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Zum journalistischen Leitbild von t-online.NSU-Chef-Aufklärer "Etliche Merkwürdigkeiten und kaum noch erklärbare Zufälle"
Am 4. November 2011 flog die Neonazi-Terrorserie des Nationalsozialistischen Untergrunds auf. Die offizielle Version geht von drei Tätern aus: Zwei sind tot, eine im Gefängnis. Clemens Binninger glaubt jedoch an Mittäter.
Über Jahre lebten Neonazi-Terroristen im deutschen Untergrund. Sie mordeten, sie raubten Banken aus, sie legten Bomben – ohne dass Ermittler ahnten, dass es Rechtsextremisten waren, die die Verbrechen begingen. Vor nun zehn Jahren flog die Terrorserie auf. Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt erschossen sich auf der Flucht, ihre Komplizin Beate Zschäpe wurde zu lebenslanger Haft verurteilt. Mehrere Unterstützer kamen mit weniger schweren Strafen davon.
Clemens Binninger hat viele Jahre versucht, die in der deutschen Geschichte beispiellose Terrorserie aufzuklären, zunächst im ersten Untersuchungsausschuss des Bundestags, dann als Vorsitzender in einem weiteren. Der ehemalige Polizeibeamte sichtete Akten, befragte Zeugen und ging Spuren nach, die Polizei und Generalbundesanwalt nicht mehr verfolgten. Dabei begann er an der offiziellen Tatversion zu zweifeln.
Binninger ist heute überzeugt: Nicht alle NSU-Täter wurden gefasst. Im Interview mit t-online spricht er über die Spurenlage, den Polizistenmord von Heilbronn, das noch immer nicht vollständig bekannte Unterstützerumfeld der Terrorgruppe und die Hoffnung auf weitere Aufklärung.
t-online: War der NSU nur zu dritt? Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt, das sind die alleinigen Täter?
Clemens Binninger: Ich glaube nicht, dass der NSU nur ein Trio war. Und auch, dass Mundlos und Böhnhardt all diese Verbrechen allein begangen haben sollen, kann ich mir nicht vorstellen. Dafür ist die Spurenlage zu dünn. Es geht dabei um 27 Taten: zehn Morde, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Banküberfälle.
Was lässt Sie daran zweifeln?
An keinem der 27 Tatorte hat man DNA oder Fingerabdrücke von Mundlos oder Böhnhardt gefunden – dafür aber anonyme DNA, zum Beispiel beim Polizistenmord in Heilbronn. Natürlich können Täter es vermeiden, DNA zu hinterlassen, wenn sie besonders raffiniert vorgehen. Aber dass so etwas an 27 Tatorten gelingt, wäre sehr, sehr ungewöhnlich.
Das ist aber nicht alles?
Einige der Morde wurden an so öffentlichen Orten begangen, dass Täter eigentlich auf Unterstützer angewiesen sind, die bei Vorbereitung und Flucht helfen. Für den Tatort in Kassel wurde ein Notizzettel mit einer Skizze des Internetcafés gefunden, die womöglich nicht von Mundlos und Böhnhardt angefertigt wurde. Andere Tatorte wiederum waren so abgelegen, dass man sich fragt, wie zwei Täter ohne Ortskenntnis dorthin kommen.
In Heilbronn gab es übereinstimmende Zeugenaussagen, die auf fünf bis sechs Tatbeteiligte hinweisen. Die Ermittler des Landeskriminalamts haben diese Hinweise sehr ernst genommen, dann allerdings verworfen, als das Duo als alleinige Täter festzustehen schien.
Der Polizistenmord in Heilbronn ist ja auch in anderer Hinsicht bis heute mysteriös: Warum tötete der NSU eine Polizistin, warum ausgerechnet Kiesewetter?
Der Generalbundesanwalt geht von einem Zufallsopfer aus. Motive wären demnach, den Staat direkt anzugreifen und Waffen zu erbeuten. Das sind aber reine Hypothesen, an denen der Untersuchungsausschuss und ich Zweifel hatten, denn sie sind nicht ausreichend belegt. Dass Mundlos und Böhnhardt beteiligt gewesen sein müssen, daran besteht für mich kein Zweifel. Dafür sprechen Blutspuren des Opfers an einer Jogginghose von Mundlos, die Bekenner-DVD und die gefundenen Waffen. Es gibt aber dennoch etliche Merkwürdigkeiten und kaum noch erklärbare Zufälle.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel die verwendeten Waffen. Die Täter haben beim Mord in Heilbronn seltsamerweise nicht die Ceska-Pistole verwendet, die Tatwaffe bei allen anderen Morden war. Stattdessen wurde auf Kiesewetter und ihren Kollegen mit einer Tokarew und einer Radom geschossen. Man könnte die Vermutung haben, dass die Täter gerade keinen Zusammenhang zur Mordserie entstehen lassen wollten.
In einem früheren Interview sagten Sie uns, die Spurenlage könne darauf hindeuten, dass Mundlos und Böhnhardt nicht die Schützen waren.
Es gibt das Gutachten eines Sachverständigen, der die Blutspuren auf der im NSU-Unterschlupf gefundenen Jogginghose ausgewertet hat. Der Träger der Hose könnte demnach bei der Schussabgabe neben dem Schützen gestanden, aber nicht selbst geschossen haben. Wenn das so wäre, würde das bei fast zeitgleichen Schüssen auf Fahrer- und Beifahrerseite des Streifenwagens bedeuten: Es müssen mindestens drei Täter gewesen sein. Dafür spricht auch eine anonyme DNA-Spur auf dem Rücken des angeschossenen Kollegen, die bislang niemandem zugeordnet werden konnte.
Und die Zeugenaussagen, die später nicht weiter verfolgt wurden, als der NSU aufgeflogen war.
Mehrere Zeugen haben übereinstimmend ausgesagt, blutverschmierte Männer in der Nähe des Tatorts gesehen zu haben. Es gab Phantombilder. Diese Hinweise wurden, bevor der NSU aufflog, als sehr relevant bewertet. Auch die Ermittler hielten diese Aussagen für glaubhaft und plausibel.
Nach dem der NSU am 4. November 2011 aufgeflogen und die Tatbeteiligung von Mundlos und Böhnhardt offensichtlich war, wurde dem aber nicht weiter nachgegangen. Ich halte das für voreilig. Der Untersuchungsausschuss hat sich deswegen mit diesen Zeugenaussagen noch einmal intensiv befasst.
Zu welchem Ergebnis kamen Sie?
Die Aussagen der Zeugen, die sich nicht kennen und an verschiedenen Orten ihre Wahrnehmung gemacht haben, ergänzen sich zu einem stimmigen Bild und das macht sie plausibel. Demnach wären es mehr als zwei Täter gewesen, möglicherweise fünf bis sechs. Die Trio-These vom NSU – Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe als einzige Täter – wäre dann nicht zu halten.
Natürlich sind das nur Indizien und man könnte auch entgegnen, dass es die blutverschmierten Männer zwar gab, sie aber nichts mit der Tat zu tun hatten. Aber wie wahrscheinlich ist das? Binnen einer halben Stunde in Tatortnähe? Ein Mann der sich am Neckar Blut von der Hand abwäscht oder ein anderer, der, ebenfalls blutverschmiert, in größter Eile in ein wartendes Auto springt? Und nichts davon hat etwas mit der Tat zu tun? Das halte ich nicht für schlüssig.
Unbekannte Täter könnten auch unerkannte Taten bedeuten?
Das ist nicht vollkommen ausgeschlossen. Die Polizeien wurden nach 2011 gebeten, unaufgeklärte Fälle erneut zu überprüfen, ohne Ergebnis. Erst im Prozess konnte ein bis dato unbekannter Sprengstoffanschlag in Nürnberg dem NSU zugeordnet werden. Eine ZDF-Recherche wiederum hat herausgefunden, dass sich der Tatort eines Mordes am 1. März 2006 vor einer Moschee in Rheda-Wiedenbrück auch auf einer beim NSU gefundenen Adressliste findet. Ob das tatsächlich miteinander zusammenhängt, ist unklar, zeigt aber, dass wir uns nicht sicher sein können, dass es doch noch Taten gibt, bei denen der Zusammenhang mit dem NSU nicht erkannt wurde.
Auf derselben sogenannten "10.000er"-Liste finden sich auch Adresse und Name Walter Lübckes, der viele Jahre später von einem Rechtsextremisten ermordet wurde.
Es handelt sich bei den Listen des NSU zum Teil um sehr große Datensammlungen, die nicht in jedem Fall den Schluss zulassen, dass jemand gezielt ausgespäht wurde. Trotzdem könnte das ein außergewöhnliches Verdachtsmoment sein. Die Frage ist: Aus welchem Grund hatte jemand aus der rechten Szene Walter Lübcke damals schon im Visier? Das war ja lange vor der Flüchtlingskrise 2015, in deren Verlauf Lübckes Aussagen seinen späteren Mörder provoziert haben sollen. Hat jemand für diese Liste zugeliefert?
Wie haben Sie denn Medienberichte aufgenommen, dass ausgerechnet der ehemalige Verfassungsschützer Andreas Temme im Umfeld Lübckes gearbeitet hat – und dass er zuvor auch noch dienstlich mit dem Mörder Stephan Ernst befasst war? Temmes Rolle im NSU-Mord von Kassel ist ja bis heute nicht vollkommen aufgeklärt.
Ich würde da nicht zu viel spekulieren oder Zusammenhänge konstruieren. Er wurde ins Regierungspräsidium versetzt, das ist eine große Behörde. Da kennt nicht jeder Mitarbeiter den Regierungspräsidenten oder hat gar persönlich mit ihm zu tun.
Es hat aber Spekulationen befeuert: In der Öffentlichkeit ist die Ansicht ja bis heute sehr verbreitet, dass der Verfassungsschutz beim NSU wissentlich weggesehen habe.
Man muss fair bleiben. Die Fehler in den Verfassungsschutzbehörden waren gravierend und zwar über viele Jahre. Das hat Vertrauen zerstört. Aber: Ich habe viele Akten gelesen und viele Zeugen befragt. Ich schließe aus, dass eine Behörde vom NSU und was sich dahinter verbirgt, gewusst hat. Dass allerdings keiner der vielen V-Männer in der Szene von dem Trio gewusst haben soll, kann ich mir nur schwer vorstellen. Vermutlich haben V-Leute gelogen oder Wissen zurückgehalten. Der Verdacht besteht jedenfalls.
Die V-Leute waren aber nicht das einzige Problem.
Es kam vieles zusammen, vor allem hat man die Möglichkeit eines bewaffneten Rechtsterrorismus weitestgehend unterschätzt und nicht für möglich gehalten. Das zeigt sich besonders deutlich im Jahr 2004. Das Bundesamt für Verfassungsschutz hatte in diesem Jahr einen Sonderbericht über gewaltbereiten Rechtsextremismus angefertigt. Darin wurden auch die untergetauchten Mundlos und Böhnhardt in Zusammenhang mit früheren Sprengstoffdelikten namentlich genannt.
Trotzdem hat niemand die beiden mit dem Sprengstoffanschlag in der Kölner Keupstraße, wenige Wochen zuvor, in Zusammenhang gebracht. Obwohl es Videomaterial gab. Auch eine umfassende Abfrage und Recherche in der Sprengstoffdatei des Bundeskriminalamts hätte zu Mundlos und Böhnhardt führen können, die dort aufgrund ihrer früheren Taten gespeichert waren. Keiner dieser Ansätze wurde konsequent genutzt.
Woran lag das?
Die Ermittler hatten sich sehr früh unnötig auf Ermittlungen gegen organisierte Kriminalität festgelegt. Verfassungsschutz und Polizei haben sehr schlecht zusammengearbeitet. Es gab in den Ermittlungen, nicht nur bei dem Sprengstoffanschlag, immer wieder Ansatzpunkte, die in die rechtsextremistische Szene und damit möglicherweise auch zu Mundlos und Böhnhardt hätten führen können – wenn die Behörden ihre Erkenntnisse vernetzt hätten.
Könnten auch heute wieder Behörden aneinander vorbei arbeiten, Terrortaten also unentdeckt bleiben?
Menschliche Fehler sind nie auszuschließen. Aber die Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten hat sich verbessert. Die meisten Empfehlungen unseres Untersuchungsausschusses wurden umgesetzt, Strukturen und Rechtsgrundlagen angepasst. Die Fehler der NSU-Ermittlungen sollten sich also nicht wiederholen. Doch die Veränderungen müssen in den Behörden natürlich auch verinnerlicht und gelebt werden.
Haben Sie die Hoffnung, dass die Morde des NSU noch komplett aufgeklärt werden?
Wir haben in den Untersuchungsausschüssen alles in unserer Macht Stehende getan. Irgendwann muss man den Mut haben, zu sagen: Alle Fragen werden wir vielleicht nie beantworten können. Ermittlungsansätze scheint es aber noch zu geben, denn der Generalbundesanwalt führt nach wie vor Verfahren gegen neun Beschuldigte und eines gegen Unbekannt. Vielleicht bringen die Möglichkeiten der DNA-Forensik neue Erkenntnisse. Oder jemand packt doch noch aus. Damit rechne ich aber nicht mehr.