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Mauerfall: Das haben wir mit unserem Begrüßungsgeld gemacht


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Wendezeugen berichten
Das haben wir mit unserem Begrüßungsgeld gemacht

Von chrismon-Autorin Sophie Kirchner

Aktualisiert am 05.10.2019Lesedauer: 9 Min.
Hundert Mark Begrüßungsgeld: Was haben sich Bürger und Bürgerinnen der DDR dafür gekauft?Vergrößern des Bildes
Hundert Mark Begrüßungsgeld: Was haben sich Bürger und Bürgerinnen der DDR dafür gekauft? (Quelle: Sophie Kirchner)

Hundert Mark Begrüßungsgeld, das bekamen Bürger und Bürgerinnen der DDR, wenn sie in die Bundesrepublik einreisten. 1989 kamen viele. Was haben sie sich davon gekauft? Und was würden sie heute tun?

"Gute Platten waren Raritäten"

Christian Hoffmann, 46, Hoher Fläming: Der 9. November war ein Donnerstag. Im Radio sagten sie, die Mauer sei offen. In der Schule – ich war 16 – hat kaum jemand darüber geredet. Erst Freitagabend beim Fußballtraining hat einer erzählt, er sei schon durch Westberlin gefahren. Erst da hat man dann richtig begriffen, was eigentlich passiert ist. Ich habe mich mit zwei Kumpels in den Zug gesetzt und bin nach Berlin, Geld abgeholt und erst mal Käse gekauft. Denn der Käse im Osten schmeckte nicht so gut. Später waren wir fast jedes Wochenende in Berlin. World of Music war ein Musikgeschäft, da gab’s die Greatest Hits von Queen. Gute Platten waren ja Raritäten im Osten. Es gab schon Lizenzprägungen von amerikanischen oder westdeutschen Bands. An die ist man aber nie rangekommen. Wir haben Musik nur auf Kassetten gehört. Von den Platten auf die Kassetten überspielt und manchmal sogar noch mal kopiert, das war oft schauderhaft. Natürlich wünschten wir uns, die Musik mal im Original zu hören!

In Westberlin hat es anders gerochen in den Straßen. Einmal fehlte der Braunkohledunst aus den Ofenheizungen, und dann ist ja jedes Geschäft parfümiert gewesen. Auch die Abgase rochen anders als die vom Trabi oder Wartburg. Das war schon mal ein Kontrast.

Ich hatte eine Freundin in Oldenburg, da bin ich bald hingefahren. Mir fiel auf, dass die Menschen da anders redeten, und damit meine ich nicht den Dialekt. Sie machten viel mehr Worte um viel weniger Fakten. Also wenig sagen – aber viel reden. Wir sind vor der Wende auch schon viel in Osteuropa gereist, aber jetzt waren plötzlich ganz andere Ziele möglich. 1991 bin ich mit dem Zug nach Paris und mit dem Fahrrad zurück. Ein Jahr später mit dem Zug durch Skandinavien, 1993 mit dem Rad nach Istanbul. 1994 war ich in Bulgarien, 1995 in Schweden . . . Seit 1996 bin ich Landwirt, dann war nicht mehr an drei bis vier Wochen Urlaub zu denken. Das ist ein Fulltime-Job.

Das Reisen war mir wichtig. Ansonsten bin ich immer noch recht kapitalismuskritisch und pazifistisch eingestellt. Deswegen habe ich auch Zivildienst gemacht und war in meiner Jugend viel in Berlin in den Hausbesetzerkneipen unterwegs.

Was ich aus der DDR vermisse? Manche Lebensmittel, zum Beispiel Joghurt. Da reichen die von heute nicht ran, weil sie alle chemische Zusätze haben. Die Mangelwirtschaft hatte auch was Gutes. Wir hatten im Osten eine sehr gute Recyclingquote von Glas und Flaschen oder Altpapier. Da gab es in jedem Dorf eine Annahmestelle. Als Kinder haben wir uns damit sogar ein bisschen Geld verdient: Ein, zwei Mal im Jahr sind wir mit dem Handwagen rum und haben geklingelt, ob wir Zeitungen abholen können.

Was würden Sie sich heute kaufen, wenn Ihnen der Staat 100 Euro schenken würde? Wahrscheinlich Bücher.

"Ich wollte Edgar-Wallace-Krimis kaufen"

Werner und Kerstin Konschack, 61 und 53, Treuenbrietzen. Werner: Wir haben uns erst mal angehört, was andere über den Westen berichtet haben. Und dann sind wir im Dezember über Potsdam, Glienicker Brücke, reingefahren. Da gab es schon keine Menschenmassen mehr. Trotzdem hatte ich erhöhten Blutdruck, das kann ich Ihnen sagen! Mir fiel auf, dass die Wände alle angemalt waren, mit Graffiti, und überall Reklame hing. Alles hatte mehr Farbe, bei uns gab es ja nur grauen Beton.

Kerstin: Jetzt hat man sich an die Reklame gewöhnt und glaubt das auch nicht mehr alles so wie früher. Wir waren dann in irgendeinem riesigen Kaufhaus, ich glaube auf dem Ku’damm. Von dem Geld wollte ich mir eigentlich Edgar-Wallace-Krimis kaufen. Aber die haben wir leider nicht gefunden, also haben wir den Toaster gekauft.

Werner: Die Zeit ist so schnelllebig geworden. Ich hätte nie gedacht, dass der Toaster so lange funktioniert. Es ist ein gutes Markenprodukt, aber die Firma kann davon nicht existieren, wenn einer 30 Jahre seinen Toaster benutzt. Da geht die pleite!

Kerstin: Ich hätte ihn nicht haben müssen, den Mauerfall. Wir wären weiter nach Bulgarien gefahren, da war es auch wunderschön. Zu DDR-Zeiten hat man immer Geld gehabt, und man konnte auch immer sparen. Jetzt ist es immer knapp am Ende des Monats. Wir haben uns in der DDR sicherer gefühlt. Sicherer vor Verbrechen, vor Armut oder finanziellen Problemen. Früher war unsere Gartentür immer offen. Jetzt nicht mehr.

Was würden Sie sich heute kaufen, wenn Ihnen der Staat 100 Euro schenken würde?

Kerstin: Für 100 DM hatte man früher einen Einkaufskorb voll mit Lebensmitteln. Heute kriegt man dafür kaum noch eine Tasche voll. Das reicht nicht mal für die ganze Woche. Das ist schon traurig. Ich wollte mir schon immer mal einen guten Staubsauger kaufen . . .

Zur Autorin: Sophie Kirchner, geboren in Ostberlin, war fünf Jahre alt, als die Mauer fiel. Die Erwachsenen um sie herum, sagt sie, seien damals so glücklich, so euphorisch gewesen – das habe ihr Angst gemacht. Seit 2014 ist das Begrüßungsgeld ihr Thema, sie fotografiert Ostdeutsche und deren Käufe – und fragt danach, was sie erlebt haben. https://www.sophiekirchner.com/

"Ein Frosch für unsere Tochter"

Bernd Pohle, 61, Guben: Ich war das erste Mal mit meiner damaligen Frau im Westen, in Hamburg, 1990. Bei der Bahnhofsmission konnte man sich damals melden und bei einer Familie für ein paar Tage unterkommen. Ich erinnere mich, dass wir uns viel mit der Familie unterhalten haben. Einen Abend bin ich nur mit dem Mann der Familie zur Reeperbahn gefahren und hab mir das mal angeguckt. An einem anderen Tag holten wir uns das Begrüßungsgeld bei der Sparkasse ab. Ich habe eine Bohrmaschine gekauft und diesen Frosch, für unsere Tochter, die kurz vor der Wende zur Welt gekommen war. Ein Kindershampoo, das nicht so in den Augen brannte wie die aus dem Osten.

Meiner Meinung nach hätte Erich alle reisen lassen sollen, wie sie wollen. Wer wiederkommt, kommt wieder, und wer bleibt, der bleibt. Dann wäre es vielleicht gar nicht so gekommen.

Was hat sich für uns Ostdeutsche mit der Wende geändert? Wir hatten damals Arbeit und konnten uns nichts leisten, heute haben wir keine Arbeit und können uns immer noch nichts leisten.

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Was würden Sie sich heute kaufen, wenn Ihnen der Staat 100 Euro schenken würde?

Ich denke, ich würde es zu einer Reise mit dazulegen.

"Wenn ich die kaufe, habe ich was fürs Leben!"

Christian Elsner, 48, Oranienburg: Ich verurteile heute noch die Leute, die damals in der DDR nach den Regeln gespielt haben. Ich bin da nachtragend. Zwei Mal war ich bei Klassentreffen, und es hat mich angekotzt, dass ich immer noch der Außenseiter war. Meine Freunde haben sich zum Beispiel durch die GST, die Gesellschaft für Sport und Technik, ihren Führerschein finanziert. Ich hatte meinen Mopedführerschein auf eigene Rechnung gemacht, weil ich nicht in Uniform über den Platz rennen wollte. Daraufhin meinten die anderen: "Bist du doof?"

Das wird mir heute immer noch vorgehalten: "Christian, warum hast du damals nicht mitgemacht? Warum hast du nicht die Vorteile des Ostens genossen?" Und so zog sich das weiter.

Meine Familie war nicht im Freien Deutschen Gewerkschaftsbund. Wenn alle an die Ostsee fuhren, waren wir eben zelten. Ich habe später auch keine Wohnung bekommen, weil weder ich noch die anderen in meiner Familie gedient hatten. Ich bin dann bei meiner Oma eingezogen, mit Plumpsklo auf dem Hinterhof und nur einem Wasserhahn im Haus.

Damals hatte ich Kontakt zu Aussiedlern, Oppositionellen und der Friedensbewegung, ich bin überall mitgerannt. Wurde mehrfach zur Stasi vorgeladen. Weil ich von meiner Oma aus Lübeck einen Bundeswehrparka geschenkt bekommen und den morgens zum Fahnenappell anhatte. Oder weil ein Lesezeichen der Kirche in meinem Buch steckte, Schwerter zu Pflugscharen . . .

Dass 1989 keine Schüsse an den Grenzübergängen gefallen sind, grenzt an ein Wunder. Durch die Montagsdemonstrationen in Leipzig kannte ich die Staatsgewalt. Die konnte auch anders!

Das Begrüßungsgeld war ja eine freundliche Geste, aber wie sich einige Ossis verhalten haben und das ausnutzten, das war wie Ausverkauf. Erst mal wusste ich gar nicht, was ich mit dem Geld sollte. Und dann bin ich nach Spandau und habe mir die Zange geholt, die ich da in einem Werkzeugladen gesehen hatte. Solche Zangen gab es im Osten nicht. Diese Technologie mit dem Schnellverschluss und den metrischen Schraubenmassen, die einen Werkzeugkasten ersetzen. Und auch die Qualität und Leichtigkeit, das ergonomische Handling, war was völlig anderes, als was wir im Osten hatten. Ich wusste damals schon: Wenn ich die kaufe, habe ich was fürs Leben! Ich war fasziniert von dem Ding, es war ab dann mein Baby.

Diese Wende-Euphorie ging ja nur ein bis zwei Jahre, und dann kam das böse Erwachen. Viele sind in den Westen gegangen, darunter auch Handwerker. Viele Freunde und Bekannte. Das Netzwerk ging verloren, und der Ersatz für Zusammenhalt und Miteinander wurde plötzlich Geld. Es hat sich nach der Wende zehn Jahre lang alles nur noch ums Geld gedreht. Der Kapitalismus hatte uns voll eingeholt, mit aller Härte.

Was würden Sie sich heute kaufen, wenn Ihnen der Staat 100 Euro schenken würde?

Ein Okuliermesser. Ich habe einen großen Obstgarten und möchte in Zukunft Obstbäume veredeln, neue Sorten entdecken und alte erhalten. Wieder ein Werkzeug. So schließt sich der Kreis.

"Der Kauf war überhaupt nicht geplant"

Ines Manuela Becker, 59, Flecken Zechlin: "Ich hab so Heimweh nach dem Kurfürstendamm", spielt die Glocke, Hildegard Knef. Natürlich kannte man das Lied im Osten, zu Hause und bei Autofahrten wurde immer viel gesungen. Musikerinnen wie Nina Hagen, die schrill und anders waren, fanden wir cool, denn die haben sich was getraut. Sie mussten ja ihre Texte alle abzeichnen lassen. Die konnten ja nie singen, was sie singen wollten. Dann wären noch viel schönere Lieder dabei rausgekommen. "Ich hab so Heimweh" ist eines der alten Berliner Lieder, die mochte ich schon immer.

Der Kauf der Spieluhr war überhaupt nicht geplant. Wichtig war, Berlin war vereint, und die Glocke hat das besiegelt! Aber heute ist Berlin nicht mehr Berlin. Die Stadt ist eine Katastrophe geworden. Wenn ich die Straßen sehe, wo ich groß geworden bin, in Mitte, stimmt es mich traurig. Ich habe unheimliche Angst davor, dass ich mal überfallen werden könnte, und mache mir große Sorgen um meine Kinder. Meine Tochter muss lange arbeiten, jeden Tag fährt sie spät mit der S-Bahn nach Hause. Finanziell geht es mir schlecht. Das Einzige, was ich mir einmal im Jahr leiste, ist ein Wellnessurlaub in Polen mit meiner Freundin.

Was würden Sie sich heute kaufen, wenn Ihnen der Staat 100 Euro schenken würde?

Ich würde das Geld an ein Tierheim spenden.

"Ich durfte mir eine Sache aussuchen"

Stefanie Fiedler, 36, Magdeburg: Ein paar Tage nach dem Mauerfall sind wir mit der ganzen Familie nach Helmstedt gefahren. Ich war sechs, mein Bruder drei und meine Mutter hochschwanger mit meiner Schwester. Ich kann mich noch daran erinnern, dass unglaublich viele Autos auf der Autobahn waren. Und die Innenstadt von Helmstedt war total voll, ungewöhnlich für so eine kleine Stadt. Wir sind in ein Geschäft rein – das war wie in einem amerikanischen Kitschfilm: helles Licht, alles blinkte und ganz viel Glitzer. Die Regale gefüllt bis unter die Decke mit Spielzeug bis zum Umfallen. Ich war überfordert. Das ist meine Erinnerung an den ersten Tag im Westen. Herzklopfen, der Mund steht offen, viele Menschen, Enge und auch ein Gefühl wie ein Rausch. Es war einfach so anders als alles, was ich vorher kannte.

Und dass die Erwachsenen so überwältigt waren, übertrug sich natürlich auch auf uns Kinder. Dass etwas von heute auf morgen komplett anders war, das habe ich gespürt. Und dann habe ich mir in dem Geschäft das Pony gekauft. Ich durfte mir eine Sache aussuchen, und bei der immensen Auswahl an Spielzeug hat das auch gedauert. Diese Erfahrung hat mich sehr geprägt: Ich kann mich nur schwer entscheiden.

Was würden Sie sich heute kaufen, wenn Ihnen der Staat 100 Euro schenken würde?

Wahrscheinlich würde ich es erst mal weglegen und ein Wochenende darüber nachdenken. Denn ich mag ja Entscheidungen nicht so gern. Vielleicht würde ich mir ein paar schöne Stoffe kaufen. Und auch etwas für meine Kinder!

"Ich wollte mir etwas Hochwertiges kaufen

Eberhard Pulz, 73, Hoher Fläming: Der Rucksack hat für mich Symbolcharakter. Ich war schon immer interessiert daran gewesen, meine Wanderausrüstung zu verbessern. Es war kein Spontankauf, ich wollte mir etwas Hochwertiges kaufen, mit guter Funktionalität. Der Rucksack kostete um die 300 Mark. Meine erste Reise damit führte mich und meine Wandergruppe nach Rumänien. Besonders betroffen war ich, als ich erfuhr, dass meine ehemaligen Kollegen vom Kraftwerksanlagenbau Berlin fast ausnahmslos arbeitslos wurden. Mir selbst erging es besser. Von 1983 an war ich Angestellter der Akademie der Wissenschaften (AdW), und 1990 erfolgte eine Evaluierung durch westdeutsche Professoren, die der DDR-Wissenschaft nicht unbedingt wertschätzend gegenüberstanden.

Am Ende wurden zwar sehr viele Institute positiv bewertet – aber trotzdem aufgelöst. Ich bekam aber sofort eine Anstellung im neu gegründeten Deutschen GeoForschungsZentrum in Potsdam, wo ich auch noch nach der Berentung tätig war. Seit der Wende habe ich das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft. Das kann natürlich auch mit dem Alter zusammenhängen!

Was würden Sie sich heute kaufen, wenn Ihnen der Staat 100 Euro schenken würde?

Ich würde es recht emotionslos in mein Portemonnaie stecken und für irgendetwas ausgeben, was ich als nächstes brauche.

Diese Geschichte erscheint in Kooperation mit dem Magazin "chrismon". Die Zeitschrift der evangelischen Kirche liegt jeden Monat mit 1,6 Millionen Exemplaren in großen Tages- und Wochenzeitungen bei – unter anderem "Süddeutsche Zeitung", "Die Zeit", "Die Welt", "Welt kompakt", "Welt am Sonntag" (Norddeutschland), "FAZ" (Frankfurt, Rhein-Main), "Leipziger Volkszeitung" und "Dresdner Neueste Nachrichten". Die erweiterte Ausgabe "chrismon plus" ist im Abonnement sowie im Bahnhofs- und Flughafenbuchhandel erhältlich. Mehr auf: www.chrismon.de

Weiterführende Links auf chrismon.de:

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