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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Vorzeigeland bei Migration? Ein Witz offenbart Kanadas größtes Problem
Zwei deutsche Minister wollen das Geheimnis von Kanadas Einwanderungspolitik entschlüsseln. Doch läuft dort wirklich alles besser? Und woran liegt es?
Wer wissen will, was in Deutschland schiefläuft, muss nach Ottawa fahren. Rund 30 Autominuten von der kanadischen Hauptstadt entfernt in einem unscheinbaren Industriegebiet hat die Firma Giatec Scientific ihren Sitz. Ihre beiden Gründer kamen als Studenten aus dem Iran nach Kanada – und blieben. 2010 gründeten sie das Unternehmen als Start-up, das nachhaltige Technologien für die Betonindustrie entwickelt. Heute arbeiten 120 Mitarbeiter aus 50 Nationen hier.
Shreeram aus Indien ist seit einem Jahr dabei. Zuvor hat der 33-jährige Elektroingenieur für eine deutsche Firma in Paderborn gearbeitet. Dort gefiel es ihm eigentlich. Aber als er überlegte, wo er sich dauerhaft niederlassen wollte, verglich er Deutschland und Kanada. Und entschied sich für Kanada. "Der Einwanderungsprozess war hier einfach viel leichter", sagt er.
Solche Geschichten bekommen Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Innenministerin Nancy Faeser auf ihrer Reise vielfach zu hören. Gemeinsam sind die beiden SPD-Politiker in Kanada, um zu lernen, wie man Fachkräfte gewinnt. Das Land gilt als Vorbild für erfolgreiche Einwanderungspolitik.
Der Zeitpunkt für die Reise ist kein Zufall: In wenigen Tagen soll ein neues Gesetz im deutschen Kabinett beschlossen werden, mit dem das Einwanderungsrecht reformiert werden soll. 50.000 ausländische Fachkräfte sollen damit jährlich nach Deutschland gelockt werden, vornehmlich aus Drittstaaten, also nicht der EU.
Bis 2035 könnten sieben Millionen Arbeitskräfte fehlen
Das ist dringend notwendig. Ab 2025 gehen die sogenannten Babyboomer, die geburtenstarken Jahrgänge, in Rente. Bis 2035 könnten dem Arbeitsmarkt laut einer Berechnung des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) so sieben Millionen Arbeitskräfte verloren gehen. Einen Teil davon will die Regierung mit einer Erhöhung der Erwerbstätigkeit von Frauen und einer Aus- und Weiterbildungsoffensive abdecken. Doch das wird nicht reichen.
Ein Kernstück des neuen Gesetzes ist deshalb die "Chancenkarte". Mit ihr sollen Ausländer, die eine berufliche oder akademische Ausbildung haben, auch dann nach Deutschland kommen dürfen, wenn sie noch keinen Arbeitsvertrag haben. Voraussetzung: Sie müssen eine bestimmte Punktezahl erreichen. Die bekommen Interessierte, wenn sie eine berufliche Qualifikation vorweisen können, die den deutschen Standards entspricht, sie gute Deutschkenntnisse besitzen oder nicht älter als 35 Jahre sind.
Das Modell der "Chancenkarte" orientiert sich am kanadischen Punktesystem, dem Herzstück der Einwanderungspolitik des Landes. Es wurde 1967 von Pierre Trudeau eingeführt, dem Vater des heutigen Premierministers Justin Trudeau. Als Reaktion auf den Fachkräftemangel. Inzwischen versucht die Regierung, es weiterzuentwickeln. Nicht mehr der höchste Punktestand ist allein entscheidend, sondern es sind auch die Qualifikationen, die in den Regionen gesucht werden.
Ein Witz offenbart die Schattenseiten des kanadischen Systems
Dass auch bei der Vorzeigenation nicht alles perfekt läuft, zeigt ein kanadischer Witz. Der geht so: Was sollte in Kanada jemand mit Herzproblemen tun? Die Antwort: Taxifahren. Denn im Taxi ist die Chance am größten, auf einen ausgebildeten Herzchirurgen (den zugewanderten Taxifahrer) zu treffen. Bei der Anerkennung von ausländischen Berufsabschlüssen tut sich Kanada nämlich ähnlich schwer wie Deutschland.
Das habe auch mit dem Föderalismus in Kanada und den unterschiedlichen Maßstäben in den jeweiligen Provinzen zu tun, erläutert der kanadische Immigrationsminister Sean Fraser seiner deutschen Kollegin Nancy Faeser. Der hochgewachsene Anglokanadier, der ein bisschen wie ein Doppelgänger von Premierminister Trudeau aussieht, begleitet Heil und Faeser am ersten Tag. Als er von der Rolle der Provinzen spricht, muss Heil breit grinsen. Probleme mit dem Föderalismus? Das kennt er auch aus Deutschland.
Zur Wahrheit, die bei deutschen Politikerbesuchen nicht so gerne angesprochen wird, gehört zudem: Der Erfolg von Kanada hängt auch mit seiner restriktiven Flüchtlingspolitik zusammen. 2021 hat das Land rund 80.000 Flüchtlinge aufgenommen. In Deutschland wurden im selben Jahr beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge fast 191.000 Asylanträge gestellt.
"Kanada hatte den Vorteil, dass es seine Einwanderungspolitik viel länger planen konnte als Deutschland, insbesondere in seiner postkolonialen Phase", sagt der frühere kanadische Botschafter in Deutschland, Peter Boehm, t-online. Hinzu komme noch ein schlichter geografischer Fakt: "Wir haben nur ein Nachbarland."
In der Tat hat Kanada deutlich weniger Probleme mit irregulärer Migration als Deutschland, das Landesgrenzen zu zahlreichen Ländern hat. Doch umgekehrt legt Kanada sich für die, die willkommen sind, auch deutlich mehr ins Zeug. Die Regierung lässt die Einwanderer nicht allein. Wer im Land ist, wird quasi an die Hand genommen.
Einwanderer lernen, wie man sich richtig anzieht
Die in ganz Kanada tätige Agentur Costi ist so ein Ort. Sie wird von der Bundesregierung, den Provinzen und den Kommunen gemeinsam finanziert. Unspektakulär sehen die Büroräume in der Zweigstelle Toronto aus. Im Eingangsraum mit grauem Funktionsteppich gibt es Sitzgelegenheiten und ein paar Computer. Im hinteren Teil sind kleine Besprechungszimmer.
Doch der Service der Agentur hat es in sich: 35 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen kümmern sich darum, dass Neuankömmlinge alles bekommen, was sie brauchen. Sie helfen bei der Jobsuche, vermitteln Sprachkurse, unterstützen bei der Beantragung von sozialen Leistungen oder beim Finden einer bezahlbaren Wohnung. Hier lernen Migranten auch, was die kanadische Arbeitskultur ausmacht, welche ungeschriebenen Gesetze es gibt und wie man sich im Beruf anzieht ("dress for success").
Und noch mehr als das: Firmen können hierher kommen und nach passenden Arbeitnehmern suchen. Gibt es ein "Match", unterstützt Costi dabei, dass beide Seiten gut zueinander finden. "Wir erziehen auch die Arbeitgeber, sensibel zu sein", sagt der Geschäftsführer Isaac Fonseca, der einst selbst als Immigrant aus Portugal kam. Sein Credo: "Wenn du gut integriert bist, gewinnen alle."
Auch in Deutschland gibt es inzwischen "Welcome Center", die eine Art ganzheitlichen Ansatz bei der Integration verfolgen. Costi in Kanada existiert seit 1942 und ist nur eines von vielen Angeboten. Es gibt Mentorenprogramme, Communityprogramme, Diversitätsprogramme. Integration wirkt vielerorts nicht wie eine Herkulesaufgabe, sondern wie eine alltägliche Notwendigkeit. So wie essen und trinken.
Keine einzige politische Partei spricht sich öffentlich gegen Immigration aus. Täte sie es, würde sie sich selbst um potenzielle Wähler bringen. In Großstädten wie Toronto stammt inzwischen fast die Hälfte der Bewohner aus einem anderen Land.
Das eigentliche Geheimnis von Kanada ist deshalb nicht seine Zahlenpolitik, sondern seine Mentalität. Die Einwanderer von heute gelten als die Kanadier von morgen. Und nicht als "Gastarbeiter", die man notgedrungen ins Land holen muss. Fachkräfte werden in Kanada "Wirtschaftszuwanderer" genannt; in Deutschland gibt es nur den Begriff der "Wirtschaftsflüchtlinge".
Eine Reise der verpassten Chancen
Und so werden Deutschlands verpasste Chancen eine Art Begleitmusik der Reise von Heil und Faeser. Da ist die Libanesin Aiche Hamide, der die beiden Minister in der Produktionshalle der Siemens-Tochter Siemens Healthineers in Ottawa begegnen. Die 44-jährige Muslima mit Kopftuch zog vor 24 Jahren ihrem Mann nach Kanada nach. Der war schon da und bürgte für sie. Nur sieben Monate später hatte sie ihr Aufenthaltsrecht. Zuvor hatte der Mann als Flüchtling drei Jahre in Deutschland versucht, eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu kommen. Heute sind beide beruflich erfolgreich, gut integriert und haben vier Kinder.
Auch Ratna Omidvar wäre gern in Deutschland geblieben, nachdem sie Anfang der Siebzigerjahre mit einem Stipendium des Goethe-Instituts dort studiert hatte. Aber damals habe es dafür keine Möglichkeit gegeben, erzählt die 73-jährige gebürtige Inderin bei einem Mittagessen in Ottawa in fließendem Deutsch. Mit ihrem Mann, einem Perser, ging sie schließlich nach Kanada. Heute ist sie Senatorin und eine der renommiertesten Integrationsexpertinnen des Landes.
Was sie Deutschland empfehlen würde? "Ich rate Deutschland, den Erfolg von Immigration zu feiern", sagt sie. In Kanada seien die Nachrichten voller Geschichten von erfolgreichen Einwanderern.
In Deutschland gibt es dagegen immer noch Zweifel, ob man sich wirklich als Einwanderungsland definieren sollte. Vor 23 Jahren gab der damalige nordrhein-westfälische CDU-Politiker Jürgen Rüttgers im Landtagswahlkampf die Devise "Kinder statt Inder" aus. Heute hat Deutschland weder besonders viele Kinder noch besonders viele Inder.
Die Mehrheit der Bevölkerung ist für Zuwanderung
Nicht alles in Kanada hält Ex-Botschafter Boehm derweil für nachahmenswert. Dass die Regierung das Ziel der Zuwanderung auf 500.000 jährlich hochgesetzt hat, hält er für "zu schnell". In den Provinzen nehmen Klagen über Wohnungsknappheit und eine Überlastung der sozialen Systeme zu.
Doch insgesamt ist die Unterstützung in der Bevölkerung ungebrochen. Laut einer Umfrage des Environics Instituts im vergangenen Herbst sind 58 Prozent der Kanadier und Kanadierinnen der Ansicht, dass das Land "mehr Einwanderer braucht".
Die Zahl jener, die finden, dass es "zu viel Immigration" gibt, sank dagegen von 61 Prozent im Jahr 1977 auf 27 Prozent im vergangenen Jahr. Obwohl gleichzeitig die Zahl der Zuwanderer ein Rekordniveau erreichte.
Heil und Faeser haben viel zugehört auf dieser Reise. "Gewinnbringend" sei sie gewesen, sagt Faeser in die Mikros der Journalisten. Man könne die Systeme nicht eins zu eins übertragen, aber viel von Kanada "profitieren", sekundiert Heil. Dann verspricht er eine bessere Vernetzung aller Stellen, die für Integration zuständig sind, und "mehr Tempo" beim Abbau von Bürokratie.
Deutschland habe auch Erfahrung mit Einwanderung, sagt Heil, und erinnert an die Zeit, als man in den Sechzigerjahren die Gastarbeiter aus Italien und Jugoslawien holte. Es klingt wie ein Versuch der Ehrenrettung. Dann zitiert er den Schweizer Schriftsteller Max Frisch: "Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen." Angebote der Integration habe es damals kaum gegeben, sagt er und verspricht: "Diesen Fehler werden wir kein zweites Mal machen."
- Begleitung der Reise von Heil und Faeser nach Kanada