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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Grünen-Parteitag Das wird Folgen haben
Die Grünen streiten bei ihrem Parteitag heftig über die Migrationspolitik. Der ganz große Eklat bleibt aus. Doch der Abend in Karlsruhe wird Folgen haben.
Es ist 21.30 Uhr, als es für Robert Habeck ums Ganze geht. Die Grünen diskutieren auf ihrem Parteitag an diesem Samstagabend über die Migrationspolitik. Es ist die emotionalste Debatte – und die heikelste. Die Grüne Jugend will ihrem Spitzenpersonal mit einem Antrag verbieten, weitere Asylrechtsverschärfungen mitzumachen.
Robert Habeck warnt vor diesem Schritt. Mit dem größten Argument, das er hat: "Es ist ein Misstrauensvotum in Verkleidung, das in Wahrheit sagt: Verlasst die Regierung." Sein Weg – oder der Koalitionsbruch, das ist es jetzt, was für Habeck zur Wahl steht. Selbst wenn die Grüne Jugend beteuert, gar keinen Koalitionsbruch zu wollen, sondern nur Nachverhandlungen in der Ampel für mehr Menschlichkeit.
Anderthalb Stunden später wird der Parteitag den Antrag der Parteijugend recht deutlich ablehnen. Robert Habeck darf Vizekanzler und die Grünen dürfen in der Regierung bleiben. Die Spitzenleute zeigen sich zufrieden.
Doch die Debatte hinterlässt Spuren. Auf dem Papier, und wohl auch in den Köpfen. Es dürfte nun noch etwas komplizierter werden in der ohnehin schon so komplizierten Ampel. Besonders für die Grünen.
Seit Monaten aufgewühlt
Die Migrationspolitik wühlt die Grünen seit Monaten auf. Das war so, als es in der EU Anfang Juni einen Durchbruch bei der EU-Asylreform GEAS gab. Und das war wieder so, als Kanzler Olaf Scholz, Habeck und Finanzminister Christian Lindner ihrer Ampel nach den Wahlen in Bayern und Hessen ein Migrationspaket präsentierten, das nicht nur Arbeit, sondern auch Abschiebungen erleichtern sollte.
Schon nach der Einigung in der EU entlud sich großer Frust, der auf einem kleinen Parteitag im hessischen Bad Vilbel mühsam wieder zusammenversöhnt werden musste. Der Kompromiss ließ den Regierungsgrünen viel Spielraum. Zu viel Spielraum, wie nachher einige im linken Flügel fanden. Sie sehen seitdem eher keine Verbesserungen. Was die Stimmung dort zuletzt nicht gerade beruhigt hatte.
Doch auch die pragmatischeren Grünen waren nervös. Schon am Donnerstag hatte Habeck die Haltung der Partei bei der Migration zur Schicksalsfrage erklärt. Einer Frage, die für ihn darüber mitentscheidet, ob die Grünen auch in den nächsten Jahren regieren wollen – oder eben nicht mehr. Für Habeck ist die Sache klar, die Partei sei gegründet worden, "um im Ring zu kämpfen, nicht am Rand zu stehen und Programme hochzuhalten".
Doch ihre Programme lieben die Grünen eben schon auch sehr.
Die Migrationspolitik darin ist für sie nicht nur irgendein Unterpunkt. Sie ist ein entscheidender Grund, weshalb viele überhaupt bei den Grünen sind. Und weshalb sie mit der Regierungspolitik nun so hadern. Manche fragen sich, ob das wirklich noch die Grünen sind – die Partei mit den Menschenrechten.
Deckel drauf funktioniert nicht
Ihren Spitzenleuten jegliche Asylverschärfung zu verbieten, wie es die Grüne Jugend will, das geht den meisten in Karlsruhe dann doch zu weit. Das werde am Ende nur dazu führen, ruft Habeck den Delegierten zu, dass dann andere die Politik machen und nicht mehr die Grünen. Nichts werde sich dadurch verbessern. Das überzeugt offenbar viele. Die Ampel sprengen? Oder zumindest die Gefahr in Kauf nehmen? Dafür sind die Grünen längst zu regierungsgeschmeidig geworden.
Dabei hat die Grüne Jugend durchaus Argumente. "Robert, du sagst, wir müssen jetzt der Realität ins Auge blicken und leider moralisch schwierige Entscheidungen treffen", ruft die Co-Chefin Katharina Stolla dem Vizekanzler zu. "Unmenschliche Asylpolitik ist aber keine Realität. Sie ist eine politische Entscheidung."
Als Regierungspartei könne man nicht immer nur den anderen die Schuld geben, wenn sich Debatte und Politik nach rechts verschöben, argumentiert Stolla. Gerade weil die gesellschaftliche Stimmung nicht auf Seiten der Grünen sei, müsse man sie jetzt drehen. Wenn man den Rechten auch noch recht gebe, würden sie nur immer weitermachen.
Es ist die Angst vor Kompromissen ohne Ende, die viele im Saal umtreibt. Auch Katharina Stollas Vorgängerin bei der Grünen Jugend, Sarah-Lee Heinrich. "Seit Monaten reden wir darüber, noch eine Sache mitzumachen, um endlich einen Deckel auf die Asyldebatte zu kriegen", sagt sie. "Und es funktioniert nicht."
Streit schon bei der Überschrift
Wie sehr die Grünen hadern, zeigt sich am Abend schon ganz zu Beginn des Textes, den sie in Karlsruhe beschließen wollen, um sich ihrer Position zu versichern: bei der Überschrift. Einige Grüne wollen, dass der Titel nicht "Humanität und Ordnung" lautet – sondern "Humanität und Menschenrechte".
Das ist für die Parteiführung heikler als es scheint. "Humanität und Ordnung" ist nicht nur irgendeine Überschrift. Es ist die Formel, die Spitzen-Grüne seit Monaten wie ein Mantra wiederholen. Es ist ihre Kernbotschaft, die signalisieren soll, dass eben auch die Grünen nicht im Wünsch-dir-was-Land, sondern in der Wirklichkeit leben. Die Botschaft, hinter der sich auch Grüne versammeln sollen, die mehr Abschiebungen durchaus für nötig halten. Auch die gibt es nämlich.
Bei der Abstimmung braucht es dann drei Anläufe, bevor klar ist, für welchen Titel die meisten Stimmkarten in die Luft gehalten werden. Am Ende sind es mehr für "Humanität und Ordnung". Aber es ist sehr, sehr knapp.
Entgegenkommen hinter den Kulissen
Die Spitzenleute nehmen die Stimmung natürlich wahr. Im Hintergrund, abseits der Bühne, wird deshalb bis zuletzt über einzelne Sätze des Beschlusspapiers verhandelt. An mehreren Stellen kommt der Bundesvorstand den Kritikern dabei diskret entgegen. Aus Angst, Abstimmungen auf großer Bühne zu verlieren, wie mancher glaubt.
So hatte die Spitze im ursprünglichen Text noch formuliert, dass die Zahlen sinken müssten. Es ist für viele ein heikler Satz. Sie argumentieren, nicht Deutschland, die Ampel oder die Grünen könnten bestimmen, wie viele Menschen flüchteten. Sondern die Kriege, Krisen und Konflikte auf der Welt täten das.
Zu versprechen, dass die Zahlen sinken, finden deshalb viele nicht nur moralisch falsch, sondern unehrlich und gefährlich. Man wecke Erwartungen, die niemand einhalten könne – und die so zu Enttäuschungen bei den Menschen führten, die Rechte ausnutzen könnten. Der Satz fliegt am Ende aus dem Text.
So passiert es noch mit einigen anderen Sätzen. Nicht alle Änderungen können denjenigen gefallen, die in Karlsruhe besonders hadern. Die grüne Kritik daran, dass die Koalition nun auch prüft, ob man Asylverfahren in Drittstaaten outsourcen kann, fliegt zum Beispiel ebenfalls aus dem Text.
Es ist wohl so etwas wie ein Zugeständnis an den Gastgeber und seine Anhänger. Für eine mögliche Drittstaatenlösung hatte sich der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann kürzlich beim Bund-Länder-Treffen eingesetzt – auch zum Ärger vieler in der Bundestagsfraktion.
Botschaft angekommen?
Manch Grüner meint trotzdem, dass die Botschaft angekommen ist. Dass die Spitze verstanden hat, wie ernst es großen Teilen der Partei mit ihrer Kritik ist.
Robert Habeck und andere versprechen ihnen das jedenfalls, sogar auf großer Bühne. Und mancher übt die Kritik an sich gleich selbst. Nach Verhandlungen glaube man manchmal wohl zu sehr an das, was man erreicht habe, sagt Habeck. Er war es ja, der mit Scholz und Lindner das Abschiebegesetz ausgehandelt hatte – was einige hier nicht vergessen haben.
Die Stimmung in Karlsruhe habe schon jetzt Konsequenzen, verspricht Habeck dann noch. "Nämlich, dass auch Kompromisse Grenzen haben müssen."
Es ist eine kluge Geste des Vizekanzlers, die hilft, den Eklat in Karlsruhe zu verhindern. Doch ob sich diesmal auch wirklich etwas ändert? Mehr als in der Vergangenheit? Sie werden sie nun daran messen. In der Regierung.
- Beobachtungen und Recherchen auf dem Grünen-Parteitag in Karlsruhe
- antraege.gruene.de: 49. Bundesdelegiertenkonferenz Karlsruhe