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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Jens Spahn im Interview über SPD-Ideen "Ich weiß nicht, woher diese Defizitfokussierung kommt"
Die SPD hadert mit dem Ergebnis der Sondierungsgespräche. Völlig grundlos, sagt CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn im t-online.de-Interview. "Der eigene Erfolg sollte sich nicht daran bemessen, wie sehr der andere leidet."
Ein Interview von Jonas Schaible und Florian Harms
Herr Spahn, Hand aufs Herz, wie finden Sie das Ergebnis der Sondierungsgespräche zwischen Union und SPD?
Es ist kein furioses Feuerwerk, aber eine solide Basis. Angesichts der Ausgangslage ist das Ergebnis besser, als ich erwartet hatte.
Klingt nicht begeistert. Was stört Sie?
Es ist kein Kompromiss dabei, den ich nicht vertreten könnte. Das fiel bei der letzten großen Koalition deutlich schwerer.
Mit diesem Urteil machen Sie es dem SPD-Parteitag am Sonntag nicht leichter. Wenn das Ergebnis diesmal angenehmer für Jens Spahn ist, dürften die Sozialdemokraten skeptisch werden.
Das ist Quatsch! Der eigene Erfolg sollte sich doch nicht daran bemessen, wie sehr der andere leidet. Einige in der SPD scheinen Erfolg aber genau daran zu messen: "Wie sehr haben wir der Union einen reingedrückt?" Das ist Selbstverzwergung. In dem Sondierungsergebnis finden sich alle Partner gut wieder.
Wer mehr: Union oder SPD?
Beide ausreichend. Noch mal: Es geht nicht darum, den anderen möglichst doll zu piesacken. Sondern darum, Kompromisse zu schließen, damit Deutschland in vier Jahren besser dasteht. Das Problem der SPD ist ein anderes: Sie hat in den vergangenen vier Jahren echt viel durchgesetzt. Aber anstatt darüber zu reden, verbeißt sie sich in das, was aus ihrer Sicht fehlt. Das droht jetzt wieder. Ich weiß nicht, woher diese permanente Defizitfokussierung kommt.
Während die SPD sich zankt, ob sie genug eigene Projekte durchgesetzt hat, hat man den Eindruck: Die CDU hat sich vor allem dafür eingesetzt, Vorhaben der SPD zu verhindern, etwa Steuererhöhungen und die Bürgerversicherung.
Unsinn muss man halt verhindern. Wichtiger ist aber, was kommt: Das Kindergeld wird um 25 Euro erhöht, das war unser Wahlkampfversprechen. Wir wollen 15.000 neue Stellen bei der Polizei schaffen. Wir wollen forschende Unternehmen fördern. Und trotzdem machen wir weitere vier Jahre keine neuen Schulden. Alles Punkte der Union. Das ist eine ziemlich große Sache.
Ist das in Zeiten der Schuldenbremse nicht längst selbstverständlich? FDP und Grüne waren sich da auch einig.
Nein, das ist nicht selbstverständlich. Deutschland hat 45 lange Jahre Schulden gemacht. Und seit vier Jahren keine mehr, das soll so bleiben.
Es gibt aber kein wirklich großes Projekt, mit dem man diese Koalition identifizieren könnte.
Doch, das finde ich schon.
Erzählen Sie mal.
Investitionen in die Zukunft waren allen ein Anliegen. Wir wollen die Digitalisierung vorantreiben und mehr Geld für Schulen ausgeben. Wir planen einen Digitalpakt Schule. Wir wollen das Planungsrecht ändern, um Verkehrsprojekte zu beschleunigen. Wir wollen die berufliche Bildung stärken, handwerkliche Ausbildungen fördern und weg von der Abi-Fixierung. Wir wollen Menschen entlasten – der Soli wird für alle unter 60.000 Euro (Ehepaare 120.000 Euro) Einkommen abgeschafft. Und vor allem reduzieren wir für Arbeitnehmer die Sozialbeiträge um fast 12 Milliarden. Wir wollen, dass jemand, der gearbeitet, gepflegt oder Kinder erzogen hat, mehr Grundsicherung bekommt als jemand, der nie in die Rentenkasse eingezahlt hat.
Das sind viele Stichpunkte. Nach einer Geschichte klingt das nicht.
Natürlich. Die letzten vier Jahre große Koalition waren sehr gegenwartsbezogen. Dem Land ging es richtig gut, da sollten alle etwas abbekommen: Mindestlohn, Rente mit 63, Mütterrente. Jetzt brauchen wir einen stärkeren Zukunftsbezug. Unter der Überschrift „Zukunftszuversicht“…
…„Zukunftszuversicht“?
Ja. Unter dieser Überschrift steht die nächste Regierung, so es die Sozialdemokraten wollen: Wir investieren ins dritte Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Es geht darum, wie wir unseren Wohlstand auch in Zukunft sichern. Und das macht man übrigens nicht, indem man ständig über Umverteilung redet. Daneben steht das zentrale Thema gesellschaftlicher Zusammenhalt. Alle drei Parteien – CDU, CSU, SPD – haben massiv Stimmen verloren. Jetzt geht es darum, Vertrauen zurückzugewinnen. Gerade bei Migration, Integration und innerer Sicherheit. Allerdings gibt es eine große Aufgabe der Koalition, die wir nicht durch einen Kompromiss lösen können.
Welche?
Wir dürfen nicht jeden Tag streiten, aber wir müssen gleichzeitig unser Profil schärfen. Alle drei Parteien. Zu viele Menschen haben das Gefühl: CDU, CSU und SPD unterscheiden sich gar nicht richtig.
Dann erklären Sie bitte mal: Was unterscheidet Union und SPD?
Die Unterschiede liegen oft nicht nur in konkreten Maßnahmen, sondern im Denken. Uns waren zum Beispiel die 25 Euro Kindergeld so wichtig, weil wir im Gegensatz zur SPD die Erziehung zuerst bei den Eltern sehen, nicht beim Staat.
25 Euro sind als Grundsatzargument nicht sehr eindrucksvoll. Anders gefragt: Sie sind der größte Hoffnungsträger der Konservativen in der CDU seit Friedrich Merz. Was unterscheidet Sie inhaltlich von Frau Merkel, die die CDU zum Teil sozialdemokratisiert hat?
Wir unterscheiden uns sicher im Temperament und im Politikstil. Wir gehören verschiedenen Generationen an und haben alleine schon dadurch unterschiedliche Schwerpunkte. Was uns aber immer eint, ist der Wille, die Union zum Erfolg zu führen.
Um Ihr Profil in einer künftigen großen Koalition einzubringen: Welches Ministerium würde Sie reizen?
Warten wir doch erst mal ab, ob und wie sich eine neue Regierung bildet.
Also gut, zurück zu den Inhalten. Was ist das eigentlich: konservativ?
Es heißt eines jedenfalls nicht: ‚Zurück in die Achtziger‘. Früher war überhaupt nicht alles besser. Vielmehr geht es um Werte, Tugenden, Prinzipien, die über Jahrhunderte und Gesellschaften hinweg Grundbedürfnisse der Menschen waren. Teilweise ganz banale Dinge: Leistungsbereitschaft. Fleiß. Anstand.
Das könnten sich Sozialdemokraten genauso auf die Fahnen schreiben.
Das glaube ich nicht. Nehmen Sie die Leitkultur-Debatte. Die Sozialdemokraten sagen, das Grundgesetz ist alles. Mir ist das zu wenig. Ich würde allein mit dem Grundgesetz keine Kinder erziehen.
Das sind doch zwei verschiedene Dinge: Wie man seine Kinder erzieht und was man als Grundkonsens für alle Menschen in einem Staat betrachtet.
Eben nicht. Es geht um die Frage: Gibt es Werte, die einer Gesellschaft wichtig sind – und welche sind das? Heiner Geißler hat mal schön gesagt: Für manche Linke gilt man schon als rechtsradikal, wenn man pünktlich zur Arbeit kommt.
Das mag schön klingen, ist aber einfach Unsinn.
Sagen wir, es ist überspitzt. Worauf ich hinaus will: Konservative glauben an Tugenden, die konstitutiv für gutes, gedeihliches Zusammenleben sind – und zwar über reine Rechtsfragen hinaus. Ich bin überzeugt, dass es ein Grundbedürfnis nach Verlässlichkeit und Verbindlichkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen gibt. Vor allem in der Familie, in der Ehe. Aber auch im erweiterten persönlichen Umfeld.
Dass die Familie wichtig ist, darauf können sich nun wirklich alle einigen. Stabile Beziehungen: Damit jagen Sie keinen Grünen und keinen Sozialdemokraten auf den Baum.
Doch, für manchen Linken, Grünen oder Liberalen ist es das Gleiche, ob sie eine WG mit drei Kumpels gründen oder eine dauerhafte, institutionell abgesicherte Beziehung eingehen. Deshalb wollen die zum Beispiel steuerrechtlich alle Formen des Zusammenlebens gleich behandeln.
Korrigieren Sie uns, aber unseres Wissens möchte niemand WGs steuerlich Eltern gleichstellen.
Ein anderes Beispiel: Das Gewaltmonopol des Staates. Das wird hohl, wenn die Bereitschaft fehlt, es wirklich durchzusetzen. Ich habe nicht den Eindruck, dass diese Bereitschaft überall gleich stark ausgeprägt wäre. Ich denke zum Beispiel an Berlin, wo Polizisten gegen Gruppen von aggressiven jungen Männern nicht so durchgreifen dürfen, wie sie müssten. Der Berliner Senat lässt sie im Regen stehen.
Das passiert aber nicht, weil die Politik dort sagt, sie halte das Gewaltmonopol für eine schlechte Idee. Da geht es um organisatorische oder strategische Fragen, nicht zuletzt um Geld.
Nein, da geht es um Prinzipien und Prioritäten.
Sie wollen sagen, der Berliner Senat glaubt nicht ans Gewaltmonopol?
Es geht nicht nur um Berlin. Was ist ein Gewaltmonopol wert, wenn Polizisten, Sanitäter oder Feuerwehrleute während Ihres Einsatzes tätlich angegriffen werden und sich im Zweifel noch rechtfertigen müssen, wenn sie sich wehren? Was ist ein Gewaltmonopol wert, wenn die Politik Polizisten zwingt, achselzuckend dem Drogenhandel im Görlitzer Park oder am Hauptbahnhof zuzuschauen? Da braucht es den politischen Willen zu einer härteren Gangart.
Und das wäre dann konservativ?
So würde man Recht und Ordnung durchsetzen. Das Label „konservativ“ ist mir egal, ich habe es mir nicht angeheftet. Ich möchte einfach, dass der Staat im Alltag Grundprinzipien auch durchsetzt und Sicherheit vermittelt.
Was gehört noch zu diesen Prinzipien? Sie haben Pünktlichkeit erwähnt. Ist es die Aufgabe von Politik, sich darum zu kümmern?
Man muss sicher nicht alles in Gesetze gießen. Ein Freund von mir ist eben Vater geworden, und die Kernfrage ist: Was will man so einem kleinen Wurm mitgeben? Dazu sollten Anstand, Respekt und sicher auch Pünktlichkeit gehören. Was mich aber ärgert: Wirklich fundamentale kulturelle Probleme werden in der Öffentlichkeit kaum diskutiert.
Welche meinen Sie?
Was an den Hauptbahnhöfen los ist zum Beispiel. Gewalt. Mein Eindruck ist, Messerstechereien haben ziemlich stark zugenommen. Vielleicht berichten Medien auch nur mehr, vielleicht ist das auch nur meine subjektive Wahrnehmung. Aber darüber müssen wir dringender reden als über die Frage, ob wir nun Studentenparlamente oder Studierendenparlamente sagen. Wie gesagt: Es geht um die richtigen Prioritäten.
Die Anzahl der polizeilich erfassten Fälle von Gewaltkriminalität in Deutschland hat zwar in den vergangenen vier Jahren zugenommen, ist aber deutlich geringer als noch vor zehn Jahren.
Es ist eine große Herausforderung, als Staat und Gesellschaft mit zigtausenden möglicherweise psychisch vorbelasteten jungen Männern mit hoher Gewaltbereitschaft umzugehen, denen alles andere egal zu sein scheint. Hier ist unser Rechtsstaat nicht immer konsequent genug und soll es nach Ansicht mancher Linker auch gar nicht sein. Da besetzen die fünf Jahre lang eine Schule in Friedrichshain und die Politik schaut zu. Und dann fragen die Menschen zu Recht: Wieso wird mein Parkticket penibel verfolgt, aber dort setzt sich der Staat nicht durch?
Dass der Staat die Gesetze nicht entschlossen durchsetze, ist doch seit Jahrzehnten ein ständiger Vorwurf in der Politik.
Aber der Umstand, dass einige Hunderttausend junge Männer nach Deutschland gekommen sind, dass viele davon mit Gewalt sozialisiert wurden, dass wir massive Integrationsprobleme haben, das ist ein neues Phänomen – auch weil der kulturelle Aspekt dazukommt.
Wir wollten ja eigentlich mit Ihnen herausfinden, was konservativ ist. Nun reden wir doch wieder über Flüchtlinge und Zuwanderung. Lässt sich Konservatismus oder das, was die Union im Kern ausmacht, nicht mehr bestimmen, ohne über Flüchtlinge zu reden?
Klar. Aber Migration betrifft nun mal alle Lebensbereiche, von der Schule über den Wohnungsmarkt bis zur staatlichen Ordnung. Und das Thema beschäftigt viele Deutsche. Unabhängig davon habe ich über Familie geredet, über Leitkultur, über Recht und Ordnung …
… und bei der Leitkultur über Flüchtlinge und bei Recht und Ordnung über Flüchtlinge. Und dann über Flüchtlinge.
Bei allem Respekt: Sie haben die Fragen gestellt. Wenn ich über Leitkultur spreche, geht es mir vor allem um Erziehung, Bildung, Familie. Nicht allein um Integration. Aber ich will es allgemein versuchen: Konservativ zu sein heißt, die Geschwindigkeit von Veränderungen so zu reduzieren, dass sie erträglich sind. Dass die Menschen mitkommen. Dass sie nicht alles Bewährte, ihren Alltag stets infrage gestellt sehen. Konservative Politik muss Erwartungssicherheit und kulturelle Sicherheit gewährleisten.
Herr Spahn, vielen Dank für das Gespräch.