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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Grüne und FDP sondieren Sie müssen jetzt tierisch aufpassen
Grüne und FDP entscheiden über die nächste Regierung. Sie stehen dabei unter Druck
Es ist sechs Minuten nach halb 12 Uhr in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch, als auf der Fotoplattform Instagram ein schon jetzt legendäres Selfie auftaucht. Zu sehen sind Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner und Volker Wissing. Im Hintergrund viel weiße Wand, im Vordergrund freundliche Gesichter, alle sehen etwas müde aus.
Das Foto ist der erste Hinweis darauf, dass sie es diesmal ernst meinen könnten mit den Verhandlungen über eine Regierung. Denn eigentlich waren Beobachter in Berlin davon ausgegangen, dass sich die Spitzen von Grünen und FDP an diesem Mittwoch erstmals treffen wollten.
Dass vorher nichts vom abendlichen Stelldichein an die Öffentlichkeit gedrungen ist, könnte man als gutes Zeichen werten. "Auf der Suche nach einer neuen Regierung loten wir Gemeinsamkeiten und Brücken über Trennendes aus. Und finden sogar welche", schreiben alle vier wortgleich unter das Bild. "Spannende Zeiten."
Außer "Gemeinsamkeiten und Brücken über Trennendes" suchen die vier noch etwas, das bei den gescheiterten Jamaika-Verhandlungen im Jahr 2017 verloren gegangen war: Vertrauen.
Denn ohne Vertrauen dürfte es nichts werden mit dem Regieren. Und mitzuregieren ist für beide diesmal enorm wichtig: für die Grünen, weil sie so wenigstens ihr Minimalziel erreichen könnten. Und für die FDP, weil ihre Unterstützer der Partei wohl nicht noch mal verzeihen, sich einen Platz im Kabinett entgehen zu lassen.
"Besser nicht regieren, als falsch regieren"
Beim letzten Mal scheiterte genau der Versuch zu regieren spektakulär: FDP-Chef Christian Lindner ließ die Jamaika-Verhandlungen 2017 mit dem berühmten Satz, es sei "besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren" platzen. FDP und Grüne wiesen sich gegenseitig die Schuld zu.
In diesen Tagen wird bei FDP und Grünen diskutiert, was damals falsch gelaufen sei, damit sich Fehler nicht wiederholen. Etwa, dass Beteiligte permanent Wasserstände an die Presse durchstochen. Vertrauen zueinander entstand so nicht gerade. Auch deshalb ist es für die Verhandler eine gute Nachricht, dass erst das Selfie von Dienstagnacht das gemeinsame Treffen enthüllte.
Andere arbeiten schon länger daran, das zerrüttete Verhältnis zu kitten: Der Grünen-Politiker Konstantin von Notz organisierte mit seinem FDP-Kollegen Stephan Thomae regelmäßige Treffen in einer Bar in Berlin-Schöneberg. Dort wurde, so heißt es, das Verhältnis "professionalisiert".
Ist das die Basis, auf der die Parteispitzen jetzt aufbauen können?
Treffen in kleiner Runde
In einer Schöneberger Bar haben sich die vier diesmal nicht zusammengesetzt. Doch das Prinzip ist ähnlich: Eine möglichst kleine Runde, damit wenig an die Öffentlichkeit dringt.
Aus der Parteizentrale der Grünen ist am Morgen nach dem Selfie lediglich zu erfahren, dass es ein "längeres, vertrauliches Gespräch an einem neutralen Ort" gewesen sei. Am heutigen Mittwoch werde es erst mal "keine Fortsetzung" geben.
Schon vorher war aus beiden Parteien zu erfahren, dass es vorerst um ein grundsätzliches Annähern gehen sollte zwischen dem Grünen-Führungsduo Baerbock und Habeck sowie FDP-Chef Lindner und Generalsekretär Wissing.
Denn ohne Vertrauen geht wenig. Das ist in der Politik nicht anders als im Privatleben. Es ist oft die Basis dafür, auch inhaltliche Differenzen zu überwinden. Manchmal ist es sogar wichtiger als die Inhalte.
Dessen sind sich die Beteiligten durchaus bewusst. Lindner hatte angekündigt, man wolle vor den Gesprächen nicht zu viel sagen, "um das Klima des Vertrauens, das erarbeitet werden muss, nicht zu gefährden". Habeck betonte, man schaue, dass man "eine Brücke" finde. Damit hat er in Schleswig-Holstein als Minister in einer Jamaika-Regierung schon Erfahrungen gemacht.
Diese Brücke dürfte dabei auch inhaltlicher Art sein: Es wird zwar nicht erwartet, dass es gleich zu Beginn konkrete Deals gibt, von denen einige Beobachter schon wissen wollen: Tempo 130 auf Autobahnen gegen eine Absage an Steuererhöhungen etwa. Stattdessen sollen wohl zunächst die großen Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden, etwa bei Digitalisierung, Bildung und Bürgerrechten.
Grüner Wille zum Gemeinsamen – und ein neues Feuer
Bei den Grünen sind sie entschlossen, die Verhandlungen diesmal zu einem guten Ende zu führen. "Der wichtigste Grundsatz ist: Wir müssen mit dem Ziel des Erfolgs verhandeln", sagte Cem Özdemir im Gespräch mit t-online. Özdemir weiß, wovon er spricht. Er führte 2017 die Jamaika-Verhandlungen für die Grünen an.
Am Dienstag mussten die Grünen aber zunächst mal wieder ein Feuer löschen, das sie selbst entfacht haben. Am Morgen nach der Wahl hatte Habeck auf die Frage, wer in einer Regierung Vizekanzler werde, gesagt, man sei "komplett sortiert". Später berichtete die "FAZ", Annalena Baerbock und er hätten sich verständigt, dass Habeck es machen solle.
Vor allem in der eigenen Partei kam das nicht gut an. Der frühere Umweltminister Jürgen Trittin wütete im "Spiegel": "Das entscheidet die Partei und nicht nur zwei Personen in persönlichen Gesprächen." In der "Neuen Osnabrücker Zeitung" nannte Grüne-Jugend-Chef Georg Kurz die Diskussion "absolut daneben".
Der Druck auf Habeck wurde so groß, dass er sich am Dienstag erneut erklären musste. Er wolle "noch mal klarstellen", dass Baerbock und er "in großer Gemeinsamkeit, in großer Geschlossenheit und großer Stärke" die Koalitionsgespräche führen und vorbereiten würden. Und versicherte: "Selbstverständlich" werde die Partei am Ende über Inhalte und Personal entscheiden.
Interne Querelen, so viel ist klar, können die Grünen jetzt gar nicht gebrauchen.
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Der Druck, sich zu einigen, ist gewaltig
In der FDP drückt man aufs Tempo: Der Parlamentarische Geschäftsführer Marco Buschmann sagte am Dienstag, die Union müsse sich bald entscheiden, ob sie für eine Jamaika-Koalition zur Verfügung stehe. Das ist nicht ganz unwichtig für die Liberalen: Denn wenn die Union als mögliche Machtoption wegbräche, ließe sich der Preis bei einer Ampelkoalition nicht so leicht in die Höhe treiben.
Es ist deshalb kein Zufall, dass ausgerechnet Volker Wissing neben Lindner bei den ersten Verhandlungen sitzt: Wissing gilt als kluger Machttaktiker. Und er hat in Rheinland-Pfalz eine Ampel ausgehandelt. Doch Wissing weiß auch: Bei der vergangenen Wahl schaffte die FDP nur sehr knapp den Wiedereinzug in den Mainzer Landtag. Mitregieren um jeden Preis ist also auch nicht die Lösung.
Und trotzdem ist der Druck, sich zu einigen, für Grüne und FDP gewaltig. Denn sie gelten zwar allenthalben als Königsmacher. Doch in Wahrheit könnte es im Zweifel auch einen König ohne sie geben.
Denn da wäre ja noch eine weitere Regierungsoption, die schon am Wahlabend in der SPD nicht ausgeschlossen wurde: die Neuauflage der Großen Koalition. Diesmal unter SPD-Führung. Baerbock und Habeck, Lindner und Wissing wären gescheitert.
Und Olaf Scholz könnte trotzdem König sein.
- Eigene Recherchen und Beobachtungen