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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte über "Cancel Culture" "Ich kann Gottschalk nachvollziehen"
Gibt es in Deutschland eine "Cancel Culture"? Politikwissenschaftler Richard Traunmüller sieht Belege dafür – vor allem in einem politischen Lager.
Kann man hierzulande noch frei seine Meinung sagen? In seiner letzten "Wetten dass..?"-Sendung hat Moderator Thomas Gottschalk den Eindruck erweckt, dass genau das nicht mehr möglich ist. Politikwissenschaftler Richard Traunmüller gibt ihm im Interview mit t-online recht. Denn die sozialen Kosten, seine Meinung frei zu äußern, werden immer höher, sagt Traunmüller.
Der Experte erklärt, welche Altersgruppe sich besonders scheut, ihre Meinung frei zu äußern – und was alle aus der aktuellen Nahost-Debatte lernen können.
t-online: Professor Traunmüller, Thomas Gottschalk hat in seiner letzten "Wetten, dass..?"-Sendung beklagt, dass er in der Sendung nicht mehr sagen kann, was er zu Hause sagt und der Sender Angst vor Shitstorms habe. Können Sie Gottschalks Kritik verstehen?
Richard Traunmüller: Ja. Gottschalk macht eine Trennung auf, zwischen dem, was man privat zu Hause sagt, und dem, was man in der Öffentlichkeit sagt. Das ist ein bekanntes Phänomen, allerdings eher aus autoritären Staaten. Eine solche Form der Selbstzensur kann aber auch in Demokratien vorkommen, wie der Fall Gottschalk zeigt. Deutschland ist zweifelsfrei eine Demokratie. Und doch kann ich Gottschalk nachvollziehen.
Das müssen Sie erläutern.
Zuerst müssen wir uns anschauen, was Meinungsfreiheit bedeutet: Sie ist zunächst ein Grundrecht, das in Deutschland in der Verfassung garantiert ist. Was aber oft ignoriert wird, ist, wie freie Rede von der Gesellschaft sanktioniert wird. Freie Rede ist immer auch mit einer gesellschaftlichen Reaktion, mit sozialen Kosten, verbunden. An freier Rede wird es also immer auch Kritik und Widerspruch geben, das ist so weit normal.
Wo liegt dann das Problem?
Die sozialen Kosten können individuell als zu hoch angesehen werden: Wer seine Meinung frei äußert, erfährt dann nicht nur Widerspruch, sondern wird mit abwertenden Begriffen wie "Nazi" bedacht, in sozialen Netzwerken beschimpft oder bekommt sogar berufliche Konsequenzen zu spüren. Das beklagt Gottschalk zu Recht.
Gottschalk ist einer der erfolgreichsten Entertainer des Landes. Er konnte seine Kritik in einer Livesendung am Samstagabend anbringen. Zensiert er sich nicht unnötigerweise selbst?
Diese Darstellung verkennt die angesprochenen Kosten. Er äußert, dass es ihm zu kostspielig ist, öffentlich zu sagen, was er auch zu Hause sagt. Auch wenn er erfolgreich ist, ist das kein Widerspruch. Gottschalk weiß genau: Wenn er sagen würde, was er eigentlich möchte, kommt sein Produktionsteam und fordert ihn auf, das zu unterlassen. Wir wissen aus der Forschung, dass Menschen ziemlich gut einschätzen können, welche sozialen Kosten ihnen drohen. Man kann darüber streiten, ob Gottschalk nicht trotzdem bereit sein sollte, diese Kosten zu zahlen. Aber das ist seine freie Entscheidung. Klar ist auch: Er kokettiert damit. Er will einen Punkt setzen und der Gesellschaft etwas mitgeben. Das ist ihm gelungen.
"Cancel Culture" meint den Versuch, unliebsame Meinungen stumm zu schalten, sie zu ächten. Der Begriff stammt aus dem Englischen und wird häufig in den USA gebraucht. Trifft der Vorwurf Prominente, wird oft dazu aufgerufen, die Zusammenarbeit mit ihnen zu beenden, sie zu "canceln". "Cancel Culture" zielt also auf einen Boykott. Auf Deutsch lässt es sich als Zensurkultur übersetzen.
In der Zeit, in der Gottschalk erfolgreich wurde, gab es nur die Möglichkeit der Leserbriefe, um sich zu beschweren. Heutzutage kommt Kritik unmittelbar über die sozialen Netzwerke. Erzeugt das vielleicht nur den Eindruck, dass die Kritik heute härter ist?
Auch das ist eine Frage der sozialen Kosten: Durch die sozialen Netzwerke ist es einfacher geworden, seine Kritik zu äußern und sie ist sichtbarer. Die Leserbriefe sieht nur die Redaktion, die dann entscheidet, ob sie die Kritik überhaupt weiterleitet. Der subjektive Eindruck, dass es immer mehr Kritik gibt, stimmt also.
Muss das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht auch sensibler sein und darf nicht mehr jeden Spruch dulden?
Normen wandeln sich mit der Zeit. Aber nicht jeder Wandel ist per se zu begrüßen. Man kann zu Recht beklagen, dass die heutige Zeit etwas empfindlicher und humorloser geworden ist.
Richard Traunmüller
ist ein österreichischer Politikwissenschaftler. Er lehrt seit 2020 als Professor Politische Wissenschaft und Empirische Demokratieforschung an der Universität Mannheim. Traunmüller forscht seit Jahren zur freien Meinungsäußerung und zur Zensur. Studiert hat er an der Humboldt-Universität in Berlin und an der Universität Konstanz.
Was sagen denn Ihre Forschungsergebnisse dazu: Wer hat Angst, gecancelt zu werden?
Gerade mit Blick auf den gesellschaftlichen Wandel ist spannend, dass sich eben gerade nicht die Älteren beschweren, dass sie nichts mehr sagen können, sondern die mittleren Altersgruppen. Gottschalk ist da also eher eine Ausnahme in seiner Alterskohorte.
Wie erklären Sie das, dass sich vor allem Menschen um die 40 Jahre über "Cancel Culture" beschweren?
Die größte Sorge der Menschen sind Probleme im Beruf. Gottschalk mit 73 Jahren muss eigentlich nichts mehr fürchten. Betroffen sind vor allem die Jüngeren, die mitten im Beruf stehen und befürchten müssen, vom Chef einen auf den Deckel zu bekommen.
Eine Ursache könnte auch sein, dass Menschen, die immer beklagen, gecancelt zu werden, einfach nicht mehr kritikfähig sind.
Da müssen wir unterscheiden: Widerspruch gehört dazu. Entscheidender aber ist, dass viele Leute die Wahrnehmung haben, dass es eben nicht dabei bleibt, sondern dass es tatsächlich negative Konsequenzen gibt. Beispielsweise wenden sich Freunde ab, es gibt Probleme im Beruf, man wird zu Unrecht angezeigt. Da muss ich sagen: Wenn das immer mehr Menschen hindert, frei ihre Meinung zu sagen, dann haben wir ein echtes Problem mit der Meinungsfreiheit.
Wird der Meinungskorridor immer enger?
Er verschiebt sich zumindest, wir sehen das in den Daten. Je weiter links sie stehen, desto freier fühlen sie sich. Je weiter rechts sie stehen, desto unfreier fühlen sie sich. In der Frage, ob man die freie Rede einschränken soll, ist es genau umgekehrt: Je weiter rechts sie stehen, desto eher sind sie dagegen. Je weiter links sie stehen, desto eher sind sie bereit, Rede einzuschränken. Das Spannende ist: Das war vor 50 bis 60 Jahren noch genau umgekehrt. Damals haben Linke für die freie Meinungsäußerung gekämpft.
In den aktuellen Debatten um den Nahen Osten schaltet das doch wieder um: Linke müssen ihre Haltungen rechtfertigen, Rechte fordern, Demonstrationen zu verbieten.
Genau. Diejenigen, die jahrelang gerufen haben, "Cancel Culture" sei ein Mythos, erleben aktuell, wie sie selbst unter Rechtfertigungsdruck geraten, weil ihre Äußerungen als antisemitisch bezeichnet werden. Das trifft aktuell vor allem die neue, postkoloniale und identitäre Linke, die sich stark mit Gaza solidarisiert. Das Beispiel zeigt, wie schnell sich die Lager in der Debatte um "Cancel Culture" verschieben können.
Was sollten wir daraus lernen?
Dass es wichtig ist, immer für die freie Meinungsäußerung einzutreten, egal auf welcher politischen Seite man steht. Oft reicht ein einziges Ereignis, und man findet sich auf der anderen Seite wieder. Toleranz ist wirklich eine Zumutung. Toleranz setzt immer eine Ablehnung voraus. Denn Meinungen, die mir nicht zuwiderlaufen, mich nicht schmerzen, muss ich auch nicht tolerieren. Die akzeptiere ich. Ich selbst habe ein großes Problem mit gewissen Äußerungen von linken Studierenden und postkolonialen Kollegen zum Nahostkonflikt. Aber diese Meinungen sollten wir nicht canceln, sondern aushalten, solange sie nicht das Strafrecht berühren.
Wie erleben Sie die Diskurse an der Uni?
Aus Forschungsdaten wissen wir: Es gibt tatsächlich viele Studierende, die Veranstaltungen absagen oder Bücher aus der Bibliothek entfernen wollen, wenn dort kontroverse Meinungen vertreten werden. Das ist eine große Minderheit, etwa ein Fünftel bis ein Drittel. Und das ist ein großes Problem. Die Universität sollte der Ort sein, an dem das bessere Argument zählt und sich alle angstfrei austauschen können. Wenn sich eine Gruppe aus Angst zurücknimmt – und das erleben wir – verlieren alle.
Haben wir schon bald Verhältnisse wie in den USA, wo Professoren ihre Arbeit verlieren, wenn sie sich "falsch" äußern und Debatten fast unmöglich scheinen?
Ich hoffe nicht. In den USA ist der Grad an "Cancel Culture" extremer, gerade an den Universitäten. Die USA sollten uns eine Warnung sein: Das sollten wir bei uns nicht einführen.
Herr Traunmüller, vielen Dank für das Gespräch.
- Videogespräch mit Richard Traunmüller
- ZDF: "Wetten, dass..?" vom 25. November 2023