: Die FDP hat das auf ihrem Parteitag beschlossen. Jede Partei hat das Recht, auf ihrem Parteitag ihr Profil zu schärfen. Das haben wir im vergangenen Dezember gemacht, nun war die FDP dran. Das ist in Ordnung, vieles hat aber keine konkreten Folgen für die Regierung: Die Rente nach 45 Beitragsjahren bleibt. Mit Olaf Scholz als Bundeskanzler ist daran kein Rütteln.
Aber bloße Parteitagsfolklore scheint es auch nicht zu sein. Zuvor hat die FDP mit ihrem 12-Punkte-Wirtschaftsprogramm für Unruhe in der Ampel gesorgt. Und Parteivize Wolfgang Kubicki warnte die SPD, sie habe den "Ernst der Lage nicht verstanden". Testet die FDP die Stabilität der Ampel?
Das müssen Sie die FDP fragen. Wir sind bereit, schnell darüber zu entscheiden, wie wir Deutschland wieder auf Wachstumskurs bringen. Wir haben Wochen vor der FDP ein eigenes Papier mit zehn Punkten vorgelegt, was nach unseren Vorstellungen passieren muss, um die Wirtschaft anzukurbeln: Das betrifft etwa den Bürokratieabbau, wettbewerbsfähige Energiepreise, private Investitionen und die Reform der Schuldenbremse, die zur Investitionsbremse verkommen ist.
Friedrich Merz hat vor Kurzem ein Ende der Ampel noch in diesem Jahr prophezeit. Die FDP, so das Merz-Argument, suche nur noch die Sollbruchstelle der Ampel. Trifft er nicht einen wunden Punkt?
Das sind politische Spielchen. Friedrich Merz sollte vielmehr darauf achten, dass nach der Europawahl seine Brandmauer gegen rechts nicht bröckelt.
Auf EU-Ebene scheint die nun zu wackeln: Bei der TV-Debatte der Spitzenkandidaten bei der Europawahl hatte sich Kommissionschefin Ursula von der Leyen (CDU) nun offen für eine Zusammenarbeit mit rechtskonservativen Kräften in Italien und Polen gezeigt. Hat Sie das überrascht?
Wir hören solche Töne schon länger aus der EVP. Das ist gefährlich. Für den eigenen Machterhalt mit Rechtspopulisten zu paktieren, ist genau der falsche Weg, um sie zu stoppen. Das haben uns die Wahlen in Schweden oder Italien gezeigt. Man muss das einmal deutlich machen: Es geht da zum Beispiel um Parteien, mit denen von der Leyen im EU-Parlament zusammenarbeiten will, die Deutschland zum Feindbild erklärt haben, die die freie Presse einschränken wollen oder offen gegen Minderheiten hetzen. Friedrich Merz sollte seiner Spitzenkandidatin von der Leyen klare Grenzen setzen. Auf dem CDU-Parteitag nächste Woche hat er die Gelegenheit dazu.
Die Union hat ihren Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 2025 noch nicht bestimmt, aber alles deutet derzeit auf Friedrich Merz hin. Ist die SPD auf eine Auseinandersetzung mit dem Oppositionsführer vorbereitet?
Ich will der Union keine Tipps bei Personalentscheidungen geben. Doch sollte es Friedrich Merz werden, dann sicher nicht, weil er in Umfragen so beliebt ist.
Sondern?
Vielleicht waren seine parteiinternen Widersacher dann einfach nicht stark genug.
Wie wird der Wahlkampf gegen einen wahrscheinlichen Kandidaten Friedrich Merz?
Amüsant.
Herr Klingbeil, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Lars Klingbeil