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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rechtsextreme Gewalt in den 90ern "Wir verschanzten uns mit Schränken vor den Türen"
Sie patrouillierten durch die Straßen, sie kamen selten allein, sie hatten Lust auf Gewalt: Rechtsextreme, vor allem in Ostdeutschland, vor allem in den Neunzigern. Auf Twitter teilen Menschen ihre Erfahrungen mit der Gewalt.
Da ist dieser Propagandabegriff: national befreite Zone. Ein Schlagwort aus den Neunzigern, das beschreibt, wie Rechtsextreme, Skinheads, Neonazis gezielt versuchten, öffentlichen Raum zu erobern, den Alltag zu prägen, Angst zu verbreiten, Anpassung zu erzeugen. So lässt es sich abstrakt beschreiben.
Da sind aber auch konkrete Erfahrungen, Geschichten und Erinnerungen von Menschen, die erzählen können, was es heißt, wegzulaufen, wegzuschauen, verprügelt, verletzt, verwundet, versehrt, verängstigt zu werden.
Daniel Schulz, Redakteur der "taz", erzählt in seinem preisgekrönten Essay "Wir waren wie Brüder" über seine Jugend in Ostdeutschland: "Als ich die drei Kilometer von der Schule mal nach Hause laufe, hält ein Auto mit quietschenden Reifen neben mir. Ich renne sofort los, rein ins Feld. Hinter mir höre ich es lachen. Ich laufe über zartes Frühlingsgrün, schwere Brocken Matsch kleben an meinen Schuhen und fallen wieder ab. Sie fahren auf der Straße nebenher, rauchen und schauen mir zu. Ein Kilometer vor dem Dorf geben sie Gas und verschwinden."
"Gruselgeschichten" unter Kindern
Der Rapper Hendrik Bolz, Teil von "Zugezogen Maskulin", erzählte kürzlich im "Freitag" von seiner Jugend in Stralsund: "Anderswo wurden Leute direkt tot- und behindert geprügelt, Baseballschläger, Stahlkappen, Schlagstöcke, zu Brei kloppen, abstechen, Bordsteinfressen, Opfern am Boden auf dem Kopf rumspringen – diese Gruselgeschichten tauschten wir Kinder untereinander aus und lange nach dem Sandmann hielten sie mich noch wach, bis mich dann donnernde 'Sieg Heils!' vom Spielplatz sanft in den Schlaf wiegten."
Die Neunziger und Nuller in Teilen Deutschlands – eine Zeit, in der Gewalt normal war? In der das Recht des Brutaleren galt? In der Rechtsextreme die Städte und Dörfer beherrschten? Die Amadeu Antonio Stiftung, die Todesopfer rechtsextremer Gewalt in Deutschland dokumentiert, führt von 1990 bis 2003 besonders viele Fälle auf.
Von den Baseballschlägerjahren reden und schreiben
Christian Bangel, Journalist für "Zeit Online", aufgewachsen in Frankfurt an der Oder, nennt diese Zeit schon seit einer Weile: "Baseballschlägerjahre". Mit Hinweis auf den Text von Bolz twitterte er jetzt: "Ihr Zeugen der Baseballschlägerjahre. Redet und schreibt von den Neunzigern und Nullern. It's about time."
Die Frage, die dahinter steht: Wo war es so und wo nicht und warum? Was wurde verdrängt? Was macht es mit Menschen, die so etwas erleben? Was macht es mit einer Gesellschaft, in der die einen so etwas erleben und es für die anderen abstrakt bleibt, weil ihre Jugend ganz anders aussah, friedlicher, freier? Was lässt sich daraus für heute lernen?
In den vergangenen Tagen setzten zunehmend mehr Menschen Tweets ab, in denen sie über ihre Perspektive auf die #baseballschlaegerjahre schreiben.
Nie mehr schutzlos sein
"August 1990, Konzert von @TheCure im Zentralstadion Leipzig. Das damit begann und damit endete, dass Skins und Faschos uns durch Straßen und Büsche jagten."
"Nachdem mal wieder Faschos in der Straßenbahn hinter mir standen und laut nachgedacht haben, ob sie mich jetzt zusammenschlagen und alle anderen geschwiegen haben, hab ich mir angewöhnt, immer eine schwere Kette bei mir zu haben. Nie mehr schutzlos sein."
"Wie ich nach Konzerten im @Glad_House mich nicht nach Hause traute, weil die Faschos schon um die Ecke auf uns Zecken lauerten."
"Mit 15 Jahren beim Chorlager in einer Jugendherberge in einer Kleinstadt Nähe Leipzig. Ca. 50 Mädchen und eine Handvoll Jungen zwischen 12 und 18 Jahren, friedliche Stimmung, Lagerfeuer und Gitarre. Bis eine Gruppe Dorf-Faschos gern 'Kontakt' zu ein paar Mädchen wollte und das Haus belagerte. Unsere Lehrer waren völlig überfordert, wir verschanzten uns mit Schränken vor den Türen in den Zimmern, bis nach gefühlten Stunden die Polizei kam. Selten so viel Angst gehabt."
"Bin jahrelang nachts immer mit dem Fahrrad gefahren, um schneller abhauen zu können."
"Mit 15 war ich auf dem Geburtstag einer Freundin in #Cottbus. Nach einer halben Stunde hieß es, Nazis seien unterwegs zu uns. Wir haben zwei Stunden im Wald gelegen und beobachtet, wie die vier mit dem Moped nach uns suchten."
Einblick in gesellschaftliche Realitäten
Immer wieder in den vergangenen Jahren haben Menschen soziale Netzwerke genutzt, um unter einem zentralen Schlagwort von Erfahrungen zu berichten und damit ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie verbreitet diese Erfahrungen sind.
In Deutschland berichteten vor allem Frauen unter #aufschrei über Erfahrungen mit Übergriffen, weltweit geschah das später unter dem Schlagwort #metoo. Unter dem Hashtag #metwo berichteten Menschen von rassistischer Diskriminierung. In allen Fällen konnten diejenigen, die keine solchen Erfahrungen machen, etwas über die gesellschaftliche Wirklichkeit anderer Menschen lernen.
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Natürlich lässt sich nicht jeder Bericht überprüfen. Aber Text für Text, Geschichte für Geschichte setzen sich individuelle Erfahrungen zu einem Bild zusammen. Man kann jetzt dabei zusehen.
- Twitter-Ergebnisse für "baseballschlaegerjahre"
- Zeit Online: "Der innere Iwan"
- Zeit Online: "156 Schicksale" – Geschichten der Opfer rechtsextremer Gewalt
- Der Freitag: "Sieg-Heil-Rufe wiegten mich in den Schlaf"
- taz: "Wir waren wie Brüder"