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EMA-Empfehlung ab fünf Jahren: Warum zögert die Stiko?


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Ständige Impfkommission
Die unrühmliche Rolle des wichtigsten Corona-Gremiums


26.11.2021Lesedauer: 7 Min.
Thomas Mertens: Seit 2004 ist der Ulmer Virologe Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) am Robert Koch-Institut und seit 2017 ihr Vorsitzender.Vergrößern des Bildes
Thomas Mertens: Seit 2004 ist der Ulmer Virologe Mitglied der Ständigen Impfkommission (Stiko) am Robert Koch-Institut und seit 2017 ihr Vorsitzender. (Quelle: imago-images-bilder)
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Der Impfstoff für Kinder ist in der EU nun ebenfalls zugelassen. Doch bis es in Deutschland offiziell so weit ist, wird noch viel Zeit vergehen. Denn die Ständige Impfkommission entscheidet langsam. Und stiftet gern Verwirrung.

Die Pandemie hat aus Wissenschaftlern Stars gemacht. Ob Christian Drosten oder Melanie Brinkmann – für manch einen sind die Virologen jetzt so etwas wie Helden der Nation.

Thomas Mertens gehört eher nicht dazu.

In Talkshows sitzt der Chef der Ständigen Impfkommission (Stiko), ein 71-jähriger beleibter Herr mit Vollbart und Brille, meist zurückgelehnt in seinem Stuhl, die Hände zusammengefaltet, so als ginge ihn die ganze Aufregung um Corona nicht allzu viel an. Wenn einer so die Ruhe weg hat, könnte das in normalen Zeiten sogar sympathisch rüberkommen. Aber wenn sprichwörtlich die Hütte brennt, wirkt es dann doch irritierend.

Während Mertens Virologen-Kollegen als Mahner auftreten und der Politik ein Versäumnis nach dem anderen vorwerfen, ist es beim Stiko-Chef umgekehrt: Er wird von der selbst schon zögerlichen Politik zum Handeln gedrängt. Als Beobachter fragt man sich nun, da die bislang schlimmste Welle das Land erfasst hat: Wie kann das eigentlich sein?

Im Dauerfeuer der Kritik

Denn die Stiko ist so etwas wie das wichtigste Gremium der Pandemie, weil es über die Sicherheit von Impfstoffen berät, und dann Empfehlungen für deren Einsatz abgibt. Gleichzeitig steht kaum eine Institution seit dem Corona-Ausbruch so sehr in der Kritik wie jene, die vom pensionierten Ulmer Virologen Mertens angeführt wird.

Pensionär? Ja, richtig. Der 18-köpfige Expertenrat, der aus Medizinern verschiedener Fachbereiche zusammengesetzt ist, arbeitet ehrenamtlich – was angesichts der Bedeutung der Arbeit gerade in Zeiten einer Jahrhundertkrise seltsam unangemessen erscheint. Kein Wunder, dass viele glauben, das Gremium gehöre dringend reformiert und modernisiert. Doch grundsätzliche Veränderungen dauern in Deutschland eben. So viel Zeit lässt das Virus aber nicht.

Auch jenseits einer überfälligen Großreform gibt es jedoch Dinge, die bei der Stiko irritieren und die sich vergleichsweise leicht beheben lassen müssten. Natürlich ist unzweifelhaft, dass die Mitglieder der Kommission ihr Bestes geben und streng wissenschaftlich entscheiden. Unstrittig ist auch, dass die Stiko ihr Arbeitstempo gegenüber früher erhöht hat: Trafen sich die Experten vor der Corona-Krise nur wenige Male im Jahr, tagen sie inzwischen zumeist wöchentlich. So weit, so respektabel.

Gremium für allgemeine Verunsicherung

Und dennoch: Die Kommission hat immer wieder unnötig Verwirrung gestiftet und sich für ihre Entscheidungen zu viel Zeit gelassen. Wohl auch deshalb sieht manch einer in ihr inzwischen eher einen Impfverhinderer. "Ich glaube, dass manche Empfehlung zu viel Zeit braucht", sagt etwa Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek t-online.

Den Vorwurf der besonderen Langsamkeit müssen sich die Experten gefallen lassen, auch wenn sie damit nicht allein sind. Am Donnerstag empfahl die EU-Arzneimittelbehörde Ema die Impfung für Kinder ab fünf Jahren. Schon das ist eine reichlich späte Entscheidung. In Israel wird diese Altersgruppe seit Monaten geimpft, in den USA seit Anfang November. Europa ist also eh schon langsam.

Um diesen Rückstand zumindest etwas aufzuholen, empfahl Österreichs Nationales Impfgremium sofort die Impfung für Kinder. In Deutschland dagegen hieß es seitens der Stiko: Moment, bloß nichts überstürzen! Mertens kündigte an, die Stiko wolle ihre Empfehlung zur Corona-Impfung für Kinder am 20. Dezember abgeben.

Zu viel deutsche Gründlichkeit?

Wer notorisch nur das Positive sehen will, könnte sagen: Das ist immerhin noch in diesem Jahr. Und womöglich rechtzeitig zu dem Termin, an dem die entsprechenden Lieferungen des Impfstoffs eintreffen. Aber bei vielen Eltern dürfte die Enttäuschung über den späten Zeitpunkt trotzdem groß sein. Viele sorgen sich um die Gesundheit ihrer Kinder, zumal das Infektionsgeschehen in den Schulen sehr hoch ist.

Deshalb verabreichen besonders engagierte Ärzte auch jetzt schon, ohne Stiko-Empfehlung, Kindern eine geringere Dosis des Erwachsenen-Impfstoffs. Etwa ein Drittel des Vakzins. München beispielsweise will möglichst schnell mit der Impfung der Fünf- bis Elfjährigen beginnen und richtet dafür gerade kindgerechte Impfstraßen ein.

Nur eine breit angelegte Impfkampagne für die neue Zielgruppe wird es bundesweit kaum geben. Auch das ist eine verpasste Chance: Es wäre zur Pandemiebekämpfung wahrscheinlich nicht das Schlechteste, wenn noch vor den Weihnachtsferien Massenimpfungen an Schulen starten würden.

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Warum die Stiko überhaupt noch mal extra abwägt? Im Falle der Kinderimpfung wurde das Vakzin für seine Zulassung nur unter 300.000 jungen Probanden getestet. Das sind streng genommen zu wenige Teilnehmer, um seltene Nebenwirkungen zu entdecken. Für ihre Empfehlungen wägt die Stiko ab, wie groß der individuelle Nutzen und wie hoch der positive Effekt auf das Infektionsgeschehen ist. Beides setzt sie in Relation zu den potenziellen Risiken durch die Covid-Impfung.

Klingt irgendwie beruhigend gründlich. Ist aber kein wirklicher Trost. Vor allem deshalb nicht, weil Deutschland nun zum wiederholten Mal im internationalen Vergleich ein Nachzügler ist. Denn auch die beiden vorherigen Stiko-Empfehlungen kamen eher langsam daher.

Zuletzt bei der Booster-Impfung. Israel begann im Juli mit den Auffrischungen, die USA verteilen seit September den dritten Pikser. In Deutschland wird erst seit Oktober geboostert. Aber Fahrt nahm die Kampagne zunächst nicht auf. Denn die Stiko empfahl die Booster-Impfung zunächst nur für über 70-Jährige. Das änderte sich erst vor wenigen Tagen. Da hatten aber längst Hunderttausende Jüngere die Arztpraxen gestürmt. Sie waren mit ihrer Geduld einfach am Ende.

Auch bei der Corona-Impfung für Jugendliche verging viel Zeit. Im Sommer machten Politiker der Stiko Druck, das Expertengremium solle nun endlich eine Empfehlung für die 12- bis 17-Jährigen aussprechen. Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble appellierte an die "Verantwortung" der Stiko. Die Corona-Risiken seien auch für Kinder um ein Vielfaches höher als die einer Impfung. Er wünschte sich persönlich als Großvater, so Schäuble im Sommer, dass seine Enkel möglichst bald geimpft werden könnten.

Das Virus gönnt sich keine Pause

Die Impfempfehlung erteilten die Politiker schließlich selbst. Ein ungewöhnlicher Weg zwar, aber das neue Schuljahr stand kurz bevor. Und in das sollten zumindest die älteren Jahrgänge nicht ungeschützt starten. Das war auch Profilierung im Wahlkampf. Einerseits. Andererseits wurden in den USA 12- bis 17-Jährige schon Anfang Mai geimpft. Auch die Ema ließ die Impfung für diese Altersgruppe bereits ab Ende Mai zu und Frankreich impfte seine Jugendlichen entsprechend schon ab Juni.

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Auf die zögerlichen Entscheidungen der Stiko angesprochen konterte Mertens: "Unsere Aufgabe ist es, auf der Grundlage aller verfügbaren Erkenntnisse, die beste Impfempfehlung für die Bürger dieses Landes und auch für die Kinder dieses Landes zu geben." Was er nicht beantwortete: Wann eigentlich der Zeitpunkt gekommen ist, an dem alle verfügbaren Erkenntnisse vorhanden sind. Und warum andere Länder einfach schneller sind. Denn die Pandemie läuft ja weiter, das Virus gönnt sich keine Pause.

Den selten um klare Worte verlegenen bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder veranlasste die deutsche Langsamkeit jedenfalls bereits im Juni zu einer deutlichen Botschaft: "Wir schätzen die Stiko, aber das ist eine ehrenamtliche Organisation. Die Ema, die europäische Zulassungsbehörde, das sind die Profis."

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Wenn Langsamkeit das einzige Problem wäre

Wenn Langsamkeit das einzige Problem der Stiko wäre, könnte man immerhin noch sagen: Ja gut, die Deutschen sind eben besonders gründlich. Nur brauchen die Experten nicht nur besonders lang, sie stiften auch noch viel Verwirrung. Manchmal wirkt die Stiko wie ein Gremium für allgemeine Verunsicherung.

Da ist zum Beispiel die immer wieder missverständliche Wortwahl von Stiko-Chef Mertens. So wie am 15. Juli in der Talkshow von Markus Lanz. "Würden Sie Ihre Enkel impfen lassen?", wollte der Moderator vom Virologen wissen. Der Stiko-Chef schlingerte etwas und sagte dann: "Nein, gesunde Kinder würde ich jetzt im Augenblick nicht impfen lassen."

Verständlich war, dass Mertens keine persönliche Empfehlung abgeben konnte, die dem Rat des eigenen Gremiums zuwiderläuft. Doch das war nicht der Punkt. Es waren seine ungeschickt gewählten Worte, aus denen sich ableiten ließ, dass ein gesundes Immunsystem zum Schutz gegen Corona reicht. Was viele Eltern noch heute zweifeln lässt, ob sie ihre Kinder impfen lassen sollen.

Das Astrazeneca-Debakel

Besonders groß war die Verunsicherung beim Impfstoff von Astrazeneca. Im Januar hatte die Stiko ihn nur für Menschen zwischen 18 und 64 Jahren empfohlen. Ein Sonderweg, der damals auf viel Unverständnis stieß. Denn die Ema, also die europäische Behörde, empfahl den Einsatz des schwedisch-britischen Impfstoffs ohne Altersbeschränkungen. Die Stiko dagegen verwies auf die aus ihrer Sicht nur lückenhafte Datenlage für ältere Jahrgänge.

Dann folgte das Debakel: Ausgerechnet in jener Altersgruppe, für die die Stiko ausdrücklich die Impfung empfahl, erlitten einige Geimpfte schwerwiegende Hirnvenenthrombosen. Zwar traten diese nur äußerst selten auf, doch der Einsatz des Vakzins wurde europaweit ausgesetzt.

Und die Stiko? Die riet auf einmal zum Gegenteil von dem, was sie am Anfang empfahl: Nämlich eine Impfung nur für über 60-Jährige. Das Vakzin war also wieder einsetzbar, aber die Verunsicherung war groß. Das Vertrauen in den Impfstoff war dahin, er wurde zum Ladenhüter. Stiko-Chef Mertens konnte die Aufregung allerdings nicht so recht verstehen. Er sagte: "Das Ganze ist einfach irgendwie schlecht gelaufen." Es klang ein wenig so, als gehe es nur um ein verlorenes Fußballspiel.

Zu langsam, zu verwirrend

Zu langsam, zu verwirrend – vermutlich wird die Stiko diese Probleme nicht mehr abstellen. Zumindest nicht in dieser Pandemie. Aber, da sind sich inzwischen viele Experten einig, bei der nächsten Katastrophe sollte Deutschland deutlich besser aufgestellt sein. Und das gilt eben auch für die Stiko.

Bayerns Gesundheitsminister Holetschek fordert im Gespräch mit t-online: "Ich wünsche mir schon schnellere Entscheidungen in der Stiko. Wir haben bei den Auffrischimpfungen gesehen, dass trotz breiter Datenbasis die Empfehlung für einen Booster für alle erst spät kam." Weiter moniert er: "Auch die Empfehlung der Stiko für die über 70-Jährigen kam erst Anfang Oktober. Da hatte die Gesundheitsministerkonferenz schon Wochen zuvor eine Auffrischimpfung auf Basis der Daten aus Israel für vulnerable Gruppen empfohlen."

Holetschek ist sich sicher, dass sich mit einer früheren Empfehlung der Stiko schon im Verlauf des Septembers in den Alten- und Pflegeheimen mehr Menschen für einen Booster entschieden hätten. "Aus wissenschaftlicher Sicht mögen diese Entscheidungen richtig gewesen sein, aus politischer Sicht war das natürlich schwierig. Wir müssen vor die Lage kommen – gerade angesichts jetzt wieder explodierender Infektionszahlen."

Eigentlich kann niemand anderes als ein Rentner den Job machen

Holetschek übt allerdings auch etwas Selbstkritik. Die Politik müsse die Stiko besser unterstützen, sagt er. Damit deutet er an, dass eben auch die Politik Fehler in der Pandemie gemacht hat. Sie hat die Stiko zwar gern vor sich hergetrieben, aber auch nach fast zwei Jahren noch immer nicht dafür gesorgt, dass die Experten zumindest durch hauptamtliche Strukturen unterstützt werden.

Da passt es ins Bild, dass Stiko-Chef Mertens vor einiger Zeit sinngemäß gesagt haben soll, eigentlich könne niemand anderes als ein Rentner wie er den Job machen. Warum? Weil er für ein Ehrenamt schlichtweg viel zu zeitaufwendig sei.

Verwendete Quellen
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