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Lebenslänglich für Mord an Walter Lübcke – doch viele Fragen bleiben offen


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Schuldspruch im Fall Lübcke
Die Aufklärung ist noch lange nicht abgeschlossen


Aktualisiert am 28.01.2021Lesedauer: 5 Min.
Neonazi-Attentäter Stephan Ernst (r.) ist verurteilt: Welche Rolle seine Verbindungen ins NSU-Umfeld spielten, bleibt aber ungeklärt.Vergrößern des Bildes
Neonazi-Attentäter Stephan Ernst (r.) ist verurteilt: Welche Rolle seine Verbindungen ins NSU-Umfeld spielten, bleibt aber ungeklärt. (Quelle: Kai Pfaffenbach/dpa)
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Der Mörder von Walter Lübcke muss viele Jahre ins Gefängnis. Doch der Prozess gegen den Neonazi hat vieles nicht aufklären können. Die Aufarbeitung von Verbindungen zum NSU steht noch bevor.

Der Neonazi Stephan Ernst hat Walter Lübcke erschossen. Das Oberlandesgericht Frankfurt hat ihn des Mordes am CDU-Politiker für schuldig befunden. Das Urteil: lebenslange Haft bei Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Das schließt eine vorzeitige Entlassung nach 15 Jahren in der Regel aus. Auch eine Sicherungsverwahrung nach der Haftstrafe kommt in Betracht.

Es gab für das Gericht keinen ernstzunehmenden Zweifel: Ernst hatte gestanden, DNA-Spuren am Tatort und die Tatwaffe untermauerten seine Einlassung. Doch das Verfahren konnte den Ablauf des Mordes nicht bis ins letzte Detail aufklären. Es bleiben große Leerstellen. Nicht nur aus Sicht der Familie Lübcke, die als Nebenkläger am Prozess teilnahm, dürften es zu viele sein.

Der zweite Mann

Denn der zweite Angeklagte im Verfahren war Markus H., Bundesanwaltschaft und Nebenklage waren von seiner Mittäterschaft überzeugt und forderten eine lange Haftstrafe – das Gericht sah es allerdings nicht als zweifelsfrei erwiesen an, dass er tatsächlich an der Tat beteiligt war. Der Generalbundesanwalt hatte ihm "psychische Beihilfe zum Mord" attestiert und war in der Anklage davon ausgegangen, dass H. durch Gespräche und Schießübungen auf Ernst eingewirkt habe. Es habe "ein stillschweigendes Einverständnis" für eine Gewalttat bestanden.

Beweisen ließ sich das letztlich nicht. Er wurde wegen des Mordes freigesprochen. Übrig blieb eine Bewährungsstrafe von anderthalb Jahre wegen eines Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Im Prozess schwieg H. zu den Mordvorwürfen. Stattdessen grinste er im Verhandlungssaal, lachte gelegentlich. So beschreiben es Journalisten, die regelmäßig vor Ort waren. Möglicherweise war H. sich seiner Sache sicher. Nach Ansicht von Experten war psychische Beihilfe zum Mord "die schwächste und umstrittenste strafrechtliche Beteiligungsform", wie etwa "Legal Tribune Online" schrieb. Soll heißen: Einige sahen die Anklage auf schwachen Füßen.

Die Indizienkette

H.s Anwalt Björn Clemens, der regelmäßig Neonazis in Prozessen vertritt und auch selbst in der Szene verkehrt, kommentierte schon zu Beginn des Verfahrens, psychische Beihilfe werde "oft dann bemüht, wenn man gegen einen Beschuldigten nichts in der Hand hat, aber gerne etwas in der Hand hätte". Dabei war es mitnichten so, dass es keine belastenden Indizien gegen H. gab. t-online berichtete über seine mögliche Rolle bei dem Mord. Allein, es waren nur Indizien.

Ernst und H. kannten sich seit Jahrzehnten und teilten die nationalsozialistische Einstellung, beide waren als Gewalttäter bekannt, sie trainierten gemeinsamen das Schießen. H. vermittelte die Tatwaffe, sie besuchten und filmten gemeinsam die Bürgerversammlung mit Walter Lübcke, die Ernst zum Anlass nahm, den Politiker zu erschießen. Anschließend verbreiteten sie den Mitschnitt im Netz. Sie waren gemeinsam auf AfD-Demos, kommunizierten verschlüsselt und löschten nach der Tat ihren Chatverlauf. In einem Buch von H. war Lübckes Name farblich markiert. Und schließlich belastete Ernst seinen Weggefährten schwer.

Die fehlende Glaubwürdigkeit

Nur diese Aussage hätte H. vermutlich in Bedrängnis bringen können. Doch der Hauptangeklagte hatte seine Glaubwürdigkeit da schon lange verspielt. Insgesamt drei Geständnisse legte Ernst ab, immer behauptete er einen anderen Tatablauf: Zunächst war er allein am Tatort, dann sollte es sogar H. gewesen sein, der Lübcke erschoss, dann wieder er selbst, aber in Begleitung von H. – im Prozess nahm die Suche nach dem, was das Gericht Ernst glauben konnte und was nicht, großen Raum ein.

Ernst wurde zugleich vom Vorwurf des versuchten Mordes an einem irakischen Flüchtling 2016 freigesprochen, der ebenfalls Teil der Anklage war. Er hatte den Vorwurf stets bestritten, die Bundesanwaltschaft sah ihn als erwiesen an.

Dabei rückten auch die Szene-Anwälte des Hauptangeklagten spektakulär ins Interesse: Zwei ehemalige Verteidiger von Ernst mussten selbst im Zeugenstand aussagen. Der erste, Dirk Waldschmidt, soll Ernst zum ersten Geständnis verleitet haben, indem er versprach, finanzielle Hilfe aus der Neonazi-Szene zu organisieren. Im Gegenzug habe er nur H. aus der Sache heraushalten sollen, behauptete Ernst. Der Anwalt räumte zwar ein, von derlei Unterstützernetzwerken zu wissen, ansonsten seien die Vorwürfe aber falsch.

Die mysteriöse E-Mail

Der zweite ehemalige Verteidiger, Frank Hannig, soll Ernst hingegen dazu gedrängt haben, das zweite Geständnis abzulegen, in dem er H. als Schützen belastete. Das habe laut Ernst dazu dienen sollen, H. zu einer Aussage zu bewegen. Mittlerweile läuft deswegen ein Ermittlungsverfahren gegen Hannig. Vor Gericht machte er von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.

Doch kurz vor Urteilsverkündung war es Hannig, der die Nebenkläger und Ernsts heutigen Verteidiger noch einen letzten Versuch unternehmen ließ, die mögliche Tatbeteiligung von H. zu klären. Als das Gericht den Mitangeklagten mangels dringenden Tatverdachts aus der Untersuchungshaft entließ, schrieb Hannig eine mysteriöse E-Mail an die Familie Lübcke: Die Haftentlassung sei eine Fehlentscheidung.

Die Verbindungen ins NSU-Umfeld

Beweisanträge zielten auf Hannigs Handakte ab, Ernst hatte ihn dafür von seiner Schweigepflicht entbunden. Nach einigem Hin und Her ließ der Staatsschutzsenat die Akte sicherstellen – in der Erwartung, sie enthalte Aussagen von Ernst über den Tatablauf. Das Ergebnis war allerdings ernüchternd. Der Richter maß den Notizen wenig Beweiskraft bei, schließlich könne man eine solche Akte frisieren. Ernst hingegen blieb zum Schluss dabei: Das Letzte, was Walter Lübcke gesehen habe, sei H.s Gesicht gewesen.

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Die Frage nach H.'s mutmaßlicher Mittäterschaft, die nun vom Gericht verneint wurde, berührte auch einen anderen wunden Punkt der Aufklärung: Mit Ernst und H. standen zwei Neonazis vor Gericht, die über Verbindungen in jene Kreise verfügen, die schon in Zusammenhang mit den Terroristen des NSU standen. Gab es personelle Parallelen und Kontinuitäten zwischen der Anschlagsserie damals und dem Mord an Lübcke? Darüber muss zumindest spekuliert werden. Das Unterstützer-Netzwerk des NSU wurde nie vollkommen aufgeklärt. Die Nebenklage warf den Verfassungsschutzbehörden ein "Komplettversagen" vor.

Der Verein, das Netzwerk und der NSU-Mord

Denn Ernst war laut Recherchen der "Welt" bis 2011 Vereinsmitglied der sogenannten "Artgemeinschaft", zu der auch das NSU-Trio und ihre Unterstützer Kontakte unterhielten. Nachdem der NSU im November desselben Jahres aufflog, tauchte Ernst nicht mehr öffentlich in der Szene auf. Ein Bild, das ihn angeblich im Frühjahr 2019 bei einem Treffen des NSU-ähnlichen Neonazi-Netzwerks "Combat 18" zeigt, ist unter Gutachtern umstritten. Gleichwohl unterhielt er Kontakte zu wichtigen Rädelsführern der nun verbotenen Gruppe.

Und auch H. tauchte laut mehreren Medienberichten im Zusammenhang mit den NSU-Morden in Ermittlungsakten auf: Demnach kannte er den 2006 in Kassel ermordeten Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat und besuchte nach der Tat auffällig oft die Fahndungsseite des Bundeskriminalamts. Seiner anschließenden Befragung folgten allerdings keine weiteren Schritte. Sein rechtsextremer Hintergrund wurde nicht überprüft.

Der Verfassungsschützer

Das ist vor allem deswegen brisant, da es eine weitere personelle Verbindung zwischen den beiden Morden gibt: Der Verfassungsschützer Andreas Temme, der zur Tatzeit des Mordes an Yozgat vor Ort war, arbeitete zuletzt als Sachbearbeiter im Regierungspräsidium, war Lübcke unterstellt und kannte auch ihn persönlich. Er wurde von Ermittlern vernommen – womöglich auch, weil er in seiner Zeit als Verfassungsschützer mehrfach mit Ernst befasst war.

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All diese Leerstellen aufzuklären, liegt nun womöglich ausschließlich in den Händen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, den der hessische Landtag eingesetzt hat. Ab Ostern etwas sollen Zeugen befragt werden. Bis dahin können die Abgeordneten Einsicht in die Ermittlungsakten der Bundesanwaltschaft und die Verfahrensakten des Gerichts nehmen, inklusive der NSU-Akten. Fast 2.000 Aktenordner sollen es insgesamt sein. Zusätzlich wurden bereits 40 Personenakten von Neonazis aus dem Umfeld der Angeklagten angefordert. Mehr als 20 weitere sollen hinzukommen.

Es sind diese Unterlagen, die für Furore sorgen könnten. Denn laut Recherchen der "Welt" ist in ihnen auch Ernsts Nähe zum prominenten Neonazi und NPD-Vize Thorsten Heise dokumentiert, der als Strippenzieher der Szene und zentrale Figur für das "Combat 18"-Netzwerk gilt. Vielfach taucht er in den Akten zu den NSU-Morden auf. Ihn habe Ernst noch 2011 zu einer Sonnenwendfeier besucht. Das belegt ein Foto, das auch im Prozess gezeigt wurde. Es soll angeblich der Akte von Markus H. beigefügt gewesen sein.

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