Belgischer Risikoreaktor Aachener Behörden verteilen Jodtabletten gegen Strahlung
Experten bezweifeln, dass das belgische Atomkraftwerk Tihange in der Nähe von Aachen wirklich sicher ist. Die deutschen Behörden beginnen deshalb mit der Verteilung von Jodtabletten.
Das Schreckenszenario: Im belgischen Atomkraftwerk Tihange kommt es zum Unfall, radioaktive Strahlung tritt aus, mit Westwind treibt die radioaktive Wolke auf die Region Aachen zu. Keine 70 Kilometer liegen zwischen der deutschen Stadt und dem Kernkraftwerk, das wegen Sicherheitsbedenken umstritten ist.
In der Grenzregion gibt es deshalb große Zweifel, dass im Ernstfall die Zeit reicht, die Bevölkerung mit hoch dosierten Jodtabletten zu versorgen. Am Freitag beginnt deshalb die Verteilung dieser Tabletten an die Einwohner. Sie sollen verhindern, dass die Schilddrüse radioaktives Jod aufnimmt. Eine Maßnahme, die bisher bundesweit nur in Ausnahmefällen und in sehr begrenzten Bereichen zugelassen wurde.
Es gibt viele Unbekannte in den in Aachen durchgespielten Szenarien: Passiert der Unfall tagsüber, nachts, in der Ferienzeit, wie stark ist der Wind, regnet es? "Je nachdem wie das genaue Szenario aussieht, haben wir ganz große Zweifel, dass wir es schaffen, Jodtabletten rechtzeitig zu verteilen", begründet der Aachener Verteilungskoordinator Markus Kremer die Maßnahme. Sofort müssten über die Stadt verteilt und an fußläufig zu erreichenden Punkten Ausgabestellen eingerichtet werden, "und das in einer Zeit, wo nicht nur geringe Unruhe entsteht", beschreibt er die Herausforderung.
Tabletten sollen Schilddrüsenkrebs verhindern
Menschen bis zu 45 Jahren, Schwangere und Stillende haben ein Anrecht auf die kostenlosen Tabletten, die Schilddrüsenkrebs verhindern sollen. Sie können in der Aachener Region bis Ende November über einen Link im Internet Bezugsscheine beantragen, die sie in beteiligten Apotheken einlösen.
Die Behörden rechnen damit, dass mehr als jeder Dritte das Angebot wahrnimmt. Es gebe eine hohe Sensibilität. Auch bei der Aachener Familie Vitr. Die ist längst in die Apotheke gegangen und hat sich die Tabletten selbst gekauft. Das Ehepaar Mirco und Anika haben die Tabletten jetzt immer im Portemonnaie bei sich - auch für ihre fünf und zwei Jahre alten Kinder.
Die Gesundheit ist nicht die einzige Sorge. Was wäre denn mit ihrem schmucken Einfamilienhaus im Ernstfall, fragen sich die Vitrs: "Man hat eine Immobilie, zahlt ab. Was ist, wenn man alles verlassen muss?" fragt Mirco Vitr. Im Bekanntenkreis sei das durchaus ein Thema. Der 38-Jährige erinnert sich an seine Kindheit, als er nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl nicht mehr im Sandkasten seines Onkels spielen durfte.
"Keine Kontrolle über das Geschehen"
Durch die Verteilung der Tabletten verändert sich nach Meinung des Heidelberger Psychologen Professor Joachim Funke auch das Risiko-Empfinden der Menschen in der Region: "Mit der Verteilung von Jod-Tabletten erhöht sich die Risiko-Wahrnehmung, weil die Behörden ja offensichtlich den Eindruck haben, dass sie ihre Strategie ändern müssen."
Je nach Typ reagierten Menschen unterschiedlich auf die Situation: Die einen würden mehr grübeln, die anderen meinten, sie hätten mit den Jodtabletten alles unter Kontrolle. "Aber das ist nur eine Scheinkontrolle. Denn mit den Jodtabletten habe ich ja nicht wirklich Kontrolle über das Geschehene", sagt Funke.
Und dann gibt es vielleicht noch die Sorglosen, die die Sorgen anderer nicht ernst nehmen - und nichts tun. Für die würden im Ernstfall noch Jodtabletten ausgegeben, sagt der Aachener Ausgabekoordinator Kremer. Aber das wäre in keinem Fall so entspannt wie jetzt: "Wir appellieren, die Chance einfach jetzt zu nutzen und sich den Druck zu nehmen."