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Fachkräftemangel bringt System in Gefahr: "Das können wir uns nicht mehr leisten"


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Flüchtlinge auf Jobsuche
"Das können wir uns nicht mehr leisten"

InterviewVon Miriam Hollstein

Aktualisiert am 14.05.2023Lesedauer: 7 Min.
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Ukrainische Flüchtlinge im März 2022 in Hannover: Nur ein Teil von ihnen geht inzwischen in Deutschland einer Arbeit nach. (Quelle: IMAGO/Martin Dziadek)
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In Deutschland fehlt es an Fachkräften. Das bringt das System in Gefahr. Ein Interview mit Bundesarbeitsagentur-Vorstand Daniel Terzenbach darüber, was jetzt geschehen muss, um den deutschen Arbeitsmarkt zu retten.

Zwei Millionen Arbeitsplätze können zurzeit in Deutschland nicht besetzt werden – weil es an Arbeitskräften mangelt. So groß war diese Lücke noch nie. Die ersten Pflegeheime müssen bereits schließen, weil sie kein Personal mehr finden. Experten gehen davon aus, dass diese Zahl in den kommenden Jahren noch deutlich steigen wird – mit dramatischen Folgen. Daniel Terzenbach kümmert sich im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit ums operative Geschäft. Ein Gespräch über die Schritte, die jetzt notwendig sind, um das deutsche System zu erhalten und darüber, auf welche falschen Anreize man lieber verzichten sollte.

t-online: Herr Terzenbach, seit Kriegsbeginn sind über eine Million ukrainische Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Wie viele davon arbeiten inzwischen?

Daniel Terzenbach: Seit Beginn des Krieges in der Ukraine vor knapp einem Jahr haben 75.000 Menschen aus der Ukraine eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen. Hinzu kommen noch mal 24.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Minijobs. Das ist schon mal eine ganze Menge.

Knapp 100.000 von mehr als einer Million klingt allerdings nicht übermäßig viel.

Nur auf den ersten Blick. Denn von der Gesamtzahl muss man erst mal jene abziehen, die nicht im erwerbsfähigen Alter sind oder bei denen ganz klare Gründe gegen eine Arbeitsaufnahme sprechen: Kinder, Großeltern, alleinstehende Frauen, die keine Kinderbetreuung haben. Wenn Sie das alles abziehen, bleiben weniger als 500.000 ukrainische Geflüchtete im erwerbsfähigen Alter, die bei uns in der Betreuung sind. Wenn man dann auch noch berücksichtigt, dass viele von ihnen bei ihrer Ankunft die deutsche Sprache nicht sprechen und eine traumatische Flucht hinter sich haben, sind 100.000 Beschäftigte positiv zu bewerten. Und es wären sicherlich noch mehr, wenn zum Teil die Wartezeit auf Integrationskurse nicht angesichts der hohen Zahl der Geflüchteten steigen würde.

Daniel Terzenbach, Vorstand der Bundesagentur für Arbeit: "Das Anwerben von Arbeitskräften aus Drittstaaten ist harte Arbeit."
Daniel Terzenbach ist seit 2019 im Vorstand der Bundesagentur für Arbeit. (Quelle: imago-images-bilder)

Der jüngste Vorstand der Arbeitsagentur

38 Jahre war Daniel Terzenbach alt, als er 2019 in den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit gewählt wurde, als jüngster Vorstand in der Geschichte. Erfahrung brachte er dennoch reichlich mit: Nach seinem Social-Management-Studium an der Fachhochschule Dortmund arbeitete Terzenbach zunächst in einem Jobcenter und seit 2009 für die Bundesbehörde selbst. Er ist operativ für 250 Arbeitsagenturen verantwortlich. Terzenbach ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Stellen Sie bei Flüchtlingen aus der Ukraine eine andere Arbeitsmotivation fest als bei Flüchtlingen aus anderen Ländern?

Nein. Auch bei den syrischen und afghanischen Geflüchteten war und ist die Motivation ganz überwiegend hoch. Die Personengruppen aus den beiden Fluchtwellen kann man allerdings auch nicht wirklich seriös vergleichen. 2015/2016 handelte es sich häufig um junge Männer mit einer vergleichsweise niedrigen Qualifikation. Viele gingen in die Zeitarbeit oder fanden Helferjobs in der Produktion, bei denen Sprache eher kompensierbar ist. Aus der Ukraine kommen im Schnitt zehn Jahre ältere Frauen mit hoher Qualifikation. Diese Qualifikationen benötigen einen viel höheren Grad an Deutschkenntnissen.

Hinzu kommt, dass die ukrainischen Flüchtlinge sofort Zugang zum Arbeitsmarkt bekamen. Hätte man das früher für Geflüchtete einführen sollen?

Im Nachhinein ist man immer schlauer, klar. Aber 2015 kamen in kurzer Zeit sehr viele Menschen zu uns. Da war das System auch einfach noch nicht so aufgestellt und zu Beginn überfordert. Es war auch nicht auf die direkte Arbeitsmarktintegration ausgelegt. Hinzu kam, dass die Anerkennungsprozesse lange dauerten und die durchschnittliche Wartezeit auf einen Integrationskurs damals zum Teil bis zu ein Jahr betrug. Heute sind es drei Monate. Wir haben also seither viel dazugelernt.

Wie viele ukrainische Flüchtlinge werden am Ende Ihrer Schätzung nach in Arbeit sein?

Ich halte es für realistisch, dass von den ukrainischen Geflüchteten, die bleiben, nach circa fünf Jahren deutlich mehr als 50 Prozent eine Arbeit aufgenommen haben werden. Das wäre ein Erfolg und mehr als aus früheren Fluchtbewegungen, die die Migrationsforschungen zeigen. Allerdings müssen dafür die Rahmenbedingungen stimmen. Da es sich bei den ukrainischen Geflüchteten oft um Mütter handelt, muss die Kinderbetreuung sichergestellt sein.

Warum klappt eine so hohe Quote bei syrischen Flüchtlingen nicht?

Wenn wir einen 5-Jahres-Zeitraum betrachten, also von 2015 bis 2020, dann sind auch bei ihnen inzwischen deutlich über 40 Prozent erwerbstätig, trotz Corona, wo der Arbeitsmarkt zum Teil eingefroren war.


Quotation Mark

"Der deutsche Arbeitsmarkt ist auf die deutsche Sprache fixiert."


Daniel Terzenbach, Vorstand bei der Bundesagentur für Arbeit


Die Aufnahme von Geflüchteten ist ein Thema für den Arbeitsmarkt. Das andere ist der massive Fachkräftemangel, unter dem Deutschland leidet. Wo liegt das Problem?

Der deutsche Arbeitsmarkt ist stärker als andere Arbeitsmärkte wie etwa Nordeuropa auf zwei Dinge fixiert – die deutsche Sprache und formal anerkannte Berufe. Ohne ein Zertifikat ist es in Deutschland immer noch schwieriger. Um es greifbarer zu machen: Fünf Minuten vor der Gesellenprüfung bin ich in Deutschland formal noch unqualifiziert und mein "Marktwert" ist um ein Vielfaches tiefer als fünf Minuten nach der bestandenen Prüfung. Für Menschen aus dem Ausland heißt es daher ganz oft, dass wir deren Kompetenzen und Berufserfahrung nicht direkt würdigen.

Was müsste sich ändern?

Wir sollten stärker dazu übergehen, die in der Heimat erlernten Fertigkeiten schneller anzuerkennen, auch wenn sie zunächst nicht zu 100 Prozent unseren deutschen Standards entsprechen.

Aber würde das nicht einen Niveauverlust bedeuten?

Nicht, wenn man parallel dazu Kurse organisiert, die helfen, das deutsche Niveau zu erreichen. Es hilft nichts, wenn wir weiterhin die Potenziale der Menschen nicht nutzen, die wir eigentlich als Arbeitskräfte dringend brauchen.

Wie sieht es bei Sprachkenntnissen aus? In der Pflege zum Beispiel ist es sehr schwierig, wenn jemand nicht die Begriffe beherrscht.

Es kommt auf den Beruf an. Grundsätzlich könnte ein System helfen, das den Spracherwerb nicht nur an den Anfang setzt. Aus Arbeitsmarktsicht ist es schwierig, wenn Menschen erst einmal jahrelang die Sprache lernen, dann aber noch keinen Tag gearbeitet haben. Besser wäre es, berufsbegleitend weitere Sprachkurse anzubieten.

Würden Sie sagen, dass der deutsche Arbeitsmarkt sich selbst schwächt, indem er zu lange auf diesen beiden Prinzipien – Sprache und Qualifikation beharrt?

Das Thema formale Qualifikation hat Licht und Schatten. Auf der einen Seite sind wir eine Industrienation, die von dem neuesten und besten Wissen lebt. Andererseits erschweren wir den Arbeitsmarktzugang durch formale Strukturen auf eine Art und Weise, die wir uns nicht mehr leisten können. Wir sollten einfach anerkennen, dass der Arbeitsmarkt vielfältiger wird und auch schon ist. Immer mehr Beschäftigte mit Migrationsgeschichte sind selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft und zahlen ebenso in das Sozialsystem ein. Der Anteil von Ausländern an unserem Beschäftigungswachstum ist in den letzten Jahren enorm gestiegen.

Über welchen Zeitraum sprechen wir?

2012 machten Ausländer 30 Prozent des Beschäftigungswachstums aus, im vergangenen Jahr waren es 70 Prozent. Seit zwei Monaten geht das Beschäftigungswachstum ausschließlich auf Ausländer zurück.

Das neue Fachkräftezuwanderungsgesetz soll den Mangel bekämpfen helfen. Eine der größten Neuerungen ist, dass ein Abschluss in der Heimat und zwei Jahre nachgewiesene Berufserfahrung reichen, um nach Deutschland zu kommen und nach Arbeit zu suchen.

Es wird eines der liberalsten Fachkräfteeinwanderungsgesetze weltweit. Und es trägt der Erkenntnis Rechnung, dass die bisherige Strategie, Fachkräfte vorwiegend aus dem EU-Binnenmarkt zu rekrutieren, nicht reicht.

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Warum nicht?

Weil es in vielen europäischen Ländern wie Polen, Bulgarien und Rumänien nach der Pandemie Nachholeffekte gibt und die Fachkräfte im eigenen Land mittlerweile selbst stark umworben werden. Zumal auch diese Länder mit dem demografischen Wandel zum Teil intensiver als Deutschland zu kämpfen haben.

Was passiert, wenn wir den Fachkräftemangel nicht in den Griff bekommen?

Wenn es kein ausreichendes Angebot an Arbeitskräften gibt, schrumpft eine Volkswirtschaft. Unsere Sozialversicherungssysteme sind dann dauerhaft so nicht mehr finanzierbar. Auch der Binnenkonsum ginge zurück, wenn etwa Hotellerie und Gastronomie kein Personal mehr bekommen. Deshalb lautet die ganz zentrale Frage: Wie können wir Menschen für Deutschland begeistern?

Wie kann man das noch ungenutzte Potenzial an Arbeitskräften im Inland aktivieren? Bei 60-jährigen Arbeitnehmern liegt die Beschäftigungsquote bei knapp 60 Prozent …

… und lag 2015 bei 55 Prozent. Da ist also schon einiges geschehen. Rund 72 Prozent aller 55- bis 65-Jährigen in Deutschland sind erwerbstätig. In Rumänien sind es nur rund 43 Prozent, in Schweden allerdings fast 77 Prozent.

Was müssen wir tun, um das schwedische Niveau zu erreichen?

Aus Arbeitsmarktsicht wären verschiedene Dinge wichtig, um die Erwerbstätigkeit bei Älteren zu erhöhen: ihre Arbeit wertschätzen und im Sinne der Fachkräftesicherung keine falschen Anreize setzen. Ein Beispiel kann hier die Altersteilzeit sein. Ganz wichtig ist, die Arbeitsbedingungen so zu gestalten, dass die Menschen tatsächlich physisch und psychisch gesund älter arbeiten können. Ohne geht es nicht. Arbeitgeber sollten verstärkt Präventionsprogramme zur Vermeidung psychischer und körperlicher Erkrankungen anbieten. Man darf aber auch nicht die Augen vor der Realität verschließen, dass es nicht in jedem Beruf gleichermaßen geht.

Wie sieht es bei Frauen aus?

Wir haben bereits eine der höchsten Erwerbsbeteiligungen von Frauen im europäischen Vergleich. Allerdings arbeiten sehr viele in Teilzeit. Da würde es schon reichen, wenn es gelänge, die durchschnittliche Stundenzahl pro Woche zu erhöhen. Diese liegt bei teilzeitbeschäftigten Frauen bei 22 Stunden. Auch hier können aus Arbeitsmarktsicht zum Teil falsche Anreize eine Rolle spielen. Das Ehegattensplitting zum Beispiel. Und natürlich ein mangelndes Angebot an Kinderbetreuung. Auch die Pflege von älteren Familienangehörigen müsste anders abgesichert sein, weil immer noch überwiegend Frauen die Care-Arbeit machen.

Wie sieht es mit der weiteren Qualifikation von Arbeitslosen aus?

Da kommt durch das Bürgergeld noch viel in Bewegung. Wir können die Menschen jetzt auch besser unterstützen, zum Beispiel bei der Umschulung, für die bis zu 150 Euro monatlich gezahlt werden. In der Vergangenheit hat es sich für einen Arbeitslosen, der in der Grundsicherung war, eher gelohnt, einen Ein-Euro-Job anzunehmen als eine wirklich anstrengende Umschulung. Und dann sind da noch die Schwerbehinderten …

... was ist mit ihnen?

Wir haben 165.000 arbeitslose Menschen mit einer Schwerbehinderung in Deutschland. Im Schnitt sind sie besser qualifiziert als andere Arbeitslose und dennoch haben sie es schwerer, auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen. Auf der einen Seite müssen wir als BA unsere Unterstützungsangebote noch bekannter machen, auf der anderen Seite glauben manche Arbeitgeber noch, dass erst ganz viel Wissen über Behinderungen notwendig wäre oder hohe rechtliche Hürden würden im Weg stehen. Mit solchen oder anderen Mythen muss man aufräumen.

Verwendete Quellen
  • Interview mit Daniel Terzenbach in Berlin
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