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Experte Münkler: "Chef der Stiko hätte niemals in Talkshow gehen dürfen"


Wachsende Corona-Gefahr
"Der Chef der Stiko hätte niemals in eine Talkshow gehen dürfen"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 21.12.2021Lesedauer: 7 Min.
Interview
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Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

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Thomas Mertens im Juli 2021 bei "Markus Lanz": Niemals hätte der Vorsitzende der Stiko eine Talkshow besuchen dürfen, kritisiert Politologe Herfried Münkler.Vergrößern des Bildes
Thomas Mertens im Juli 2021 bei "Markus Lanz": Niemals hätte der Vorsitzende der Stiko eine Talkshow besuchen dürfen, kritisiert Politologe Herfried Münkler. (Quelle: teutopress/imago-images-bilder)

Schon zum zweiten Mal muss Deutschland mit Corona Weihnachten feiern. Der Grund ist, dass Politiker eine entscheidende Fähigkeit verloren haben, sagt der Politologe Herfried Münkler.

Corona und kein Ende: Warum steht Deutschland eine zweite Virus-Weihnacht bevor und warum wirken die Maßnahmen der Politik so hilflos? Herfried Münkler, einer der profiliertesten Politikwissenschaftler Deutschlands, kann Antworten auf diese Fragen geben: Fatalerweise liegt die Ursache für das Corona-Chaos in unserem politischen System, sagt er im Interview mit t-online und erklärt, warum die gesamte Bevölkerung gegenwärtig Teil eines gigantischen Experiments ist:

t-online: Professor Münkler, Deutschland steht das zweite Corona-Weihnachten bevor. Hätten wir diese Misere nach den Erfahrungen des vergangenen Jahres nicht vermeiden können?

Herfried Münkler: Deutschland hätte sich eine weitere Corona-Weihnacht ersparen können. Schon im Juli haben die ersten Modellierer davor gewarnt, dass sich eine vierte Welle aufbaut. Zu diesem Zeitpunkt wurde auch allmählich sichtbar, dass sich nicht genügend Menschen impfen lassen.

Warum haben die Regierenden nicht rechtzeitig eingegriffen?

Das liegt an der Funktionsweise von Politik in unserer Zeit. Stellen wir uns vor, ein Politiker hätte im Sommer harte Maßnahmen gefordert. Was wäre die Folge gewesen, wenn die prophezeite Katastrophe dann nicht eingetreten wäre? Alle hätten ihn als Miesmacher angeprangert, er hätte schlecht dagestanden. Deshalb feiert Corona an Weihnachten nun mit. Die derzeitige Lage hat für die Politik freilich auch einen großen Vorteil.

Welchen?

Wegen der angespannten Situation können die Politiker mit weitaus mehr Unterstützung durch die Bürger und größerer Akzeptanz für harte Maßnahmen rechnen, als es noch in den Sommermonaten der Fall war. Die Regierenden brauchen eine gewisse Krisenhaftigkeit, um einschneidendes Handeln gegenüber der Bevölkerung legitimieren zu können. Gerade dann, wenn es um unangenehme Einschnitte für viele Menschen geht.

Herfried Münkler, Jahrgang 1951, lehrte bis zu seiner Emeritierung 2018 Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Der Politologe erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke. Kürzlich erschien Münklers neuestes Buch "Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch" bei Rowohlt Berlin.

Es kann doch aber nicht sein, dass eine vorausschauende Politik der Krisen- und Gefahrenabwehr kaum noch möglich ist.

Das Problem ist, dass wir aus Leiden nicht genug lernen. In der liberalen Demokratie gibt es die geradezu geheiligte Vorstellung vom "mündigen Bürger". Aber die Fähigkeit der Menschen, Vorsorge zu treffen und vorausschauend zu planen, ist leider begrenzt.

Wer trägt die Verantwortung am derzeitigen Corona-Schlamassel? Die Politik? Alle Bürger?

Eine prozentuale Verteilung der Verantwortlichkeit kann ich nicht leisten. Einfach, weil Politik und Gesellschaft miteinander im Austausch stehen und gegenseitig Einfluss aufeinander nehmen. In Deutschland sind wir alle gerade Teilnehmer eines großen Experiments.

Das müssen Sie erklären.

Hierzulande wollte die Politik das Verhalten der Bürger in der Corona-Pandemie vor allem durch Kommunikation lenken. Ganz anders als in romanischen Ländern, wie Italien, Frankreich oder Spanien, wo die Regierungen konsequent harte administrative Anordnungen erlassen haben. Alle diese Länder stehen heute bei den Corona-Zahlen wesentlich besser da als wir.

Allein mit Druck sollte ein Staat seinen Bürgern doch auch nicht gegenübertreten.

Das Experiment in Deutschland ist ja keineswegs gescheitert. Vernünftige Argumente haben viele Bürger erreicht – und diese haben die Maßnahmen gegen Corona akzeptiert und befolgt. Eine zu große Anzahl von Menschen hat die Verhaltenssteuerung durch politische Kommunikation aber eben nicht erreicht. Oder diese Leute hören nicht richtig zu.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur "Bundesnotbremse" hat der Politik nun aber großen Spielraum bei der Bekämpfung der Pandemie eingeräumt.

Genau. Und was ist passiert? Die Politik hat sich endlich in Bewegung gesetzt und immerhin eine partielle Impfpflicht auf den Weg gebracht. Sie denkt sogar über eine generelle Impfpflicht nach. Denn das Ziel ist klar: Der Jo-Jo-Effekt – abklingende Welle, aufsteigende Welle – muss gestoppt werden. Wobei eine Impfpflicht tatsächlich nur einen kleinen Teil der Bevölkerung beträfe. Immerhin sind bei uns über 70 Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft.

Die deutsche Impfdebatte ist doch eigentlich ein Luxusproblem. Von unserer Impfquote sind viele Entwicklungsländer weit entfernt.

Stimmt, das Coronavirus ist ein globales Problem. Viele scheinen das immer noch nicht zu verstehen. Wir sind erst auf der sicheren Seite, wenn 90 bis 95 Prozent der Menschen geimpft sind. Damit meine ich nicht die Deutschen oder die Europäer, sondern die gesamte Menschheit. Aber zunächst einmal geht es um die nationale Impfquote.

Die deutsche Politik agiert also zu kurzsichtig?

Ja. Diese Kurzsichtigkeit beginnt bei der Planung von Maßnahmen und endet bei ihrer Ausführung.

Haben Sie da bestimmte Politiker im Blick?

Wir erinnern uns sicher alle an diese eigentümlichen Bund-Länder-Runden der vergangenen Monate. Angela Merkel war da sicher eine der wenigen Anwesenden, die verstanden hat, was exponentielles Wachstum bedeutet. Viele Politiker sind im Rahmen ihrer Möglichkeiten gute Taktiker. Aber es gibt kaum noch Strategen – Politiker, die in langfristigen Zusammenhängen denken.

War Angela Merkel denn so eine Strategin? Sie musste während Ihrer Amtszeit von Krise zu Krise eilen.

In der Corona-Krise hat Merkel unterschätzt, wie schwierig die Verständigung mit den 16 Ministerpräsidenten ist. Sonst hätte sie sicher viel früher auf die harten Verordnungen gesetzt, die wir dann als "Bundesnotbremse" kennengelernt haben.

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Muss man ihr Zögerlichkeit vorwerfen?

Merkel hätte ihre Trümpfe sicherlich besser ausspielen können. Sie wollte ja nicht mehr wiedergewählt werden. Das hätte sie zu ihrem Vorteil nutzen können, denn manche Rücksicht wäre nicht mehr nötig gewesen. Der Fairness halber muss ich aber erwähnen, dass immer wieder jemand mit dem Bundesverfassungsgericht gedroht hat. Und dass einige Ministerpräsidenten die gemeinsam formulierten Maßnahmen schnellstmöglich konterkariert haben.

Also waren es schlicht die Umstände, die Merkels Amtszeit zum Schluss überschattet haben?

Merkels letzte Monate waren geradezu tragisch. Sie hat zu spät erkannt, dass in den Bund-Länder-Konferenzen nur notorisch schlechte Kompromisse herausgekommen sind. Die Länderchefs dachten nur von heute auf morgen – in einer Pandemie ist das keine besonders gute Strategie.

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Neben Politikern standen aber doch auch viele Wissenschaftler im Rampenlicht: Virologen, Epidemiologen und andere. Wie bewerten Sie deren Rolle?

Was viele Kollegen aus der medizinischen Welt nicht begriffen haben, ist eine sehr wichtige Tatsache: Die Kommunikation innerhalb der Wissenschaft mit Fachkollegen ist eine ganz andere, als wenn man sich der breiten Öffentlichkeit gegenüber äußert. Da hat jede Bemerkung gleich Signalfarbe. Auch haben es manche Forscher durchaus genossen, große Aufmerksamkeit zu bekommen. Wenn so jemand dann längere Zeit keine Beachtung erhalten hat, ging er eben schnell wieder in die nächste Talkshow. Da trafen Experten dann bisweilen auf Politiker wie Wolfgang Kubicki. Damit war der Aufmerksamkeits-Boom programmiert.

Wessen öffentliche Rolle sehen Sie denn besonders kritisch?

Die von Thomas Mertens. Der Chef der Ständigen Impfkommission hätte niemals in eine Talkshow gehen dürfen. Er kommt da einfach nicht kompetent rüber, er kann das nicht. Auch seine Aussage gegenüber der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", dass er sein eigenes Kind im Augenblick nicht impfen lassen würde, war ein verheerendes Signal.

Nun hat Karl Lauterbach als neuer Gesundheitsminister ein Expertengremium einberufen. Auch der Virologe Hendrik Streeck ist dabei, dessen Aussagen immer wieder kritisiert wurden. Was halten Sie davon?

Es ist durchaus schon öfter vorgekommen, dass man Personen eine derartige Aufgabe übertragen hat, um sie daran zu hindern, seltsame Aussagen in die Welt hinauszuposaunen. Anscheinend hat die Politik begriffen, dass es bei dieser Form der Beratung gar nicht so sehr um wissenschaftliche Expertise geht. Sondern darum, das Hintergrundrauschen der vielen Leute, die sich zu Aussagen berufen fühlen, sinnvoll zu bündeln. Damit all die Meinungen nicht ungeordnet auf die Bürger einprasseln und in den sozialen Medien missinterpretiert werden.

Zurück zu Angela Merkel: Hat sie als Kanzlerin eine richtig große Leistung vollbracht?

Angela Merkels größte Leistung ist vollkommen unsichtbar.

Welche soll das sein?

Ihre lange Regierungszeit war eine ständige Abfolge von Krisen: Finanz- und Eurokrise, Flüchtlingskrise, Russlands Annexion der Krim, Brexit, Corona-Krise. Deutschland hat in allen diesen Ausnahmesituationen eine führende Rolle gespielt. In der europäischen Geschichte haben unsere Nachbarstaaten in der Regel immer dann, wenn Deutschland eine starke Position innehatte, Allianzen gegen uns geschlossen. Während Merkels Amtszeit ist das nicht passiert. Sie hat es immer geschafft, einen Ausgleich herzustellen und Misstrauen gegen Deutschlands Stärke abzubauen. Das ist eine historische Leistung.

Wird Olaf Scholz ähnlich wie Merkel regieren?

In der Merkel-Raute hat er sich ja bereits geübt. Aber im Ernst: Sicher neigt Olaf Scholz zu einer ausgewogenen und nachdenklichen Betrachtung der Dinge. Er wird aber auch genug damit zu tun haben, seine Koalition zusammenzuhalten.

Ist denn Olaf Scholz Ihrer Meinung nach der richtige Kanzler in dieser Krisenzeit?

Nach 16 Jahren Merkel hätte ich mir persönlich jemanden gewünscht, der stärker die Initiative ergreift. Es müsste kein Gerhard Schröder mit seinem "Basta!" sein. Aber etwas zupackender darf der Regierungschef schon auftreten.

Worin liegen denn die größten Herausforderungen der kommenden vier Jahre?

Die große Herausforderung für die Ampelkoalition besteht darin, erst einmal zu definieren, was diese Herausforderungen überhaupt sind. Außenpolitisch sind Russland und China ein großes Thema. Daneben geht es um die Dekarbonisierung Deutschlands, also den Abschied von fossilen Brennstoffen.

Um die alternativen Energien aufbauen zu können, braucht Deutschland vorübergehend das russische Erdgas. Außerdem ist China einer der wichtigsten Handelspartner.

Richtig, und da wird es kompliziert. Kaum im Amt, ist Annalena Baerbock losgeflogen, um eine wertegebundene Außenpolitik zu betreiben. In Moskau, Peking und auch Washington dürfte man sich allerdings sehr bewusst sein, dass Baerbock nur Rhetorik betreibt. Denn weder Russland noch China und schon gar nicht die USA werden sich von Deutschland reinreden lassen. Sie alle wissen, wie abhängig wir von ihnen sind.

Haben Sie ein Beispiel?

Wenn wir China mit allzu vielen Vorwürfen vergrätzen, verliert Deutschland einen riesigen Absatzmarkt. Die Folgen für unsere Arbeitslosenzahlen und unsere Steuereinnahmen wären dramatisch. Mit leeren Kassen lässt sich aber kein ökologischer Umbau finanzieren.

Was wäre also die Lösung?

Wir müssen zur Rettung des Klimas mit China verhandeln und Peking etwas anbieten, damit die Chinesen ihre eigenen Emissionen drosseln. Seien wir doch ehrlich: Wir können in Deutschland noch so viel Treibhausgase einsparen – ohne China, Russland und die USA ist alles vergebens. Hierzulande glauben leider viele Leute, dass wir die Guten auf der Welt seien und unser Wort deshalb mehr gelte. So funktioniert Politik aber nicht. Diese Erkenntnis wird auch so mancher Grüner noch haben. Für einen Konflikt mit Russland und China sind wir auch schlicht und einfach nicht gerüstet. Erst recht nicht nach Corona.

Professor Münkler, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Herfried Münkler via Videokonferenz
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