Mittäter bei Berlin-Anschlag? Vorwurf der Vertuschung – Ströbele: "Das wäre ein Skandal"
Bilal B. A. war ein Freund des Berliner Attentäters Anis Amri. Nach dem Anschlag wurde er von deutschen Behörden zügig abgeschoben. Grünen-Politiker Ströbele erhebt schwere Vorwürfe.
Am 1. Februar 2017 landet Bilal B. A. als einer von 118 Passagieren einer Linienmaschine in Tunis. An Bord habe sich der Abgeschobene ruhig verhalten, heißt es hinterher. B. A. war ein Freund des Berlin-Attentäters Anis Amri. Was er von den Anschlagsplänen Amris wusste, ist unklar. Laut einem Bericht des "Focus" soll B. A. ein marokkanischer Agent gewesen sein, der nicht nur von den Plänen wusste, sondern auch bei dem Anschlag dabei war.
"Bilal B. A. soll Amri den Fluchtweg vom Tatort freigeräumt und sogar einen Menschen mit einem Kantholz niedergeschlagen haben, der noch im Koma liegt. Wenn diese Vorwürfe stimmen und er beim Attentat dabei war, ist er ein Mittäter", sagt Hans-Christian Ströbele zu t-online.de. Der Grünen-Politiker war Mitglied einer Task Force des Parlamentarischen Kontrollgremiums des Bundestages im Fall Amri. "Wenn es nun anscheinend noch Filmmaterial von dem Attentat gibt, das von den Behörden zurückgehalten wurde, wäre das ein Skandal."
B. A. war den Behörden nicht unbekannt. Er hat nach Informationen des "Kölner Stadt-Anzeigers" bereits 2015 über mögliche Attentate in Nordrhein-Westfalen gesprochen. Der Zeitung liegen nach eigenen Angaben Ermittlungsunterlagen vor, denen zufolge der heute 28-Jährige sich im Juli 2015 mit unbekannten Kontaktleuten über Terrorakte austauschte. "In Dortmund müsste etwas passieren, und Züge müssten bombardiert werden", lautet demnach eine Aussage aus einem belauschten Gespräch. B. A. sei vorübergehend festgenommen worden, doch konkrete Beweise für Terrorpläne ließen sich nicht finden.
Verdacht der Vertuschung
Die neuen Informationen beschäftigen den Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Berliner Weihnachtsmarkt-Anschlag. "Die Kollegen im Untersuchungsausschuss müssen nun zunächst einmal die geheimen Akten und Filme bekommen, die dem 'Focus' vorliegen, um überhaupt die Zusammenhänge zu verstehen", meint Ströbele. Der Ausschuss will Bilal B. A, demnächst als Zeugen vernehmen, eine Mehrheit der Mitglieder stimme für einen entsprechenden Beschluss.
Offen ist aber noch, ob Bilal B. A. in Berlin oder im Ausland vernommen werden soll. Ströbele sieht das skeptisch: "Die Marokkaner sind normal sehr kooperativ mit deutschen Sicherheitsbehörden BKA und BfV, aber ich würde bezweifeln, dass sie einen Agenten ausliefern, damit er in Deutschland vor dem Untersuchungsausschuss aussagt. Aber man weiß ja nie, das wäre eine Sensation.“
Abgeordnete der Opposition finden das Tempo verdächtig, mit dem die deutschen Behörden damals auf die Abschiebung dieses Landsmannes und engen Vertrauten von Amri drangen. Sie fragen sich, ob möglicherweise etwas vertuscht werden soll – etwa, dass man die Gefährder Amri und B. A. nicht von der Straße geholt hatte, weil man sich von ihnen interessante Informationen über andere gewaltbereite Islamisten im In- und Ausland erhoffte.
"Die Abschiebung ging unglaublich schnell, sonst dauern solche Verfahren oft Monate", erklärt Ströbele t-online.de. "Das zeigt mir, dass eine schnelle Abschiebung im Interesse der Behörden und des Innenministeriums lag und es nährt den Verdacht der Vertuschung."
"Strafrechtliche Konsequenzen möglich"
Sollte sich der Bericht als wahr herausstellen, geht die Suche nach den Verantwortlichen erst los. Zur Zeit des Anschlags waren Thomas de Maizière (CDU) und Hans-Georg Maaßen noch als Innenminister und Verfassungsschutzpräsident im Amt. "Zunächst einmal muss jetzt der Untersuchungsausschuss feststellen, welche Personen dafür verantwortlich waren", sagt Ströbele. "Natürlich sind Maaßen und de Maizière weg. Aber andere Verantwortliche wären noch in ihren Ämtern und wahrscheinlich nicht mehr zu halten. Auch strafrechtliche Konsequenzen wegen Strafvereitelung wären möglich."
Bereits am 19. Januar – einen Monat nach dem größten islamistischen Terroranschlag in Deutschland – schrieb ein Mitarbeiter des damals noch Thomas de Maizière (CDU) unterstellten Bundesinnenministeriums in einer E-Mail an Innen-Staatssekretärin Emily Haber: "frohe Kunde: Sachsen hat den Abschiebe-Haftantrag gestellt" – und sei auch bereit diesen vor Gericht in Berlin zu vertreten. Auf Intervention des Bundeskriminalamtes habe Tunesien B. A. als tunesischen Staatsbürger anerkannt.
Der Islamist saß zu diesem Zeitpunkt in Untersuchungshaft – wegen Sozialhilfebetrugs. Bei seiner Vernehmung hatte er angegeben, er habe mehrfach Kokain bei Amri gekauft, da der ihm die Droge zu einem Freundschaftspreis überlassen habe.
Amris Asylantrag war abgelehnt worden. Am 19. Dezember 2016 kaperte der Tunesier einen Lastwagen, raste damit auf den Weihnachtsmarkt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und tötete so zwölf Menschen. Nach dem Anschlag konnte der Tunesier, der in Deutschland mehrere falsche Identitäten nutzte, nach Italien fliehen. Dort wurde er von der Polizei erschossen. Wie er nach Italien kam und ob er womöglich Fluchthelfer hatte, ist bis heute nicht aufgeklärt.
Bilal B. A. war kein Unbekannter
B. A. war 2014 zusammen mit anderen Tunesiern nach Deutschland gekommen. In Berlin wurde er am 19. Februar 2016 als Gefährder eingestuft. Am Abend vor dem Anschlag aß er mit Amri in einem Lokal. Wie Amri war auch er ein Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Eine Beteiligung an der Vorbereitung des Anschlags konnte ihm nicht nachgewiesen werden.
Am 1. Februar 2017 wurde B. A. direkt aus dem Gefängnis nach Tunesien ausgeflogen und dort den Behörden übergeben. Er soll sich vor einigen Monaten noch in Tunesien aufgehalten haben. In Haft saß er da dem Vernehmen nach nicht. Gegen den Abgeschobenen sei damals eine Wiedereinreisesperre für den Schengen-Raum verhängt worden, berichtete der Ausschuss-Vorsitzende Armin Schuster (CDU). Er persönlich halte deshalb eine Befragung im Ausland für sinnvoll.
Für die tunesischen Behörden war Bilal B. A. kein Unbekannter, auch wenn er zuhause nicht als Terrorist aufgefallen war. Ein Beamter des Bundesinnenministeriums schrieb in einer internen Mail, die Vorwürfe gegen ihn in Tunesien lauteten Beteiligung an Demonstrationen, "Sabotage" und illegale Ausreise nach Libyen, "so dass vielleicht nicht unbedingt die Todesstrafe droht".
In einer Botschaft, die ein Bundespolizist am 20. Januar 2017 an seine Kollegen schickte, wird ein Treffen mit einem Diplomaten der tunesischen Botschaft in Berlin beschrieben: "Bei der Nennung des Namens B. A. war an der Erstreaktion von Herrn S. zu merken, dass er mit dem Namen etwas anfangen konnte. Herr S. ist im Weiteren aber nicht darauf eingegangen".
Fall für die Polizei?
Im Untersuchungsausschuss wurde am Donnerstagabend auch über Aufnahmen vom Tatort an der Gedächtniskirche gesprochen, auf denen angeblich Bilal B. A. zu sehen sein soll. Mitglieder des Ausschusses erklärten, ihnen lägen keine entsprechenden Aufnahmen vor.
Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft sagte, es habe am Breitscheidplatz zum Zeitpunkt des Anschlags nach dem bisherigen Stand der Ermittlungen "keinen weiteren Tatverdächtigen vor Ort" gegeben. Die Ermittlungen gegen Bilal B. A. seien "mangels eines hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden". Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) will die Abschiebung jetzt untersuchen lassen.
In Unterlagen des Bundeskriminalamts (BKA), die der Deutschen Presse-Agentur vorliegen, ist zwar von einem Mann mit blauen Einweghandschuhen die Rede, der auf einem Tatort-Foto aufgefallen war. Der Verdacht, dass es sich bei dem Abgebildeten um Bilal B. A. handeln könnte, ließ sich jedoch demnach nicht erhärten.
Doch noch etwas ist auffällig: In einem Vermerk des BKA, der rund drei Monate nach der Abschiebung verfasst wurde, heißt es, B. A. habe mehrfach den Breitscheidplatz "als Fotomotiv gewählt, wobei erste Bilder des Breitscheidplatzes von Februar und März 2016 den späteren Einfahrtsbereich des Tatfahrzeuges ablichten, was vor dem Hintergrund des Anschlaggeschehens den Eindruck einer Ausspähung erweckt."
Der frühere Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Hans-Georg Maaßen, hatte Amri nach dem Anschlag als "reinen Polizeifall" bezeichnet. Dem widersprach ein Zeuge im Untersuchungsausschuss. Der Leiter des Berliner Landeskriminalamtes, Christian Steiof sagte, Amri "war kein reiner Polizeifall und hätte auch nie so betrachtet werden dürfen".
"Anschlag hätte verhindert werden können"
Am 2. November 2016 war Amri Thema einer Besprechung im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum von Bund und Ländern (GTAZ) gewesen. Das BfV wurde damals gebeten, Hinweisen des marokkanischen Geheimdienstes auf mögliche Anschlagspläne Amris nachzugehen. Die Frage, warum der Inlandsgeheimdienst diesen Auftrag erhielt und nicht etwa der Auslandsgeheimdienst BND, sei immer noch unbeantwortet, sagte die Grünen-Obfrau Irene Mihalic. Von der für den 21. Februar geplanten Vernehmung eines BND-Mitarbeiters erhoffe sie sich dazu "schlüssige Erklärungen und Antworten".
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Gut zwei Jahre nach dem Anschlag in Berlin werden immer noch neue Details bekannt. "Ich hoffe, dass zu den Ereignissen immer mehr Licht ins Dunkel kommt", sagte Ströbele t-online.de. "Viele Befürchtungen, die ich in meiner Zeit im Bundestag im Fall Amri auch öffentlich geäußert hatte, scheinen sich leider zu bewahrheiten. Der schreckliche Anschlag hätte verhindert werden können und müssen."
- Eigene Recherche
- Focus: "Regierung schob Amri-Vertrauten ab, um dessen Verwicklung in Attentat zu vertuschen"
- Nachrichtenagentur dpa