t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikDeutschlandGesellschaft

Konflikt mit Putin: "Deutschland hat sich in eine Sackgasse manövriert"


Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.

Konflikt mit Putin
"Deutschland hat sich in eine Sackgasse manövriert"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 19.09.2022Lesedauer: 8 Min.
Wladimir Putin: Russlands Präsident weiß genau um die deutschen Ängste.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Präsident weiß genau um die deutschen Ängste. (Quelle: Alexei Nikolsky/imago-images-bilder)
News folgen

Krise folgt auf Krise, das Vertrauen der Deutschen in die Regierungspolitik schwindet. Wie der Kanzler und seine Minister mehr Rückhalt gewinnen können, erklärt der Soziologe Armin Nassehi im Interview.

Normalität war früher, die Gegenwart ist von immer mehr Krisen geprägt, die sich überlagern. Corona und Ukraine-Krieg, Rekord-Inflation und Energiemangel: Viele Bürger fühlen sich zunehmend überfordert. Und die schlimmsten Folgen der Erderhitzung kommen erst noch. Armin Nassehi zählt zu den führenden Soziologen Deutschlands. Er erklärt im Gespräch mit t-online, wieso die moderne Gesellschaft ein Grundbedürfnis der Menschen nicht mehr stillen kann.

t-online: Professor Nassehi, das Ansehen der Ampelkoalition ist nach nicht einmal einem Jahr im Amt ziemlich ramponiert, der Ruf der Politik insgesamt rangiert in Teilen Deutschlands zwischen Desinteresse und Verachtung. Wie können Politiker wieder an Respekt gewinnen?

Armin Nassehi: Die einfache Antwort lautet: durchs Gelingen. Das mag banal klingen, trifft aber zu. Die Menschen wollen, dass ihre Probleme gelöst werden. Nicht mehr und nicht weniger. Und zwar keine abstrakten Probleme irgendwelcher Art, sondern diejenigen, die sie konkret und persönlich betreffen.

Leichter gesagt als getan. Schnelle Lösungen scheinen in Zeiten von Pandemie, Ukraine-Krieg und Energiekrise nicht mehr möglich zu sein. Wie kann die Politik wieder handlungsfähiger werden?

Handlungsfähig ist sie ja, aber gerade die derzeitige Krise zeigt, dass unmittelbares Gelingen noch schwieriger ist als sonst.

Geben Sie mal ein Beispiel.

Nehmen wir die derzeitige Energiekrise: Die Ängste der Menschen sind keineswegs irrational oder unberechtigt. Alle bangen, ob Wladimir Putin uns einen eisigen Winter beschert. Deutschland hat sich zweifellos in eine Sackgasse manövriert, aus der es sich nun mühsam befreien muss. Wie das zu erreichen ist, stößt unter den gegebenen Bedingungen an Grenzen. Einerseits ist es nötig, wenigstens den Eindruck zu erwecken, die Autonomie des Handelns zu erhalten, andererseits haben viele Menschen den Eindruck von Konfusion, insbesondere im Hinblick auf Strom, Erdgas und die Preisentwicklung.

Spielen Sie auf die umstrittene Gasumlage aus dem Bundeswirtschaftsministerium an, mit der die Verbraucher an der Stabilisierung der Gasversorger beteiligt werden sollen?

Die Gasumlage ist ein gutes Beispiel. Viele fragen sich, warum sie dafür zahlen müssen, dass Deutschland allen Warnungen zum Trotz bis zum Kriegsausbruch und darüber hinaus in dieser extremen Abhängigkeit vom Kreml geblieben ist. Es gibt zahlreiche weitere Belege für widersprüchlich erscheinendes Handeln: Deutschland will einerseits aus der Atomkraft aussteigen, kauft andererseits aber im Ausland Atomstrom ein. Deutschland will einerseits im eigenen Land kein Fracking zur Erdgasgewinnung betreiben – man erwirbt so gewonnenes Gas aber woanders. Das ist kein direktes Plädoyer fürs Fracking in Deutschland, aber es verweist auf Widersprüchlichkeiten, die in dieser Krise freilich unvermeidlich scheinen.

Armin Nassehi, Jahrgang 1960, lehrt Allgemeine Soziologie und Gesellschaftstheorie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Herausgeber der Kulturzeitschrift "Kursbuch", seit 2020 ist der Soziologe Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina. Im letzten Jahr erschien Nassehis Buch "Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft".

Vermutlich auch deshalb, weil die Regierenden einen Aufschrei in Teilen der Bevölkerung fürchten. Vor allem bei vielen Grünen-Anhängern wäre mit Fracking wohl eine rote Linie überschritten. Noch eine – denn gerade erst hat Robert Habeck entschieden, zwei deutsche Atomkraftwerke über das Jahresende hinaus in Reserve behalten zu wollen.

Der politische Prozess ist eben auch an der Frage politischer Gefolgschaft und Loyalität orientiert. Das darf man gar nicht als Vorwurf formulieren, man wäre naiv, wenn man das negieren würde. Man muss allerdings sagen, dass die Grünen im Vergleich zu anderen Koalitionären weit flexibler waren im Hinblick auf die eigenen Positionen. Dass es in einer Demokratie schwierig ist, mit einer Stimme zu sprechen, spielt der erpresserischen Strategie Russlands natürlich in die Hände.

Putin weiß eben, wie er in Deutschland Unbehagen und Furcht auslösen kann.

Ja, Putin kennt uns viel zu gut. Die Verunsicherung bezüglich der Energieversorgung und die Preisentwicklungen sind natürlich kalkuliert, auch die Drohung mit einer weiteren kriegerischen Eskalation.

Hat Olaf Scholz ausreichend Standhaftigkeit bewiesen?

Gerade was die Reaktion auf den Krieg angeht, ist es offensichtlich schwierig, klare politische Ziele zu formulieren. Was ist das Ziel der Unterstützung der Ukraine? Wie sehen Szenarien der Hilfe aus? Zu welchem Zweck dienen Waffenlieferungen und warum ist man da so zögerlich? Man kann an diesen Fragen sehen, dass sie taktische und strategische Konnotationen haben, dass es darüber womöglich nicht nur Einigkeit gibt und vor allem, dass offen kommunizierte Ziele und Szenarien riskant sind. Wahrscheinlich geht es darum, die Ukraine so stark zu machen, dass Russland einen Anreiz hat, zu verhandeln und sich womöglich zurückzuziehen. Das deutet sich militärisch gerade an. Dabei kommt es nun wohl auf die konsequente Weiterführung der Strategie an. Man kann das nicht einfach unter dem Stichwort "mehr" oder "weniger" diskutieren, sondern muss hoffen, dass ein Konzept dahintersteht.

Nun scheint die Bundesregierung aber vollauf mit der Lösung der real existierenden Probleme beschäftigt zu sein, anstatt Ziele zu formulieren, die erst irgendwann in der Zukunft erreicht werden können.

Politik in komplexen Problemlagen ist ohnehin sehr gegenwartsorientiert. Das potenziert sich nun angesichts der Energiekrise, der Inflation und der sozialen Folgen radikal. Das Besondere an solchen Krisensituationen ist, wie sichtbar das Entscheiden unter Bedingungen von Unsicherheit wird.

Müssten Politiker nicht stärker daran arbeiten, den Wählern den Eindruck von Kompetenz zu vermitteln? Müsste also bei der Besetzung von Posten stärker auf fachliche Expertise statt auf den Parteiproporz geachtet werden?

Das ist leichter gesagt als getan. Politik hat immer zwei Probleme gleichzeitig zu lösen: Sachfragen und Fragen der politischen Gefolgschaft und Loyalität. Das eine überlagert das andere. Und wie Erfahrungen zeigen, wären auch technokratische oder Expertenregierungen vor dieser Doppelaufgabe des Politischen nicht gefeit. Ich will jetzt nicht über Habeck reden, aber dass gerade bei ihm überhöhte Verehrung und übertriebene Kritik gleichzeitig vorkommen, liegt auch daran, dass sein politischer Stil das Problem "Entscheiden unter unsicheren Bedingungen" besonders sichtbar macht. Das wirft ein Licht darauf, dass Transparenz nicht unbedingt mehr Sicherheit und Gefolgschaft erzeugt.

Sie haben gesagt, dass die Bürger ihre persönlichen Probleme gelöst sehen wollen. Wie verhält es sich mit dem größten aller Probleme, der Klimakrise? Diese Bedrohung ist ebenso komplex wie abstrakt und erfordert von Einzelnen eine Vielzahl unterschiedlicher Maßnahmen – vom Umstieg aufs Elektroauto bis zum Verzicht auf Flugreisen.

Loading...
Loading...

Diese Gesellschaft ist unglaublich gut darin, konkrete lineare Probleme zu lösen. Komplexe kollektive Herausforderungen überfordern uns dagegen schnell. Das zeigt die Klimakrise deutlich. Eine moderne Gesellschaft ist kaum in der Lage, wie aus einem Guss zu handeln. An der wissenschaftlich eindeutig begründeten Notwendigkeit, den CO2-Ausstoß zu verringern, gibt es keine ernsthaften Zweifel. Aber diese Forderung lässt sich nicht unmittelbar umsetzen. Daran hängen komplexe Handlungsfolgen der Energieversorgung, der dafür notwendigen Produkte, nicht zuletzt der Bereitschaft zur Verhaltensänderung, der Folgen für Preisentwicklungen und so fort. Das ist gerade das Besondere an diesem Typus von Gesellschaft: Eingriffe an der einen Stelle haben oft ungeplante Folgen an einer anderen – obwohl das allgemeine Ziel nicht schwer zu verstehen ist. Trotzdem kriegen wir es nicht konsequent und schon gar nicht schnell genug hin. Vielleicht ist eine Beschleunigung von Genehmigungsverfahren manchmal wichtiger als die Beschleunigung von Einstellungsänderungen.

Dabei sind die Folgen der Klimakrise auch hierzulande schon deutlich spürbar.

Ja, aber trotz der Drastik bleiben die Reaktionen darauf gelassen. Das liegt eben auch daran, dass die Dinge nicht an einem Stück gelöst werden können.

Das müssen Sie erklären.

Man muss die Lösungen auf konkrete Akteure herunterbrechen: Ein Unternehmen wird natürlich nach den wirtschaftlichen Konsequenzen oder auch Chancen fragen, die sich aus notwendigen Umstellungen ergeben. Ein Privathaushalt fragt nach entsprechenden Investitionen in Heizung oder Mobilität. Für Politiker stellt sich die Frage der Wählbarkeit mit diesem Thema. Aus rechtlicher Perspektive geht es um die Veränderung von Genehmigungsverfahren und so weiter. Die Klimakrise ist die wohl größte Herausforderung an ein System, das einerseits stark vernetzt ist, in dem andererseits aber immer nur an bestimmten Orten gehandelt werden kann.

Der Beginn der Corona-Pandemie hat doch aber bewiesen, dass die gesamte Gesellschaft durchaus an einem Strang ziehen kann.

Stimmt, aber der erste Corona-Lockdown im März 2020 war nur deshalb möglich, weil eine große, unmittelbare, existenzielle Angst vor dem unbekannten Virus herrschte. Damals geschah etwas, was für moderne Gesellschaften zumindest im liberalen Teil der Welt eigentlich völlig undenkbar ist: Der Staat konnte vollständig durchregieren. Das war eine pathologische Ausnahmesituation, wie es sie selten gibt. Die Klimakrise ist anders, weil sie bislang nicht diesen einen Schockmoment ausgelöst hat.

Vor allem vermengt sich die Klimakrise in der öffentlichen Wahrnehmung mit den anderen Sünden, die die Menschheit an der Natur begeht: Artensterben, Plastikmüll in den Ozeanen, Rodung der Urwälder …

Erinnern Sie sich, als in den Achtzigerjahren prophezeit worden ist, dass es angesichts des sauren Regens im Jahr 2000 keine Wälder mehr geben werde? Das Problem ist, wenn überhaupt, eher evolutionär als disruptiv gelöst worden. Außerdem darf man nicht vergessen, wie sehr sich die öffentliche Kommunikation gerade bei einer solchen chronischen Krise an Katastrophenmeldungen gewöhnt hat, weil Worst-Case-Szenarien selten eingetreten sind. Das hört sich zynisch an, beschreibt aber die Lage.

Viele Menschen leben einfach weiter wie bisher: Sie buchen Langstreckenflüge, fahren in verbrauchsstarken Autos, essen täglich Fleisch …

Psychologen würden von einer Form der Verleugnung sprechen, Soziologen von einer Spielart der ritualisierten Gewohnheit. Ich weise immer wieder darauf hin, wie sehr Verhalten und Prozesse viel stärker von Gewohnheit, Wiederholung und Bestätigung bewährter Routinen abhängig sind, als es unser Selbstbild suggeriert. Das gilt übrigens auch für Überzeugungen und politische Routinen.

Klingt deprimierend.

Nein, ist es gar nicht. Die Trägheit sozialer Systeme ist nicht nur ein Bremser, sondern auch ein Überlebensmechanismus. Das macht es aber eben auch schwer, bewährte Praktiken zu verändern, die sich bisher bewährt haben. Bewährt heißt nicht, dass sie gut sind, sondern dass sie gut in den Alltag passen. Das gilt für Unternehmen, Parteien, Verfahren und Konflikte ebenso wie für Individuen. Das weiß jeder sehr gut, der mit dem Rauchen aufhören oder mehr Sport treiben will.

Haben Sie eine Lösung für das Problem?

Nein, keine Lösung, die klar sagen könnte, was zu tun ist. Die Herausforderung ist wahrscheinlich, dass man lernen muss, dass Lösungen praktisch funktionieren müssen. Man wird Effekte im Klimaschutz nur erreichen, wenn das in den Alltag der Menschen passt, der sich dann mit diesen Lösungen mit verändert. Um aus den Trägheiten herauszukommen, muss man womöglich Akteure zusammenbringen, die das üblicherweise nicht tun. Etwa politische und ökonomische Akteure mit Leuten, die sich mit dem Design von technischen und sozialen Lösungen beschäftigen, konkrete Umweltschutzlösungen, die für Unternehmen nicht abstrakt, sondern konkret relevant werden. Vielleicht hilft auch, zu wissen, dass sich Einstellungen selten durch freundliche Ansprache, sondern öfter durch bewährte Praxis verändern. Ich habe es am Anfang des Gesprächs schon gesagt: Das beste Medium ist das Gelingen.

Braucht es also neue Formen der Bürgerbeteiligung?

Ich bin skeptisch, zu glauben, dass mehr Partizipation automatisch bessere Ergebnisse erzielt – es kann auch Enttäuschung erzeugen. Deshalb müssen auch Formen der Partizipation gut designt und gestaltet werden. Es müssen vor allem Themen sein, bei denen die Beteiligung dann auch Wirkungen erzielt. Das beste Ergebnis wäre wohl, wenn die Beteiligten dabei lernen, wie schwierig es ist, Entscheidungen zu fällen und dass die beste Idee nicht einfach so umgesetzt werden kann.

In Anlehnung an Sigmund Freud heißt ihr jüngstes Buch "Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft". Freud sah die Menschen durch die Zwänge der Kultur überfordert. Überfordert uns heute die moderne Gesellschaft?

Die moderne Gesellschaft kann den Menschen ein grundlegendes Bedürfnis nicht mehr bieten: die Sicherheit, dass man sich auf Bewährtes verlassen kann und dass Lösungen tatsächlich passen. Die vielen Krisen der Gegenwart führen uns das eindrücklich vor Augen. Diese führen eine geradezu permanente Überforderung vor, die nicht neu ist, derzeit aber womöglich besonders sichtbar wird.

Werden wir die vielen gegenwärtigen Krisen denn irgendwann bewältigen können? Das wäre immerhin eine positive Veränderung.

Wenn wir kollektive Krisen nur in solchen Ausnahmesituationen wie der Corona-Pandemie lösen können, wird es nicht gelingen. Wahrscheinlich muss besonders an den Problemlösungstools gearbeitet werden.

Professor Nassehi, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Armin Nassehi via Videokonferenz
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel



TelekomCo2 Neutrale Website