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Scharfer Corona-Lockdown? Lauterbach: "Sonst droht uns eine Katastrophe"


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Lauterbach zur Corona-Krise
"Ohne schärferen Lockdown droht uns eventuell eine Katastrophe"


Aktualisiert am 15.01.2021Lesedauer: 9 Min.
Karl Lauterbach: Der SPD-Gesundheitsexperte ist besorgt über die Corona-Lage – und spricht sich für harte Einschränkungen aus.Vergrößern des Bildes
Karl Lauterbach: Der SPD-Gesundheitsexperte ist besorgt über die Corona-Lage – und spricht sich für harte Einschränkungen aus. (Quelle: imago-images-bilder)

Karl Lauterbach ist hochbesorgt – noch besorgter als sonst. Der SPD-Gesundheitsexperte drängt auf einen härteren Lockdown – und verrät, wann die Zeiten wieder besser werden.

t-online: Herr Lauterbach, wir befinden uns seit Anfang November im Lockdown. Erst etwas großzügiger, seit Mitte Dezember aber ziemlich strikt. Wo stecken sich eigentlich im Moment noch immer durchschnittlich rund 20.000 Menschen pro Tag an?

Karl Lauterbach: Darüber können wir auf Basis von internationalen Studien nur mutmaßen: Wichtige Rollen bei der Verbreitung spielen grundsätzlich Schulen, die Gastronomie und Fitnessclubs. Die sind aber alle seit Längerem zu. Deshalb bleiben eigentlich nur noch Familie und Arbeitsplatz als Hauptquellen. Aber leider wissen wir es nicht genau.

Ist das nicht erschreckend, dass wir noch immer ahnungslos sind?

Nein. Bei der hohen Fallzahl ist es unmöglich, Genaueres zu wissen. Dafür müssten wir das Virus in großem Umfang sequenzieren. Dafür haben wir aber noch nicht die Kapazitäten.

Das klingt irgendwie nicht so, als lebten wir in einem führenden Industrieland. Ist es nicht mindestens genauso verwunderlich, dass wir aufgrund weniger Tests und des Meldeverzugs drei Wochen nach Weihnachten immer noch nicht genau wissen, ob das Fest ein Infektionstreiber war?

Die Meldestellen haben über die Feiertage mit begrenzter Besatzung gearbeitet. Es ist deshalb kein Problem der mangelnden Digitalisierung oder des überzogenen Datenschutzes ...

... immerhin.

Es liegt einfach daran, dass die Mitarbeiter nach monatelanger Arbeit auch einmal frei gemacht haben. Ich finde das nur schwer vermittelbar, aber so ist es nun mal. Es braucht einfach mehr Personal.

Wie groß sind Ihre Sorgen vor der Corona-Mutation aus Großbritannien?

Die Experten, die sich damit näher beschäftigen, sind alle sehr aufgeregt.

Sie auch?

Ja. Die Mutation ist brandgefährlich. Wir müssen davon ausgehen, dass sie fast die Größenordnung eines neuen Virus hat, also wie eine zusätzliche Pandemie wirkt, die die bisherige rasch ablösen könnte. Hätten wir nicht seit zweieinhalb Monaten strengere Maßnahmen, wäre die Mutation angesichts der deutlich höheren Übertragungsrate längst die dominierende Variante. Wir wären voll im exponentiellen Wachstum, gegen das selbst ein jetzt verhängter brutaler Lockdown kaum noch etwas ausrichten könnte.

Reicht dann das Vorhaben von Gesundheitsminister Jens Spahn, nach dem Reisende aus den entsprechenden Risikogebieten einen negativen Corona-Test brauchen, um nach Deutschland zu kommen?

Das ist notwendig, aber reicht nicht aus. In Dänemark werden bereits bis zu vier Prozent der neuen Fälle der mutierten Variante zugeordnet, in den Niederlanden zwei Prozent. Es ist nicht mehr zu verhindern, dass wir in wenigen Wochen ein ähnliches Problem haben werden. Wir riskieren gerade, dass unsere bisherigen Anstrengungen fast alle umsonst waren, wenn wir nicht konsequent handeln.

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Was also tun?

Wir müssen den Lockdown verschärfen. Nur so können wir die Fallzahlen deutlich herunterbekommen, bevor sich die neue Variante richtig ausbreitet. Sonst droht uns eventuell eine Katastrophe.

Und mit welchen konkreten Maßnahmen verhindern wir die?

Wir müssen vor allem in den Betrieben nachschärfen. Es gibt noch immer viel zu wenig Homeoffice und noch immer zu viele Kontakte in den Unternehmen. Dass wir die Arbeitsplätze bislang weitgehend ausgespart haben, können wir uns nicht länger leisten.

Reicht denn ein Recht auf Homeoffice, wie es die Schweiz verhängt hat? Es gibt ja auch Arbeitnehmer, die die Risiken nicht richtig ernst nehmen.

Gut wäre es, zumindest Homeoffice grundsätzlich zur Pflicht zu machen. Die Arbeitgeber müssten dann beweisen, dass es nicht möglich ist. Wahrscheinlich wäre es jetzt sogar die beste Strategie, die Wirtschaft für zwei bis drei Wochen mit Ausnahme des Notwendigen zu schließen, um im sehr harten Lockdown für kurze Zeit das Rennen gegen die weite Verbreitung der Mutationsvarianten zu gewinnen.

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Welche Hebel haben wir darüber hinaus überhaupt noch?

Ich halte auch die Pflicht zum Tragen von FFP2-Masken im Nahverkehr und Einzelhandel für richtig. Es muss aber auch sichergestellt werden, dass sich alle die Masken auch leisten können. Wer das nicht kann, muss vom Staat unterstützt werden. Sei es durch einen Zuschuss oder höhere Regelsätze bei Hartz IV.

Viele werden jetzt denken: Der Lockdown wird nun in der Hoffnung verlängert, dass die Lage danach besser ist. Und dann kommt doch nur eine weitere Verlängerung.

Immer wieder neue Daten für das Ende des Lockdowns sind problematisch, weil es frustrierend sein kann. Ich bin daher für einen harten Lockdown, bis wir die Inzidenz auf unter 25 gesenkt haben. Dann ist die Pandemie wieder beherrschbar.

Ist das in der derzeitigen Jahreszeit überhaupt möglich? Daran gibt es doch Zweifel.

Ich habe mit vielen Experten gesprochen, und wir sind fast alle der Meinung, dass eine Ziel-Inzidenz von 25 auch im Winter erreichbar ist. Wir haben auch keine andere Wahl. Wenn wir uns mit einer Inzidenz von 50 zufrieden geben, haben wir keinen ausreichenden Sicherheitsabstand – und der nächste Lockdown kommt bestimmt. Aber dann kämpfen wir voraussichtlich gegen die Variante B117 und alles wird viel schwerer.

Angenommen, Kanzlerin und Ministerpräsidenten einigen sich bei ihrem Treffen am nächsten Dienstag auf die von Ihnen geforderten Verschärfungen: Haben wir das Ziel von 25 dann Ende Februar erreicht und kommen danach bis zum Frühsommer?

Man darf keine Perspektiven bieten, die unrealistisch sind.

Das wollen wir auch nicht.

Es kommt darauf an, wie die Menschen sich verhalten. Und das wiederum hängt davon ab, wie gut es Wissenschaft und Politik gelingt, die Brisanz der Lage zu kommunizieren. Wenn zu viele Bürger das Gefühl haben, dass es bald ausreichend Impfungen gibt, das Wetter besser wird oder wissenschaftlichen Quermeinungen glauben, werden wir deutlich länger brauchen. Dann wird es bis Ostern dauern – oder sogar länger. Es kommt jetzt auch darauf an, den Ernst der Lage anschaulich und offen zu erklären.

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Seien wir optimistisch: Was ist, wenn es gelingt?

Dann brauchen wir ein paar Wochen, mit etwas Glück bis Ende Februar. Dafür müssen wir es allerdings schaffen, den R-Wert sehr schnell auf 0,7 zu drücken und so niedrig zu halten. Das wäre nur mit wesentlichen Verschärfungen und einem sehr harten Lockdown für mehrere Wochen möglich. Bei einem höheren R-Wert gilt: Das Wetter kann gar nicht schön genug sein, um die Mutation dann noch aufzuhalten.

In einem halbwegs realistischen Szenario: Wann haben wir unser altes Leben zurück?

Ich bleibe zuversichtlich: Wir werden einen sehr guten Sommer haben. Durch das Wetter und die Impfungen können wir uns auf Erleichterungen freuen. Das Virus komplett abzuschütteln, wird aber noch das ganze Jahr dauern. Ein einigermaßen normales Jahr wird erst 2022 wieder.


Jens Spahn sagt, man könne allen, die das wollen, bis zum Sommer ein Impfangebot machen. Ist das realistisch?

In den ersten sechs Monaten werden wir vielleicht 25 Millionen Menschen impfen können. Mehr ginge nur, wenn auch in Kürze der Johnson & Johnson-Impfstoff zugelassen würde.

Er wäre nach Biontech, Moderna und bald wohl AstraZeneca der vierte Impfstoff. Wann könnte er zugelassen werden?

Die ersten Studien sind sehr vielversprechend. Wenn sich diese Daten bestätigen, könnte es Ende Februar so weit sein. Es handelt sich um einen rasch produzierbaren Impfstoff, der nur einmal gespritzt werden muss. Er wird vielleicht eine große Bedeutung bekommen.

Hat die EU bei der Impfstoffbestellung also gar nicht versagt?

Leider doch. Die Impfstrategie der EU ist nicht aufgegangen. Man hat mit viel zu wenig Geld, rund 2,5 Milliarden Euro, für 450 Millionen Menschen verhandelt. Auch mangels Geld konnte die EU nicht von allen Impfstoffkandidaten viel bestellen, sondern nur von den erfolgversprechenden. Für die anderen gab es meist nur Vorverträge. Das führte dazu, dass Moderna und Biontech bis zum November ohne feste Verträge dastanden – und auch deshalb in Europa keine entsprechenden Produktionskapazitäten aufgebaut haben.

Ist eine bessere Strategie bei der Impfstoffbestellung die wichtigste Lehre aus der Pandemie?

Zumindest eine wichtige: Die EU darf einen Impfstoff nie wieder so einkaufen wie dieses Mal. Das war viel zu zaghaft. Es muss viel früher viel mehr Geld in die Hand genommen werden. Und die Verträge müssen sicherstellen, dass der Impfstoff schon produziert ist, wenn er in der EU zugelassen wird. Schließlich wird es künftig mehr Pandemien geben.

Warum müssen wir uns auf eine Phase der Geschichte einstellen, in denen Viren, die vom Tier auf den Menschen überspringen, zu unserer Realität gehören?

Durch die Globalisierung, das Bevölkerungswachstum und den Klimawandel wird es mehr dieser sogenannten Zoonosen geben. Es gibt derzeit nach Schätzungen mindestens 1.000 Viren in Tieren, die theoretisch auf den Menschen überspringen könnten. Deshalb ist eine noch schnellere Impfstoffforschung so wichtig. Da gibt es Ideen, etwa gemeinsame Impfplattformen, auf denen die neuartigen mRNA-Impfstoffe sehr viel schneller entwickelt werden können.

Müssen wir nicht insgesamt viel besser auf Pandemien vorbereitet sein?

Absolut. Es muss immer ausreichend hochwertiges Schutzmaterial zur Verfügung stehen. Und wir müssen in den Kliniken zu jeder Zeit die Intensivkapazitäten vorhalten, die für eine solche Pandemie nötig sind.

Was sind eigentlich die drei wichtigsten Dinge über Corona, die wir seit dem Frühjahr gelernt haben?

Die härteste Lehre zuerst: Immer dann, wenn man glaubt, dass es mit milderen Mitteln zu bekämpfen ist, kommt das Virus zurück. Corona ist ein erbarmungsloser Lehrer, der jede Unaufmerksamkeit ausnutzt und bestraft.

Nun kommt die Hoffnung: Wir haben die Perspektive, Covid durch Impfungen in den Griff zu bekommen. Das gilt nach jetzigem Stand auch für die Mutationen.

Und abschließend leider eine Einschränkung: Es gibt bei Corona mehr als Leben oder Tod, nämlich viele Menschen, die durch eine Infektion bleibende Schäden davontragen. Das wird unsere Gesellschaft noch lange begleiten. Für diese Menschen hat dieses eine Jahr ihr ganzes Leben verändert. Genau wie all jene, die Angehörige verloren haben, können sie Corona wahrscheinlich ihr gesamtes Leben nicht mehr abschütteln.

Und was wissen wir noch immer nicht über das Virus?

Etwa, wie Superspreading-Events entstehen. Also die Ereignisse, bei denen sich an einem Ort viele Menschen gleichzeitig anstecken. Wir können auch noch nicht sagen, wie schnell das Virus in bestimmten Gruppen mutiert. Etwa bei Menschen, bei denen die Abwehrkräfte unterdrückt werden. Das ist aber wichtig, weil sich daraus die Gefahr ergeben könnte, dass wir ständig mit neuen Mutanten zu rechnen haben, die Impfstoffe zumindest zeitweise überlisten könnten.

Auch bei der Therapie der Krankheit ist noch vieles ungewiss, oder?

Ja, leider. Wir wissen nicht, warum es uns nicht richtig gelingt, einen schweren Verlauf zu behandeln. Die Krankheit verursacht nicht nur akutes Lungenversagen, sondern Ausfälle oder Schäden in allen Organen, die kleine Gefäße haben: etwa den Nieren, dem Gehirn und dem Herzen. Wenn wir wüssten, wie man die Entzündung der kleinsten Blutgefäße verhindert oder beherrschbar macht, hätten wir viel gewonnen.

Was haben wir eigentlich über die Stärken und Schwächen des Menschen gelernt?

Ich fange mal mit den Stärken an.

Ja, bitte.

Wir stehen in einer Notsituation zusammen, wenn man mal von einigen Wenigen absieht. Vor allem von der Solidarität der Jüngeren bin ich beeindruckt.

Und wo sind wir schwach?

Wir mussten eben auch lernen, dass es doch schwieriger ist, sein Verhalten über einen längeren Zeitraum zu ändern. Ohne den Impfstoff hätten wir keine Chance gegen das Virus. Das stimmt mich skeptisch mit Blick auf den Klimawandel. Denn gegen den gibt es keinen Impfstoff.

Wissenschaftler können die Maßnahmen vorschlagen, die sie für nötig halten. Politiker müssen dafür allerdings Mehrheiten organisieren. Sie sind beides. Verfluchen Sie die Politik inzwischen?

Nein, auf keinen Fall. Politik ist meine Leidenschaft. Ich glaube, dass die politischen Prozesse in der Pandemie insgesamt gut funktioniert haben. Die Arbeitsteilung ist sogar wichtig: Es gibt Wissenschaftler, die sehr von ihrer eigenen Meinung überzeugt und auch sehr laut sind. Da ist es entscheidend, dass die Politik mit Augenmaß viele Stimmen hört und ihre Entscheidungen trifft. Platons Philosophenkönig hätte uns nicht besser durch die Pandemie gebracht.

Die Wissenschaftler, die sehr von sich überzeugt sind, werden in den Medien gerne gehört, weil sie auch mal eine andere Meinung vertreten. Ist das ein Problem?

Nein, damit müssen und können wir leben. Die Regierung muss ihre Maßnahmen dadurch nur manchmal noch besser begründen. Die Medien könnten aber lernen, dass man nicht alle wissenschaftlichen Stimmen gleich gewichten sollte, also nicht zu jeder Position immer auch die Gegenposition suchen. Das ist in der Politik gelernt und dort auch richtig.

Aber Wissenschaft funktioniert anders ...

... genau. Dort gibt es eine Mehrheitsposition, die sich aus vielen einzelnen Erkenntnissen zahlreicher Forscher bildet. Wenn ein Wissenschaftler sagt “Die Erde ist eine Kugel”, ein anderer sie aber für eine Scheibe hält, kann es nicht die Aufgabe einer Talkshow sein, beide Positionen zu hören.

Was kann die Politik von der Wissenschaft lernen?

Dass sehr unbequeme Entscheidungen manchmal notwendig sind, wenn man nicht in der schlechtesten von zwei Welten landen will. Aber die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Politik muss besser werden.

Woran denken Sie?

Wir brauchen mehr Wissenschaftler in den Parlamenten. Und wir brauchen ein Verständnis in den Parlamenten und der Regierung dafür, wie Wissenschaft arbeitet und funktioniert. Die Politik muss schon jetzt viele sehr spezielle Probleme lösen und es werden künftig noch mehr. Da ist ein beschleunigtes, wissenschaftlich fundiertes Vorgehen der Politik unbedingt nötig.

Herr Lauterbach, sind Sie eigentlich der heimliche Gesundheitsminister?

Nein, wie kommen Sie denn darauf?

Die Kanzlerin hört auf Ihren Rat, Sie sind häufiger in Talkshows als Jens Spahn, haben mehr Fans auf Twitter ...

Jens Spahn ist der Gesundheitsminister. Ich neide niemandem sein Amt und will es auch niemandem wegnehmen. Ich versuche einfach, einen guten Job zu machen und arbeite mit allen zusammen, die an der Bewältigung der Krise interessiert sind.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Karl Lauterbach per Videokonferenz am 14. Januar 2021
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