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LTW Sachsen-Anhalt: Wie verhindert man einen Wahlsieg der AfD?


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Ministerpräsident Reiner Haseloff
Diesen Kampf muss er gewinnen


Aktualisiert am 04.06.2021Lesedauer: 9 Min.
Reiner Haseloff: Der Ministerpräsident ist in Sachsen-Anhalt beliebt – auch bei der politischen Konkurrenz. Doch hat er seine Partei im Griff?Vergrößern des Bildes
Reiner Haseloff: Der Ministerpräsident ist in Sachsen-Anhalt beliebt – auch bei der politischen Konkurrenz. Doch hat er seine Partei im Griff? (Quelle: Florian Gaertner/imago-images-bilder)

Am Sonntag könnte die AfD in Sachsen-Anhalt stärkste Kraft werden – und auch in Berlin einen Erdrutsch auslösen. Denn im Höhenflug der Rechten spiegelt sich die verbreitete Angst vor der Zukunft. Reise durch ein zutiefst verunsichertes Land.

Das Wort, das die Welt von Matthias Lindig verändert, ist sehr lang, aber es geht ihm ganz leicht über die Lippen. Er hat es schon so oft ausgesprochen, dass sein Mund dabei fast rattert: "Kohleverstromungsbeendigungsgesetz".

34 Buchstaben, die für die Energiewende in Deutschland stehen, für Sachsen-Anhalt aber einen scharfen Einschnitt bedeuten: Alle Kohlekraftwerke werden stillgelegt. Spätestens 2038 ist Schluss, insgesamt fallen Tausende Arbeitsplätze weg. Kohleverstromungsbeendigungsgesetz – das bedeutet hier erst mal: weniger Stellen, mehr Arbeitslosigkeit, keine Perspektive.

Matthias Lindig, 44 Jahre alt, und eigentlich ein fröhlicher Mensch, arbeitet schon sein halbes Leben als Ingenieur im Braunkohleabbau in Sachsen-Anhalt. Sein Arbeitgeber ist die "Mitteldeutsche Braunkohlegesellschaft" (Mibrag). Wie es mit seinem Job weitergeht, ist noch offen. Lindig sitzt an diesem Junitag in seinem weißen Toyota und fährt eine Geröllstraße im Tagebau entlang. Rechts steht ein Bagger, links liegt die Kohle, eine Mondlandschaft, die bald verschwinden wird. Er sagt: "Es gibt bislang zwar viele Pläne, aber keine konkreten Ansätze, wie die Arbeitsplätze hier alle erhalten werden können."

Es sei Unsinn, dass deshalb gleich alle Arbeiter im Osten die AfD wählen würden. Aber: "Erst kam die Wende, jetzt kommt die Energiewende. Man muss schon aufpassen, dass Menschen da nicht in die Frustration abdriften."

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Die AfD könnte der Wahlsieger werden, die stärkste Kraft

Der sogenannte Strukturwandel im Osten Deutschlands wird an wenigen Stellen so deutlich wie hier in Zeitz, im südöstlichen Zipfel von Sachsen-Anhalt. Und an wenigen Orten lässt sich so deutlich beobachten, wie unter anderem durch den Abbau von Stellen in der Energiewirtschaft die Unsicherheit wächst.

Mittlerweile wird klar, dass die Corona-Maßnahmen aufgehoben werden, doch die strukturellen Einschnitte werden bleiben. Dieser Kahlschlag ist der Boden für eine politische Veränderung, die sich aktuell in eine Richtung besonders stark entwickelt: ins Extreme.

In Sachsen-Anhalt ist bei der Landtagswahl am kommenden Sonntag etwas möglich, das es in Deutschland bislang nicht gab: Die AfD könnte stärkste Partei im Landesparlament werden. Der Wahlsieger. Die Schockwellen würden wohl weit über Sachsen-Anhalt hinausreichen. Nicht nur CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet wäre massiv unter Druck. Auch SPD, FDP und Grünen wäre es nicht gelungen, das Debakel zu verhindern. Es wäre so etwas wie das Scheitern der alten Bundesrepublik.

Aber kommt es wirklich so weit? Oder geht die Sache doch noch einmal gut? Vor wenigen Tagen sah eine Umfrage die AfD noch vor der CDU, jetzt wiederum zeichnet sich ab, dass die Christdemokraten knapp vorn liegen könnten: Mit 29 Prozent, dahinter folgt die AfD mit 28 Prozent. Das sagt zumindest eine "Civey"-Umfrage für den Spiegel. Beim jüngsten Politbarometer vom Donnerstag war der Abstand zwischen beiden Parteien zwar größer, aber Gewissheit gibt es nicht.

Es wird wohl knapp, egal wer gewinnt.

Sicher ist: Die AfD fordert die anderen demokratischen Parteien in bislang unbekannter Weise heraus. Für CDU, SPD, Grüne, Linke und FDP in Sachsen-Anhalt stellt sich bei allen Unterschieden eine gemeinsame Aufgabe: Wie gelingt es, die AfD zu stoppen? Es ist der Kampf um die politische Deutungshoheit. Der Kampf darum, wie man gegen eine extrem rechte Partei, die immer mächtiger wird, noch gewinnen kann.

Matthias Lindig ist auch stellvertretender Vorsitzender des Betriebsrats und mittlerweile bei einer Aussichtsplattform angekommen. Er steigt aus dem Wagen und blickt auf die Braunkohlefelder vor ihm wie auf einen Acker.

Vor wenigen Wochen standen hier der CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff mit dem Kanzlerkandidaten Armin Laschet, um Wahlkampf zu machen. Lindig sagt nur: "Die Aufgabe, die auf die Arbeiter zukommt, ist nicht einfach."

Und jetzt finden viele Arbeiter, dass sie von den Entwicklungen und dem Stellenabbau überrollt werden. Sie selbst sind dabei die Verlierer. Die AfD geriert sich derweil vor Ort als Sprachrohr der Abgehängten und die Umfragewerte legen vor der Wahl entsprechend zu.

Selbst Haseloff mahnt: "Hausaufgaben besser machen"

Der Mann, der verhindern will, dass diese Entwicklung so weiterläuft, heißt Reiner Haseloff. Seit zehn Jahren regiert der 67-Jährige in Magdeburg als Ministerpräsident. Eigentlich wollte er sich bereits in den Ruhestand verabschieden, jetzt muss er dafür kämpfen, dass die AfD nicht die Wahl gewinnt. In Berlin halten ihn nicht wenige für den einzigen Politiker vor Ort, der das verhindern kann.

Wenn man Haseloff in diesen Tagen erreichen will, hat er nur kurz Zeit. Er eilt von Termin zu Termin, spricht mit Bürgern, hält Reden, begrüßt die CDU-Prominenz, die alle zur Unterstützung in sein Bundesland kommen: Markus Söder, Friedrich Merz, Armin Laschet.

Wenn man ihn nach viel Hin und Her dann doch noch erwischt, sagt Haseloff: "Dass die AfD hier so stark wurde, hat verschiedene Gründe, vor allem ist es Ausdruck von Protest. Als CDU müssen wir unsere Hausaufgaben machen und besser verdeutlichen, warum eine kluge Politik der Mitte gut für unser Land ist." Auf den Plakaten lautet der Slogan unter seinem Porträt: "Der Richtige in schwierigen Zeiten."

Und die Zeiten sind schwierig, vor allem für die CDU. Teile der hiesigen Landtagsfraktion träumen bereits von einer Kooperation mit der AfD. In diesen christdemokratischen Kreisen stellt man sich die Frage: Warum die bekämpfen, mit denen man eine komfortable Mitte-Rechts-Koalition bilden könnte?

Als Holger Stahlknecht, bis Ende 2020 Landesinnenminister, solche Gedanken öffentlich äußerte, feuerte ihn Haseloff. Stahlknecht galt als sein Kronprinz, doch dem Regierungschef war das egal. Er benötigte dazu seine gesamte Autorität, nur mit Ach und Krach folgte ihm die Mehrheit der Partei.

Denn in der CDU rumort es. Zwei Fraktionsvizes forderten in einem Papier, das "Soziale mit dem Nationalen zu versöhnen". Und es war keine Satire. Teile der Partei sind bedenklich weit nach rechts gekippt – in Richtung der AfD. Bereits zur Bundestagswahl 2017 schrieb ein Kreisverband sich in die eigenen Leitlinien: "Der Islam gehört nicht zu Deutschland." Die Unterschiede zwischen CDU und AfD verschwimmen bereits vor Ort. Da kann Parteichef Laschet noch so vehement eine andere große Linie ausgeben, die auch Haseloff grundsätzlich teilt.

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Es knarzt und kracht permanent

Im Gespräch mit t-online sagt der Ministerpräsident noch: "Als CDU nehmen wir hier die Aufgabe als Bastion gegen die Rechten wahr. Natürlich ist die Geschlossenheit der Partei da wichtig." Dann muss er schon zum nächsten Termin. Es ist ein Appell an seine eigenen Parteifreunde, sich hinter ihm zu versammeln, nach der Querele mit Stahlknecht. Öffentlich meidet Haseloff es, über ihn zu sprechen. Er hat sich und den anderen politische Ruhe verordnet.

Das Rumoren in der CDU hat auch Auswirkungen auf die ohnehin nicht ganz einfache Koalitionsarithmetik in Magdeburg. 2016 schlossen sich CDU, SPD und Grüne zu einem sogenannten Kenia-Bündnis zusammen, das vor allem ein "Bollwerk gegen rechts" sein sollte. Im Laufe der Wahlperiode votierten CDU-Abgeordnete allerdings auch schon mal dafür, eine Kommission zum Linksextremismus einzusetzen. Der Antrag kam von der AfD, die Koalitionspartner waren entrüstet. 2018 fiel der von den Grünen vorgeschlagene Landesdatenschutzbeauftragte mehrmals in einer Wahl durch, weil manch ein CDUler ihn nicht mittragen wollte.

Das Bollwerk gegen rechts, es bröckelt gewaltig.

Die AfD, das lässt sich bei Reisen durch Sachsen-Anhalt schnell beobachten, dient dabei vor allem als eine Art Folie, auf die sich die gesamte Unzufriedenheit projizieren lässt. Gegen die Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen. Gegen die Corona-Maßnahmen. Und gegen alles, was einem gerade nicht passt.

Formal führt den AfD-Landtagswahlkampf der Spitzenkandidat Oliver Kirchner an. Er blieb im Wahlkampf jedoch eher farblos, der wahre Strippenzieher heißt Ulrich Siegmund. Er gilt als einer der wichtigsten Wortführer des mittlerweile aufgelösten, rechtsextremen "Flügels" der Partei. Der 30-jährige Siegmund soll ihr ein neues, modernes Image verleihen, er trägt gern schicke Anzüge und gibt sich als eloquenter Politiker.

Ihm kommt zugute, dass nicht alle die Partei nur aus Protest wählen. Etliche AfD-Wähler wollen schlicht eine rechtsnationale Partei so stark wie möglich im Landtag sehen.

Erst die Demokratie und dann das Land retten

Die linke Abwehrschlacht gegen die AfD wird an einem sonnigen Freitagnachmittag aus der "Festung Mark" angeführt: Im 19. Jahrhundert diente die Defensivkaserne dazu, Magdeburg gegen seine Feinde zu verteidigen. Und das ist auch an diesem Tag Ende Juni wieder so – zumindest wenn man Cornelia Lüddemann zuhört.

Lüddemann, 53 Jahre alt, roter Blazer, grüne Maske, blonde Kurzhaarfrisur, steht im Hof der Festung auf einer Bühne und sagt, dass das ja gerade für alle eine "krasse Zeit" sei und sie sich ein "geiles" Ergebnis wünsche. Ihre wichtigste Botschaft aber ist an diesem Tag eine andere: "Wir Grüne stehen dafür, dass wir die Brandmauer gegen rechts nicht nur errichten, sondern dass wir sie auch halten!"

Lüddemann ist Fraktionschefin der Grünen im Landtag und bei dieser Wahl Spitzenkandidatin ihrer Partei. Nichts ist für sie gerade wichtiger als der Kampf gegen die AfD, nicht mal der Klimaschutz. Ihr Argument geht so: Die Grünen könnten mit ihren politischen Zielen und dem Kampf gegen die Klimakrise nur erfolgreich sein, "wenn wir die freie, demokratische Gesellschaft hier in Sachsen-Anhalt halten“.

Also erst die Demokratie retten, um dann die Welt zu retten.

Ganz schön viel zu tun für eine Partei, die bei der vergangenen Wahl gerade mal so die Fünfprozenthürde übersprungen hat und derzeit in den Umfragen bei rund zehn Prozent liegt.

"Sehr, sehr bitter"

Wie das genau funktionieren soll, die AfD wieder kleinzukriegen, dafür hat auch Lüddemann keinen klaren Plan. "Es ist schon sehr, sehr bitter", sagt sie t-online am Rande ihres Wahlkampfauftritts. Die AfD, die 2016 mit 24,3 Prozent aus dem Stand als zweitstärkste Partei in den Landtag eingezogen war, könnte ihr Ergebnis diesmal sogar noch steigern.

Fragt man Lüddemann nach den Gründen für den Erfolg der AfD, muss sie länger nachdenken. "Viele Menschen glauben der AfD schlicht, dass sie einfache Lösungen für komplexe Probleme parat hat", sagt Lüddemann. Und schiebt schnell nach: "Obwohl das natürlich Quatsch ist."

Doch Lüddemann sieht noch einen weiteren Grund, und der heißt CDU: "Teile der CDU haben immer wieder Löcher in die Brandmauer gebohrt, die die Kenia-Koalition eigentlich sein sollte, und deutlich nach rechts geblinkt", sagt Lüddemann. Und die AfD? "Nach der Wahl müssen sich die demokratischen Kräfte zusammensetzen und sich fragen, wie wir die AfD wieder überflüssig machen", fordert Lüddemann.

Als wäre alles nicht schon kompliziert genug

Erst einmal wird es nach der Wahl allerdings ohnehin darum gehen, überhaupt eine funktionierende Regierung zu bilden. Und das könnte noch komplizierter werden, als es mit Blick auf die Zahlen ohnehin schon scheint.

Weil die AfD nach Lage der Umfragen wohl wieder mit rund einem Viertel der Stimmen rechnen kann, müssen sich mindestens drei Parteien zusammentun, um eine Regierung ohne sie zu bilden. Einig aber werden die sich auch diesmal vor allem darin sein, die AfD möglichst weit weg von der Macht zu halten. Und sonst in wenig anderem.

Rechnerisch möglich könnten eine Kenia-Koalition aus CDU, Grünen und SPD, eine Deutschland-Koalition aus CDU, SPD und FDP und vielleicht auch eine Jamaika-Koalition aus CDU, Grünen und FDP sein. Zumindest wenn es gut läuft und drei Parteien für eine Mehrheit ausreichen.

Bei den Grünen gehen sie davon aus, dass Kenia nach wie vor die besten Chancen hätte. Ministerpräsident Haseloff wird nachgesagt, die FDP nicht sonderlich zu schätzen, Kenia hingegen durchaus. Das Problem könnte jedoch sein, dass große Teile seiner CDU-Fraktion da anderer Meinung sind. Einige hassten die Grünen regelrecht, heißt es. Und könnten der FDP wesentlich mehr abgewinnen.

Und als wäre das alles nicht schon kompliziert genug, dürfen diesmal auch die CDU-Mitglieder noch mitentscheiden. Sie sollen am Ende über den Koalitionsvertrag abstimmen. Daumen hoch – oder Daumen runter. Und viele von ihnen würden eine Koalition mit der AfD gar nicht so furchtbar finden.

Dass in Sachsen-Anhalt die alte Bundesrepublik scheitert, dass also erstmals die AfD in Regierungsverantwortung kommt – das halten sie aber selbst bei SPD und Grünen nicht für sonderlich realistisch. Zumindest solange Haseloff das Sagen hat. Wird er jedoch von den eigenen Parteifreunden geputscht, könnte bald wirklich eine Kooperation mit der AfD bevorstehen.

Matthias Lindig, der Ingenieur der "Mibrag" ist am Nachmittag dieses Junitags wieder auf dem Weg zurück zur Firmenzentrale. Wieder schlängelt sich der Toyota durch die engen Kurven, er spricht noch immer über den Wandel seiner Welt.

Lindigs Blick gleitet über die riesigen Berge aufgeschütteter Kohle, die künftig immer kleiner werden sollen. In wenigen Monaten beginnt die Vorbereitung der Wahl zum Betriebsrat im Unternehmen, der dann mit um die Stellenkürzungen verhandeln soll. Viele Arbeiter seien jetzt schon verunsichert und wütend. Lindig atmet tief ein und sagt: "Dass der Bergbau keine Jobs für die Ewigkeit sichert, war immer klar. Doch wie schnell sich jetzt alles hier verändern soll, das ist schon krass."

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche und Beobachtungen vor Ort in Sachsen-Anhalt
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