Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gerüchte um neuen SPD-Vorsitz Jetzt muss Saskia Esken um ihren Job fürchten
Die SPD kommt nicht aus der Krise, bei einer Wahlniederlage am 23. Februar könnte es auch für die Parteispitze brenzlig werden. Als mögliche Nachfolgerin fällt dabei immer häufiger der Name von Saarlands Ministerpräsidentin Anke Rehlinger. Kann sie die SPD retten?
Im Stechschritt marschieren die Soldaten auf das Denkmal zu und legen Kränze vor die elf Meter hohe Stele. Ihre Stiefel klappern beim Aufprall auf das nasse Kopfsteinpflaster. Wie Pferde, die auf Asphalt laufen.
Die saarländische Regierungschefin und amtierende Bundesratspräsidentin Anke Rehlinger folgt den Männern andächtig bis zur ersten Stufe der Skulptur. Für ein paar Sekunden bleibt sie stehen, schaut auf die vom Regen bedeckten Bronzefiguren, dann verlässt sie gemeinsam mit ihrer Begleiterin, der polnischen Senatsmarschallin Małgorzata Kidawa-Błońskal, den Ort.
Die Kranzniederlegung am Warschauer Ghetto-Ehrenmal am Freitag vergangene Woche ist der Höhepunkt von Rehlingers Europareise. Die SPD-Politikerin hat das Bundesratspräsidentenamt, das vierthöchste Staatsamt in Deutschland, im November turnusgemäß übernommen. Ihre Antrittsreise führt sie zuerst nach Paris, dann nach Warschau.
Bewährungsprobe
Rehlingers dreitägiger Besuch bei Deutschlands wichtigsten Nachbarländern ist ihre bisher größte Bewährungsprobe auf internationalem Parkett. Die 48-Jährige will, so das offizielle Ziel der Reise, das Weimarer Dreieck beleben, ein loses Bündnis, das den drei Mitgliedsländern Deutschland, Frankreich und Polen mehr außenpolitisches Gewicht verleihen soll.
Ihre Gespräche mit französischen und polnischen Vertretern drehen sich um die heiklen Themen unserer Zeit: Handel, Energie und Europas Sicherheit sind gerade wichtiger denn je. US-Präsident Donald Trump droht mit Zöllen und setzt die EU-Länder auch sicherheitspolitisch unter Druck. Rehlinger sieht die Einigkeit Europas als entscheidenden Schlüssel, um Wohlstand und Sicherheit zu erhalten.
Doch die Meinungsverschiedenheiten, etwa zwischen Deutschland und Frankreich in der Handelspolitik, sind nicht leicht zu überwinden. Nicht immer funke man da auf derselben Frequenz, sagt Rehlinger beim Verlassen des französischen Senats.
Die Reise, die ihre Leute in der Saarländer Staatskanzlei und im Bundesrat die letzten fünf Wochen intensiv vorbereitet haben, hat für die Sozialdemokratin gleich mehrere Vorzüge: Sie kann ihr außenpolitisches Geschick beweisen und international Profil gewinnen. Zugleich aber kann sie sich für ein Amt ins Gespräch bringen, von dem immer mehr in der SPD sagen, sie wäre dafür die Richtige: den Parteivorsitz.
Neue Ausgangslage nach der Wahl
Rehlinger wird schon seit Längerem als mögliche neue SPD-Chefin gehandelt. In der Partei ist sie überaus beliebt, das Zeug dazu hätte sie, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Sollte die SPD die Wahl verlieren, worauf gerade alle Umfragen deuten, könnte in der obersten Parteiführung auch bald ein Plätzchen frei werden: Gerüchten zufolge könnte Rehlinger Saskia Esken ersetzen. Deren Stern sinkt in der SPD schon länger, vor allem auch, weil sie in den vergangenen Monaten keine glückliche Figur gemacht hat.
Ob das wirklich so kommt, weiß niemand mit Sicherheit. Die politische Lage ist volatil, Parteien haben manchmal eigentümliche Dynamiken. Aber mit der Neuwahl am 23. Februar und der Krise der SPD öffnet sich ein Möglichkeitsfenster. Ist Rehlinger bereit?
Diplomatische Tücken
In Warschau arbeitet Rehlinger stakkatoartig ihr Programm ab. Erst zum Grabmal des unbekannten Soldaten, dann zum Ghetto-Ehrenmal, wo der SPD-Kanzler Willy Brandt einst auf die Knie fiel und um Vergebung für die Nazi-Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs bat. Anschließend ins Museum der Geschichte der polnischen Juden (Polin), wo Rehlinger gleich den Willy-Brandt-Saal einweihen wird, zu Ehren des großen deutschen Sozialdemokraten.
Zu Beginn wird ein Brief des Präsidenten des Internationalen Auschwitz-Komitees, Marian Turski, verlesen, der, so lässt er ausrichten, aus gesundheitlichen Gründen nicht anwesend sein kann. Turski schreibt, es scheine "paradox", einen der wichtigsten Säle des jüdischen Museums nach einem Deutschen zu benennen. Doch in Wahrheit sei es "logisch und begründet", den Antifaschisten und Widerstandskämpfer Brandt für seine historische Geste zu würdigen.
Rechts über dem Podium, an dem Rehlinger gleich sprechen wird, haben die Polen einen Monitor an die Wand geklemmt, der Willy Brandts ikonischen Kniefall zeigt. Das schwarz-weiße Standbild bleibt während der gesamten Veranstaltung eingeblendet, eine Art virtuelles Mahnmal für alle Anwesenden. Die Polen, heißt es, legten Wert auf eine emotionale Ansprache, vor allem wenn es um die Verbrechen der deutschen Besatzung geht. Rehlinger weiß, die Rede ist wichtig.
"Unfassbare Zerstörungen"
An ihr hatte sie noch bis kurz vorher im Frühstückssaal eines Warschauer Hotels gefeilt, blätterte das Manuskript durch, machte Notizen, hielt Rücksprache mit ihren Leuten. Sie wirkte ernst, konzentriert, nicht, wie sonst bei anderen Gelegenheiten auf der Reise, zu Scherzen aufgelegt.
Diplomatisch lässt Rehlinger darin nichts anbrennen, es ist eine solide Rede. Vor rund 70 Gästen spricht sie, an die Polen gerichtet, von "unfassbaren Zerstörungen, die Deutsche über Ihr Land im Zweiten Weltkrieg gebracht haben", erinnert daran, dass kein Land der Welt so sehr unter dem antisemitischen Vernichtungswahn der Deutschen gelitten habe wie Polen. Erst Willy Brandt habe gezeigt, dass echte Versöhnung nur dann möglich sei, "wenn wir den Schmerz der Vergangenheit anerkennen".
Alleinregentin im Saarland
Die, die in der SPD mehr werden wollen, beziehen sich gerne auf Willy Brandt. Der sozialdemokratische Übervater ist identitärer Fixstern der Partei: Wer sich glaubhaft als Nachlassverwalter für sein politisches Erbe ins Spiel bringt, hat sich für Höheres qualifiziert. Rehlinger besteht in Warschau den Willy-Brandt-Test.
Die Saarländerin wird in der SPD schon länger für höhere Aufgaben gehandelt. Das hat vor allem damit zu tun, dass Rehlinger etwas gelungen ist, was in der SPD seit Kurt Beck keiner mehr geschafft hat: eine SPD-geführte Alleinregierung in einem deutschen Flächenland.
Bei der Landtagswahl im März 2022 holte Rehlinger als Spitzenkandidatin 57 Prozent der Stimmen und damit die absolute Mehrheit. Seitdem regiert sie als Ministerpräsidentin und Chefin eines rein sozialdemokratischen, siebenköpfigen Kabinetts. Zuvor diente sie als Ministerin in drei CDU-geführten Landesregierungen, ab 2012 als Justiz- und Umweltministerin (unter Annegret Kramp-Karrenbauer), später als Wirtschaftsministerin und stellvertretende Ministerpräsidentin (unter Kramp-Karrenbauer und Tobias Hans).
Rehlinger-Ultras in der SPD
Auch wenn ihr spektakulärer Wahlsieg dem positiven Bundestrend der SPD kurz nach der russischen Ukraine-Invasion zu verdanken war und die Saar-SPD in Umfragen mittlerweile hinter die CDU gefallen ist: Ihre Soloregierung im Saarland hat Rehlinger in der SPD einen Nimbus verschafft, der in die gesamte Partei ausstrahlt und auf Parteiveranstaltungen regelmäßig zu spüren ist.
Das war etwa auf dem Parteitag im Januar zu beobachten. Als die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, einleitend ein Grußwort an die SPD-Länderchefs richtete, dankte sie nicht etwa dem dienstältesten SPD-Ministerpräsidenten Stephan Weil oder dem letzten Wahlsieger, Dietmar Woidke in Brandenburg, sondern zuerst Anke Rehlinger, "einer Ministerpräsidentin einer sozialdemokratischen Alleinregierung".
Schwesig schnalzt die Worte "sozialdemokratische Alleinregierung" mit Schmackes durch das Mikro, als hätte Rehlinger ein Wunder vollbracht, was ja – angesichts der Dauerkrise der Partei – irgendwie auch stimmt. Im Saal brandet sofort Jubel auf, als der Name Rehlinger fällt, selbst die Parteioberen in der ersten Reihe schauen ein wenig perplex, aber gönnerhaft auf die gefeierte Parteikollegin, die sich winkend bedankt.
Die Szene zeigt aber noch etwas anderes: In dem allgemeinen Beifallssturm sticht eine Spitzengenossin heraus, die eher verhalten klatscht. SPD-Co-Chefin Saskia Esken, nur zwei Plätze neben Rehlinger, sitzt wie vereist auf ihrem Stuhl, lächelt gequält, den Blick gesenkt. Spürt sie die Konkurrentin schon im Nacken? Viel wichtiger: Kann sie sie noch aufhalten?
Der Fall von Saskia Esken
Die Gerüchte um Rehlingers möglichen Aufstieg sind eng verbunden mit dem Abstieg der aktuellen Parteivorsitzenden. Esken hatte in den vergangenen Monaten mehrere TV-Auftritte hingelegt, die SPD-intern als katastrophal bewertet wurden.
Im Brandenburg-Wahlkampf vergangenen September brachte die dortige SPD-Innenministerin Katrin Lange (SPD) sogar indirekt ein Talkshow-Verbot für Esken ins Spiel. Und Thomas Jung, der Oberbürgermeister der Stadt Fürth, nannte Eskens öffentliches Auftreten im Interview mit t-online "verstörend" und "schädlich für die Partei".
Aber auch bei SPD-internen Auftritten trifft sie auf immer weniger Gegenliebe. Abgeordnete berichten von Parteiterminen, bei denen reihenweise Leute aus dem Raum gehen, sobald Esken das Wort ergreift. Esken hatte sich seit ihrer überraschenden Wahl zur Parteivorsitzenden im Jahr 2019 ein Standing erarbeitet, das viele ihrer anfänglichen Skeptiker überrascht hat. Doch das war einmal. Mittlerweile hat Esken an Macht eingebüßt. Manche sehen sie nur noch als Platzhalterin.
Noch hat Esken mit Lars Klingbeil einen mächtigen Verbündeten, ihr Co-Chef hat sich nach ihren öffentlichen Ausrutschern bisher immer schützend vor sie gestellt. Der Kampf gegen parteiinterne Häme, die in der SPD eine gewisse Tradition hat, hat Klingbeil zu seinem persönlichen Projekt gemacht. Doch muss nicht auch er langsam an den nächsten Schritt denken? Und tut er das nicht längst?
Pessimistische und sehr pessimistische Szenarien
Die Neuwahl am 23. Februar könnte die Dinge beschleunigen. Die SPD steckt weiter im Umfrageloch, die Hoffnung auf eine Wende scheint immer illusorischer. Vor allem, wenn die Migrationspolitik das dominierende Thema im Wahlkampf bleibt, gibt es für die SPD kaum etwas zu gewinnen.
Die pessimistischen Szenarien, die derzeit in der SPD kursieren, rangieren von "alarmierend" (unter 20 Prozent) bis "katastrophal" (15 Prozent, wie jetzt in den Umfragen). Sollte Letzteres eintreten, würde das alle guten Absichten und Argumente gegen schädliche Personaldebatten über den Haufen werfen. Das Hauen und Stechen begänne wohl noch in der Wahlnacht.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Ein derart brutaler Absturz würde nicht nur die Sozialdemokratie aus dem Kanzleramt kegeln, sondern auch die Karriere von vielleicht 100 SPD-Abgeordneten beenden. Die Enttäuschung und der Zorn vieler Genossen würden sich dann vermutlich schnell gegen die Parteispitze richten. Denn es waren vor allem die Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken, die sich für den unbeliebten Kanzler Olaf Scholz als SPD-Kanzlerkandidaten öffentlich starkgemacht hatten, und nicht für den Umfragekönig Boris Pistorius.
Auch wenn niemand in der SPD-Spitze bei einem solchen Ergebnis sicher sein kann: Das erste Opfer solcher Personaldebatten wäre ziemlich sicher Saskia Esken. Eine Frau für eine Frau?
"Eine Dynamik kann immer entstehen"
Gegner eines schnellen Wechsels weisen darauf hin, dass eine SPD, die sich selbst zerfleischt und ihr Spitzenpersonal wegrasiert, geschwächt in mögliche Koalitionsverhandlungen gehen würde.
Andererseits: Eine Wahlniederlage im historischen Ausmaß – bisheriger Negativrekord bei einer Bundestagswahl sind Martin Schulz' 20,5 Prozent im Jahr 2017 gewesen – kann Kräfte in einer Partei freisetzen, die sich nicht wieder einfangen lassen.
"Eine Dynamik kann immer entstehen", sagt der frühere Bundesaußenminister Heiko Maas t-online zur aktuellen Debatte in der SPD. Dass die Rufe nach Rehlinger lauter werden bei den derzeitigen Umfragewerten, nennt Maas "naheliegend".
Sich offen für seine Parteifreundin von der Saar aussprechen, will Maas nicht. Wie auch sonst kaum jemand in der SPD Esken öffentlich in den Rücken fallen will.
Und Rehlinger selbst?
Öffentlich weist sie jegliche Ambitionen auf das Amt zurück. "Personaldebatten helfen in der aktuellen Lage niemandem", sagt sie t-online. Sie erwarte jetzt von ihrer Partei, bis zum 23. Februar zu kämpfen. "Bei einem guten Wahlergebnis erledigen sich auch alle möglichen Spekulationen."
Eine Absage ist das nicht. Im Gegenteil: Damit hält sie die Gerüchte um eine neue SPD-Chefin Anke Rehlinger am Köcheln. Klar ist aber auch: Rehlinger wird Esken nicht offen angreifen oder gar stürzen. Wenn, dann muss die Partei sie rufen.
Die Pragmatikerin
Rehlinger brächte für den SPD-Vorsitz einige Vorteile mit: Die Kugelstoßerin (sie hält noch immer den saarländischen Rekord) gilt als durchsetzungsstark, ist leutselig, hat Ausdauer. Nach einem Tag voller Termine sitzt sie abends an einem Tisch, bespaßt mehrere Stunden eine komplette Delegation, trinkt Panaché und geht als Letzte.
Sie wäre aber auch eine programmatische Entscheidung: Esken gehört zum linken Parteiflügel, Rehlinger ist Pragmatikerin durch und durch. Bei der Migration, in der Sozialpolitik sowie der inneren und äußeren Sicherheit könnte eine Klingbeil-Rehlinger-Doppelspitze neue Impulse setzen. Vor allem in der Verteidigungspolitik hätte Klingbeil mit der Saarländerin wohl eine Verbündete.
Ein kongeniales Powerduo könnte die von Kanzler Scholz verlangsamte Zeitenwende in der SPD wieder in Schwung bringen und gegenüber der eher links blinkenden Fraktion an Schlagkraft zulegen.
Doch da ist noch Wegstrecke für Rehlinger. Sie müsste mehr aus sich herauskommen, sich mehr trauen, sagen manche. Völlig falsch ist das nicht: Bei öffentlichen Auftritten ist sie zwar trittsicher, spricht aber sehr kontrolliert, manchmal schablonenhaft. Ihre eigenen Ideen und klare Haltung, die sie bei anderen Gelegenheiten zeigt, sind nach außen hin oft nur in Konturen erkennbar. Taktisch hat ihr das bisher nicht geschadet, im Gegenteil. Doch als Parteivorsitzende müsste sie den nächsten Schritt gehen.
"Das würde Willy Brandt gefallen"
In Warschau hat sie das am Ende doch noch getan. In der Schlusspassage ihrer Rede im Polin-Museum traut sie sich mit einer, wenn man so möchte, eigenen Brandt-Interpretation hervor. Rehlinger zieht den Kniefall Willy Brandts in die Gegenwart und sinniert blumig darüber, wie aus den "ausgestreckten Händen der Versöhnung" von Polen und Deutschen "europäische Hände der Tatkraft" werden könnten – gerade jetzt, da die Freiheit Europas bedroht sei wie nie zuvor.
Russlands Krieg, Donald Trump, Zeitenwende: Rehlinger spielt auf die großen politischen Schlagworte unserer Zeit an, ohne sie auszusprechen. Behutsam, taktisch, die Botschaft irgendwo zwischen den Zeilen. Die Methode Rehlinger. "Ja, das würde Willy Brandt gefallen", sagt sie über ihren eigenen Aufschlag. War das die Bewerbungsrede für den SPD-Vorsitz?
- Beobachtung in Paris, Warschau und Saarbrücken
- Gespräch mit Anke Rehlinger