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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Palmer kritisiert Notbremse "Unser Konzept reduziert die Zahl der Fälle stärker"
Die große Koalition will die bundeseinheitliche Notbremse einführen. Sie könnte Corona-Modellprojekte kaputt machen – wie in Tübingen. Oberbürgermeister Boris Palmer spart nicht mit Kritik.
Mit dem Modellprojekt "Öffnen mit Sicherheit" hat die Stadt Tübingen bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Seit Mitte März können sich dort Menschen vor Ort mit schnellem Corona-Test ein Tagesticket abholen, mit dem sie in Läden, zum Friseur oder auch ins Theater und Museum gehen können.
Doch nun droht dem Projekt der Stopp. Denn wenn die bundeseinheitliche Notbremse kommt, müssten Geschäfte und Kultureinrichtungen wegen der hohen Sieben-Tage-Inzidenz im Landkreis Tübingen wieder schließen – obwohl in der Stadt selbst die Zahlen deutlich niedriger sind. Im Gespräch mit t-online schildert Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Grüne) seinen Ärger über die Corona-Politik des Bundes und erklärt, warum sein Ansatz der erfolgreichere ist.
t-online: Am Dienstag hat die Bundesregierung die bundesweite Notbremse auf den Weg gebracht. Ihre Stadt wäre wegen der hohen Inzidenz im umliegenden Landkreis wohl davon betroffen. Hieße das, Sie müssten ihr Projekt beenden?
Boris Palmer: Ja, das ist im Moment meine große Sorge. Dabei zeigen wir in Tübingen, dass unser Ansatz besser funktioniert in der Bekämpfung der Pandemie. Er erlaubt den Menschen mehr Freiheiten und wirkt stärker als die Notbremse. Trotzdem sieht es in der Tat so aus, dass unser Modell durch Bundesgesetzgebung beendet werden muss, weil die Bezugsgröße für die Notbremse der Landkreis ist, dessen Inzidenz über 100 liegt.
Beschreiben Sie doch bitte kurz einmal, wie Ihr Ansatz aussieht.
Unser Prinzip lautet: so viel, so intensiv, so regelmäßig und so flächendeckend zu testen, dass wir Ansteckungen verhindern. Lassen Sie es mich so erklären: Wir suchen die Nadel im Heuhaufen und es wäre schön, man könnte einen Magneten dran halten. Das wäre dann die elektronische Kontaktnachverfolgung, wie sie in Taiwan benutzt wird. Da wir das aber nicht machen können, nehmen wir jeden einzelnen Grashalm in die Hand und schauen, ob es die Nadel ist. Bei einem von Tausend stellen wir dann fest: Es war die Nadel. Die ziehen wir raus und diese eine Person kann dann niemanden mehr anstecken. Wir müssen die Menschen finden, die gar nicht wissen, dass sie ansteckend sind, aber die Pandemie weiter tragen.
Die Stadt Tübingen steht derzeit stabil bei einer Inzidenz von um die 80, während im Landkreis die Zahlen weiter steigen. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?
Ich gehe noch weiter: Wir haben in Baden-Württemberg in mittlerweile mehr als 35 der 44 Stadt- und Landkreise die Notbremse im Einsatz. Und dort steigen die Zahlen weiter – anders als in der Stadt Tübingen. Die Erklärung liegt für mich auf der Hand: Nur zumachen wirkt bei der britischen Mutation nicht mehr, die Leute halten sich nicht mehr genügend an die Regeln. Unser Konzept, intensiv zu testen und mehr Freiheiten zu gewähren, reduziert die Zahl der Fälle stärker.
Warum halten sich denn die Menschen aus Ihrer Sicht nicht mehr an die Regeln?
Nach einem Jahr Pandemie sind die Leute mürbe. Wenn Sie sich nur mal anschauen, wie viele junge Menschen an einem schönen Abend draußen unterwegs sind. Für mich zeigt das, dass inzwischen die Akzeptanz dafür fehlt, allein mit harten Regeln die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Das würde massive gesetzliche Verschärfungen und erheblichen Druck der Polizei erfordern. Ob das aussichtsreich ist, wage ich zu bezweifeln.
Was könnte denn passieren, wenn Sie Ihren Modellversuch beenden müssen und die Notbremse zur Anwendung kommt?
Ich befürchte, dass die Infektionszahlen erneut ansteigen, weil die Menschen sich dann weniger testen lassen. Natürlich müssten auch die Geschäfte schließen, die seit fünf Wochen bei uns offen sind, ohne dass dies zu mehr Ansteckungen geführt hätte. Das wäre für viele Menschen eine herbe Enttäuschung.
Viele sprechen von einem zu tiefen rechtlichen Eingriff, den die geplante Änderung des Infektionsschutzgesetzes vorsieht. Sehen Sie das ähnlich?
Rechtlich kann ich das nicht beurteilen, aber politisch halte ich es für den falschen Ansatz. Durch Zentralisierung der Kompetenzen im fernen Berlin hat sich in der Regel vor Ort wenig verbessert. Wenn man uns vor Ort die Möglichkeiten zum Handeln nimmt, dann wird es für die Menschen meist nicht besser, sondern eher schlechter. Deshalb kann ich schon dem Ansatz nicht folgen.
Wie würde denn für Sie ein besserer bundesweiter Ansatz aussehen?
Zunächst müssten die Modellkommunen, die zeigen, dass sie die Zahlen im Griff behalten, weitermachen dürfen und nicht gezwungen sein, die Notbremse anzuwenden. Nach vorn gedacht würde ich mir wünschen, dass der Bund endlich eine wirksame App zur Kontaktnachverfolgung anbietet, die die Nadel direkt aus dem Heuhaufen herausholt. Und dass das Testen so systematisch angeboten wird und auch mit Testpflichten verbunden wird, dass wir damit die Leute, die wir nicht durch Verfolgung herausfischen können, dennoch finden. Das würde nach meiner Auffassung auch in der dritten Welle die Zahlen schneller nach unten bringen, als die vollkommen einseitige Konzentration auf immer mehr Kontaktbeschränkungen und Verbote, deren Wirksamkeit ich aus den genannten gesellschaftlichen Gründen nicht mehr für so gegeben halte.
Nun sagen jedoch einige, Ihr Ansatz mit weitgehenden Öffnungen sei unverantwortlich.
Ich habe große Zweifel, ob es verantwortlich ist, ein Konzept vorzuschreiben, das nachweislich gar nicht wirkt. Die Notbremsen-Landkreise haben steigende Zahlen und bekommen mit ihren Maßnahmen die Werte nicht runter, obwohl dort schon alles dicht ist. Die Annahme, dass die marginalen Verschärfungen, die die Bundesnotbremse mit sich bringen würde, die Zahlen deutlich senkt, die ist gewagt. Auch Karl Lauterbach sagt, dass er das für unzureichend hält. Und ich glaube, er hat recht. Die Frage nach verantwortungsvollem Handeln stellt sich doch eher umgekehrt: Wie kann man ein Konzept, das gar nicht mehr wirkt, für bundeseinheitlich erklären, und ein anderes Konzept, das viel besser wirkt, beenden?
Werben Sie denn beim Bund für Ihr Modell?
Ja, ich versuche in den Fraktionen des Bundestags mit unseren Daten für eine Genehmigung zu werben: Inzidenz nach fünf Wochen Öffnung etwa die Hälfte des Landesdurchschnitts, bundesweit einzigartige Testdichte, stabile Positivrate der Schnelltests und hohe Akzeptanz in der Bevölkerung. Wenn wir zeigen können, dass man damit in der dritten Welle unter dem Grenzwert von 100 bleibt, dann müsste man das doch kopieren und nicht beenden.
Sie haben am Anfang des Gesprächs die Kontaktverfolgung als Nadelöhr beschrieben. Wo genau liegt das Problem?
Wir haben in Tübingen die gleiche Situation wie im Rest der Republik: Die Kontaktverfolgung funktioniert nicht, weil sie händisch gemacht wird, weil sie so langsam und die Corona-Warn-App völlig wirkungslos ist.
Was muss denn eine effiziente App zur Kontaktnachverfolgung leisten? Und warum kann das die Corona-Warn-App nicht?
Wir sind in der absurden Situation, dass wir immer noch nicht wissen, wo wir uns anstecken. Unsere Handys wissen es aber. Die Corona-Warn-App registriert die Kontakte mit anderen Handys. Man könnte einfach Ort und Zeit dieser Kontakte protokollieren und bei einem positiven Fall dem Gesundheitsamt übermitteln. Dann hätte man alle Kontakte, auch in der Bahn, im Betrieb, oder wo man sich mal kurz aufgehalten hat, und müsste nicht verzweifelt mit händischer Detektivarbeit herausfinden, wer sich angesteckt haben könnte.
Was steht dem denn entgegen?
Eine aus meiner Sicht groteske Überschätzung des Datenschutzes. Diese Daten liegen bei Apple und Google alle vor. Wir erlauben den Unternehmen, darauf zuzugreifen. Nur der Staat tut es nicht. Das ist einer der Gründe, weshalb wir jetzt in der dritten Welle in einen möglicherweise lang anhaltenden Lockdown rauschen.
Nun haben wir so eine App aber nicht. Gibt es eine Alternative?
Die Alternative ist, viel zu testen, um die Infizierten auf diesem Wege zu finden.
Welche Signale bekommen Sie aus Stuttgart? Wird Ihr Antrag, das Tübinger Modell zu verlängern, durchkommen?
Bevor die Bundesnotbremse ins Gespräch kam, hat die Landesregierung unsere Zahlen ähnlich positiv bewertet wie wir. Auch die wissenschaftliche Begleitforschung sagt ja, das Konzept geht auf. Ich bin ganz guter Hoffnung, dass wir durch die Ausweitung der Testpflichten in dieser Woche auf Kitas, Schulen und Betriebe den R-Wert deutlich unter eins drücken könnten. Dass wir also in Tübingen trotz der Öffnungen die Pandemie tatsächlich zurückdrängen würden. Wenn dem Land aber die Kompetenzen entzogen werden, unser Modell zu verlängern, dann hätte das keine Bedeutung mehr.
In den vergangenen Monaten ist viel über Ansätze wie "Zero Covid" oder "No Covid" diskutiert und berichtet worden. Können Sie dem etwas abgewinnen?
Mit der antikapitalistischen, etwas illusionären Idee von "Zero Covid", der Kapitalismus sei an allem und damit irgendwie auch an Corona Schuld, kann ich wenig anfangen. Anders sehe ich das bei "No Covid". Die Initiative hat sich auch unser Modell angeschaut und eine Empfehlung ans Land geschickt, das Projekt mit Verbesserungen weiterzuführen. Ich bin mit der Initiative einverstanden, die Zahlen wirklich runter zu bekommen, und dies lokal und regional zu versuchen, wenn man es bundesweit nicht hinbekommt. Ich sehe Tübingen in diesem Zusammenhang als Beispiel, dass so eine Strategie funktionieren kann.
Aber verfolgt nicht auch der Bund die Strategie, die Zahlen deutlich runter zu bekommen?
Was der Bund macht, ist keine Strategie. Es ist nur die Hoffnung, dass das, was bisher nicht funktioniert hat, plötzlich funktioniert, wenn alle es aus Berlin vorgeschrieben bekommen. Wohingegen die "No Covid"-Strategie darauf setzt, den Ehrgeiz der Menschen zu wecken, ihnen Angebote zu machen, Freiheiten herzustellen und die Zahlen soweit wie möglich zu drücken. Das halte ich für das bessere Konzept.
Herr Palmer, vielen Dank für das Gespräch.