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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Olaf Scholz Ist das denn möglich?
Olaf Scholz und die SPD sehen sich im Aufwind. Und in der Tat standen die Chancen aufs Kanzleramt schon mal schlechter. Doch ein Grundproblem der Sozialdemokraten lässt sich nicht lösen.
Olaf Scholz ist in Schwerin in einem Boxclub zu Gast, und damit stünde ihm jetzt eigentlich die gesamte Welt der politischen Sport-Metaphern offen.
Scholz könnte sagen, in den nächsten Wochen komme es im Wahlkampf darauf an, den politischen Gegner zu attackieren und auch mal einen harten Treffer zu landen, gewissermaßen die Samthandschuhe auszuziehen. Er könnte sagen, dass es beim Boxen wie in der Politik nicht unbedingt darum gehe, die frühen Schläge ins Ziel zu bringen, sondern am Ende den Schlag zum K.o. zu setzen.
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Doch Olaf Scholz, Kanzlerkandidat der SPD, sagt stattdessen: "Boxen ist ein toller Sport, der die ganze Ausdauer fordert und für den man viel trainieren muss. Darum geht es auch, wenn man Deutschland regieren will."
Nun ja, Knockout geht anders.
Es sind keine sonderlich kämpferischen Sätze, die der Mann, der das Bewerberfeld ums Kanzleramt in den nächsten Wochen von hinten aufrollen will, da sagt. Besonders witzig sind sie auch nicht, eher ein bisschen dröge – oder freundlicher formuliert: grundsolide.
Und damit könnten die Sätze kaum besser zu Olaf Scholz passen und dem Bild, das er von sich in diesem Wahlkampf zeichnen will. Denn Scholz, so sieht zumindest er das, ist der Kandidat, der am meisten trainiert hat fürs Kanzleramt – in seinen vielen Jahren Bundespolitik. Und der Kandidat, der von sich glaubt, genügend Ausdauer zu haben für die Aufholjagd im Wahlkampf – und für die Kanzlerschaft.
Kanzlerschaft? Scholz? Ja, das ist durchaus noch möglich, trotz aller Abgesänge. Die Umfragen gehen in die richtige Richtung für die SPD. Und Riesensprünge braucht Scholz gar nicht unbedingt. Es kann aber auch trotz aller Anstrengungen des Kandidaten und seines Teams schiefgehen. Denn das strategische Problem der SPD liegt auch in diesem Wahlkampf tiefer.
Den Kopp wegziehen
In Schwerin, der Landeshauptstadt Mecklenburg-Vorpommerns, steht Olaf Scholz am Montag in der Trainingshalle des Boxclubs, der "Traktor" heißt. Im Club ist man stolz darauf, Kinder und Jugendliche weg von der Straße und rein in den Boxring zu holen. Es ist nicht nur Sport, sondern ein soziales Projekt, und damit ist der Besuch hier ein perfekter Wahlkampftermin für einen SPD-Kanzlerkandidaten.
Scholz stellt Fragen, die man eben so stellt als Politiker im Anzug inmitten von drahtigen Polyester-Trägern. Wann man denn idealerweise anfangen müsse mit dem Training? (Mit 6 Jahren, etwas zu spät für Scholz, 63.) Und worauf es besonders ankomme beim Boxen?
Ein Trainer, der seine besten Boxer an die Seite geholt hat, sagt: "Es geht nicht darum, den Leuten auf den Kopp zu hauen, sondern darum, den Kopp wegzuziehen, damit man nicht getroffen wird."
Und irgendwie passt das auch zu den vergangenen Wochen und Monaten des Olaf Scholz.
Endlich eine Chance
Der SPD ist sehr bewusst, dass sie bei dieser Wahl eine historische Chance hat. Erstmals seit 16 Jahren tritt Angela Merkel nicht mehr an. Sie war so populär, dass sich sozialdemokratische Kanzlerkandidaten in vergangenen Wahlkämpfen oft gescheut haben, sie richtig anzugreifen. Könnte ja schlecht ankommen beim Wähler.
Jetzt aber ist sie weg. Entsprechend gut vorbereitet ging die SPD in diesen Wahlkampf. Sie einigte sich schon Ende vergangenen Jahres geräuscharm auf einen Kandidaten, erarbeitete mit ihm zusammen das Wahlprogramm und muss sich seitdem für wenige wirkliche Fehler rechtfertigen. Scholz konnte bisher gewissermaßen immer den Kopf wegziehen, als es eng zu werden drohte.
Schon seit Monaten zieht Scholz durch Deutschland, anfangs wegen Corona nur auf dem Bildschirm, jetzt live und in Farbe. Er ist bislang der fleißigste Wahlkämpfer, trotz seines Vizekanzlerjobs. Eigentlich läuft gerade ziemlich viel ziemlich gut für die SPD – anders als bei Wahlkämpfen in der jüngeren Vergangenheit, oder den aktuellen der Konkurrenz.
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Was noch nicht gut genug läuft: Die Umfragen zeigen zwar, dass die Menschen Scholz persönlich die Kanzlerschaft zutrauen. Wirklich wählen wollen die SPD aber bislang noch zu wenige, damit es dazu auch kommen könnte.
Doch zuletzt, da ging es in den Umfragen ein, zwei, drei Prozentpunkte hoch für die SPD, über die bisher abonnierte 15-Prozent-Marke hinaus. Im ARD-"Deutschlandtrend" trennt sie diese Woche sogar nur noch ein Prozentpunkt von den Grünen. Das ist zwar noch immer der dritte Platz, aber es scheint machbar – vor allem, weil seit langer Zeit mal wieder Dynamik bei den Werten der SPD aufkommt.
"Das war jetzt ein Höhepunkt"
Die Hoffnung der Sozialdemokraten, die von ihren Funktionären gerade ständig wiederholt wird, lautet: Wenn der Wahltag näher rückt, werden sich die Menschen fragen, wer Angela Merkel im Kanzleramt nachfolgen soll. Und die Antwort auf diese Frage werde Olaf Scholz lauten. Der Erfahrene. Der Solide.
Also macht Scholz einfach immer weiter.
An einem sonnigen Freitagmittag ist er bei einem Landwirt mit einem großen Bauernhof im südlichen Brandenburg zu Besuch, 30 Autominuten von Potsdam entfernt. Später wird Scholz noch auf den Mähdrescher klettern und selbst eine Bahn Roggen ernten. "Das war jetzt ein Höhepunkt", wird er dann auf dem Acker sagen und in der Sonne spitzbübisch lächeln. Auch Kanzlerkandidaten haben Kleine-Jungen-Träume.
Doch vorher wird es ernst. Die Landwirte klagen Scholz im Gespräch ihr Leid. Die meisten hätten schon jetzt keine Rücklagen mehr, die Energiepreise galoppierten, und statt Entlastungen kämen nur immer mehr Bürokratie und immer neue Umweltvorschriften dazu. Es ist die bekannte Klage gegen den grünen Umbau der Landwirtschaft.
Den Sozialdemokraten Scholz trifft die Klage auch ein bisschen, immerhin regiert seine SPD in Brandenburg, aber der eigentliche Gegner der konventionellen Landwirtschaft sind die Grünen. Alles gut also für Scholz bei den Bauern? Nicht wirklich. Denn die Landwirte haben auch ein Problem damit, wenn der Mindestlohn steigt. Bei 12 Euro für die Saisonkräfte bekämen sie große Bauchschmerzen. Dann werde es schwer, das Gemüse für den Berliner Markt zu produzieren.
Scholz hört sich das an, geduldig und ohne sichtbare Regung. Dann fragt er: "Welchen Anteil macht der Spargel bei Ihnen aus?" Der Mindestlohn ist eines seiner zentralen Wahlkampfversprechen. Da kommt er mit den Bauern nicht zusammen. Also wechselt Scholz das Thema.
Bewahren oder umstürzen?
Die Landwirte sind höflich, sie lassen sich nichts anmerken. Aber ob sie ihn wählen? Scholz? Den Mann mit dem Mindestlohn? Wohl eher nicht. Man könnte die Szene auf dem Brandenburger Acker als Episode abtun. Doch das würde ihr nicht gerecht. Denn sie verweist auf das Grundproblem der SPD in diesem Wahlkampf.
Nach der Ära Merkel geht es bei der Wahl nun tatsächlich um die Richtungsentscheidung, die jetzt von allen betont wird. Und sie lautet: Sollen wir so weitermachen wie bisher, mit ein paar Reförmchen vielleicht, aber eigentlich war es doch so schlecht nicht? Oder sollen wir grundlegende Veränderungen anstoßen, weil es so nicht weitergeht?
Sollen wir also den Status quo bewahren? Oder etwas Neues wagen? Es ist der Grundkonflikt aller Politik. Und genau das stellt die SPD jetzt vor Probleme. Denn die Sozialdemokraten stehen nicht für das Bewahren, aber auch nicht wirklich für das Neue.
Die Bauern einfach Bauern sein zu lassen, weil es doch früher auch funktioniert hat, also das Alte zu bewahren und den Wandel zu bremsen: Das verkörpert die CDU, immer schon. Es ist ihr Alleinstellungsmerkmal, ihr Daseinszweck.
Und für das Neue, den grundlegenden Wandel, dafür sind in diesem Wahlkampf die Grünen zuständig. Viel eher als die SPD, die in den vergangenen Jahren fast immer überall dabei war und mitregiert hat. Scholz persönlich sogar.
Die SPD steht bei dieser Richtungsentscheidung irgendwo dazwischen. Und könnte genau an diesem strategischen Dilemma scheitern.
Das lässt sich auch an der zentralen Zukunftsfrage dieses Wahlkampfs erahnen: dem Klimaschutz. 46 Prozent der Deutschen geben im ZDF-"Politbarometer" an, dass die Grünen eine Klimapolitik in ihrem Sinne machen. Die zweitgrößte Gruppe, nämlich 17 Prozent, findet die eher gemächliche Klimapolitik der Union besser.
Und die SPD? Spielt mit vier Prozent fast keine Rolle.
Einfach "berauschend"
Das alles heißt natürlich nicht, dass die SPD nicht noch stärker werden könnte. Sie braucht ja gar nicht mal viele Prozente, nur ein paar mehr als die Grünen. Dann hätte Scholz wohl die Chance, eine Ampelregierung mit Grünen und FDP anzuführen. Sofern Grüne und FDP da mitmachen, was nicht ausgemacht ist. Aber natürlich möglich.
Die SPD und Scholz jedenfalls versuchen, das Beste aus der Situation zu machen – und setzen auf ihren einzigen Vorteil: die guten Umfragewerte für die Person Olaf Scholz. Seine zentrale Botschaft lässt sich in ihrer Essenz dann auch in drei Wörter mit nur neun Buchstaben zusammenfassen: Ich kann es.
Ein Persönlichkeitswahlkampf mit Olaf Scholz als Hauptfigur also? Dem Olaf Scholz, der wegen seines oft spröden Charismas auch Scholzomat genannt wird?
An einem Freitagabend steht Olaf Scholz vor dem Brandenburger Tor auf der Bühne, nicht vor dem großen in Berlin, sondern vor dem kleineren in Potsdam, in seinem Wahlkreis. Er hat zum Bürgergespräch geladen, eine Art von Veranstaltung, die Scholz gerade zu Dutzenden macht. Erst redet er ein bisschen, dann dürfen die Zuhörer Fragen stellen.
Ziemlich am Ende, es ist schon mehr als eine Dreiviertelstunde vergangen, ohne dass sich im Publikum sichtbar Langeweile breit gemacht hätte, meldet sich eine ältere Dame. Sie hat keine Frage, sie will nur unbedingt etwas loswerden.
Es ist noch nicht so lange her, erzählt sie, da habe sie mit Scholz Wand an Wand gewohnt, sie waren Nachbarn. Sie habe sich da immer so sicher gefühlt, sagt sie. Sie wünsche sich sehr, dass Scholz Kanzler werde. Ihre Stimme und die ihres Mannes habe er jedenfalls. Denn sein Stil, also der von Scholz, der sei einfach "berauschend".
Scholz braucht einen Moment, einen berauschenden Stil hat ihm vermutlich noch nie jemand vorgeworfen. "Sie haben mich jetzt sehr verlegen gemacht", sagt er und lächelt.
Und berauschend ist in der Tat ein starkes Wort für einen Auftritt von Olaf Scholz. Aber schlecht ist Scholz wirklich nicht auf der Bühne, lebhafter und zugänglicher als in der "Tagesschau" in jedem Fall. Kämpferischer als im Boxclub auch.
Und so richtig berauschend muss er ja gar nicht sein. Für ihn würde es schon reichen, wenn genügend Menschen ihm glauben, dass er der beste Kanzler wäre. Und dann auch die SPD wählen.
- Begleitung von Olaf Scholz am 30. Juli in Brandenburg und am 2. August in Mecklenburg-Vorpommern
- Eigene Recherchen und Gespräche
- ZDF-"Politbarometer" vom 30. Juli