Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Peer Steinbrück kritisiert Kanzlerkandidat "Eine völlig idiotische Bemerkung"
Der Wahlkampf geht in die Zielgerade, die Spitzenkandidaten stürzen sich ins Getümmel. Im t-online-Gespräch blickt der frühere SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück auf die Lage. Wie immer: pointiert und unverblümt.
Wie ist das als Kanzlerkandidat? Was nimmt man da auf sich? Hat Olaf Scholz überhaupt noch eine Chance auf den Wahlsieg oder ist er längst untendurch? Warum wird die AfD immer stärker und was läuft falsch im deutschen Staat? Was muss dringend reformiert werden? Peer Steinbrück war lange Zeit und in vielen Spitzenpositionen in der Politik und weiß also, wovon er spricht, wenn von Wahlkampf die Rede ist. Im t-online-Podcast mit Florian Harms und Christoph Schwennicke geht es dann auch sofort zur Sache.
t-online: Herr Steinbrück, Sie haben etwas, was in dieser Republik allenfalls zwei Dutzend Menschen haben: die Erfahrung als Kanzlerkandidat. Wie ist das Leben in diesem Tunnel in diesen letzten Wochen?
Peer Steinbrück: Sie müssen immer an sich glauben und Sie müssen auch glauben, dass Sie Wahlen gewinnen können, selbst wenn jede Wahrscheinlichkeit dagegenspricht. Aber das hat mit Psychologie zu tun. Wenn Sie von vornherein verzweifeln und das Rennen aufgeben, dann verlieren Sie noch zwei Prozent mehr als ohnehin.
Konnten Sie nachts ruhig schlafen oder schreckt man da hoch? Wie bleibt man
fokussiert, wenn alle auf einen einreden?
Ich hatte in meinem Leben immer den Vorteil, dass ich auch in den größten Stresszeiten gut schlafen konnte, bis auf den heutigen Tag, was sehr erholsam ist, denn in der Tat schlafen Sie in solchen Zeiten sehr wenig. Der eigentliche Punkt ist, dass Sie sich in Stresssituationen völlig falsch ernähren. Ich war diese belegten Brötchen irgendwann vollkommen satt. Ich konnte sie nicht mehr sehen. Und die schnelle Bratwurst ist auch nicht immer das Richtige. Sie müssen möglichst eine Umgebung um sich haben, die nicht nur reine Jasager sind, die nicht nur eine Adlatus-Rolle haben und versuchen, Sie immer zu bestätigen, sondern die ein gewisses Feingefühl dafür haben, auf der einen Seite Sie darauf aufmerksam zu machen, was man besser machen muss. Auf der anderen Seite Sie aber auch nicht, ja fast unwirklich emporzuheben, sodass Sie nachher den Eindruck haben, Sie sind auf Wolke sieben.
- Hier können Sie das Gespräch als Podcast anhören:
Embed
Welche Rolle spielt Alkohol? Gerhard Schröder hat damals ja im Wahlkampf auf Alkohol verzichtet. Ungewöhnlich für ihn.
Das ist ein sehr guter Rat, möglichst auf Alkohol zu verzichten oder sehr begrenzt – am Abend ein oder zwei Gläser Wein – zu trinken. Das ist ein Rat, den ich nur allen Wahlkämpfern geben kann.
Zwei Gläschen sind ja nun nicht allzu begrenzt.
Jedenfalls keinen harten Alkohol. Also mal ein Bier und zwei Gläser Wein sind okay, aber mehr macht sich sofort bemerkbar, insbesondere wenn Sie sich täglich volldröhnen.
Der aktuelle Kanzlerkandidat Ihrer Partei, Olaf Scholz, liegt gegenwärtig in den Umfragen zurück. Wie blicken Sie auf seine Ausgangslage vor dem Endspurt?
Die Wahrscheinlichkeit weist darauf hin, dass die SPD mit ihm an der Spitze erkennbar nicht die stärkste Partei wird. Aber Wahrscheinlichkeiten haben sich in manchen Wahlkämpfen auch schon gedreht. Das habe ich selbst sehr stark erlebt. 2005, als Gerhard Schröder eine irrsinnig erfolgreiche Aufholjagd machte und die CDU mit Frau Merkel dachte, sie könne ein Ergebnis oberhalb von 40 Prozent haben – aber dann war es am Wahltag nur ein Abstand von einem Prozent. Und man hat es noch mal 2021 gesehen, unter Beteiligung von Olaf Scholz. Das heißt, er steht sehr unter dem Eindruck des damals gewonnenen Rennens gegen alle Wahrscheinlichkeit und gegen viele Wahlprognosen.
Zur Person
Peer Steinbrück (* 1947) war von 2005 bis 2009 Bundesfinanzminister, zuvor Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen. Im Bundestagswahlkampf 2013 trat er als SPD-Kanzlerkandidat gegen Angela Merkel an. Der gebürtige Hamburger lebt mit seiner Frau in Bonn.
Na ja, das ist nun auch schon drei Jahre her, und Scholz' Ampelkoalition ist gescheitert.
Die Lage hat sich natürlich geändert. Er ist damals ein zuständiger, wichtiger Fachminister gewesen, aber heute ist er verantwortlich für die Gesamtpolitik. Und natürlich hat er drei Jahre hinter sich, in denen viele Menschen Erfahrungen oder Bewertungen über ihn vollzogen haben, die er heute in seinem Rucksack mit über die Hürden des Wahlkampfs schleppt. Das ist in meinen Augen eine sehr weitgehend veränderte Ausgangslage für diesen Wahlkampf im Vergleich zu 2021. Bei der SPD spüre ich deshalb so ein bisschen Hypnose: Die Hypnose, man könne einfach das Sommerwunder von 2021 wiederholen. Ich wäre da sehr viel vorsichtiger, um nicht zu sagen: skeptischer.
Hätte Boris Pistorius bessere Chancen gehabt, für die SPD das Kanzleramt zu verteidigen?
Das ist eine sehr theoretische Frage, weil ich mir nie vorstellen konnte, dass man einen amtierenden Bundeskanzler an die Seite stellen kann und ihm aus der eigenen Partei einen anderen Kanzlerkandidaten buchstäblich vor die Nase setzt. Der ja dann einen Wahlkampf führen muss, der auch mit einer gewissen Abgrenzung, mit einer gewissen Distanz zu dem verbunden ist, was man vorher jedenfalls nicht so glücklich bestanden hat.
"Die SPD hat ihre historische Mission verloren."
Peer Steinbrück
Sie haben sich seinerzeit mit 93,5 Prozent in geheimer Wahl auf einem Parteitag offiziell zum Kanzlerkandidaten wählen lassen. Olaf Scholz will an diesem Wochenende nur eine Abstimmung per Handzeichen. Ist das lediglich eine Stilfrage oder auch Furcht vor der Basis?
Schwer zu beurteilen. Ich halte immer viel von geheimen Wahlen, weil die ein ehrliches Stimmungsbild abgeben, wie man in der eigenen Partei gesehen wird. Was durchaus verbunden ist mit der positiven Erfahrung, dass diejenigen, die für einen nicht gestimmt haben, trotzdem Wahlkampf machen und versuchen, die eigene Partei und auch den Kandidaten, den sie nun nicht gewählt haben, zu tragen. Insofern wäre ich immer dafür, dass es zu einer geheimen Abstimmung kommt, weil das, wie ich glaube, eine größere Legitimation darstellt als nur eine Akklamation durch Handzeichen, wo die meisten sich sowieso nicht trauen, mögliche Reservehaltungen zurückzuhalten nach dem Motto: Das beschämt mich ja im Umkreis der anderen, die um mich herum sitzen.
Schauen wir noch mal auf Ihre eigene Erfahrung bei der Bundestagswahl 2013. Da haben Sie für die SPD 25,7 Prozent geholt und dennoch verloren. Heute, nur gut zehn Jahre später, wäre das für die SPD ein Sensationsergebnis. Was ist in der Zwischenzeit zwischen der SPD und den Wählern passiert?
Ich habe mit 25,7 Prozent verloren, Olaf Scholz hat 2021 mit 25,7 Prozent gewonnen. Der schillernde französische Staatsmann Talleyrand hat mal gesagt: "Hochverrat ist eine Frage des Datums." Er musste es wissen, weil er mindestens sechs oder sieben Mal die Fronten gewechselt hat. Sieg und Niederlage bei Wahlen sind auch eine Frage des Datums. Aber seitdem hat sich natürlich vieles verändert. Für die SPD gilt in meinen Augen: Sie hat – und das hört sich jetzt sehr pathetisch an – sie hat ihre historische Mission verloren.
Was meinen Sie damit?
Damit beziehe ich mich auf einen Essay von Ralf Dahrendorf von 1988. Die SPD scheiterte an ihrem Erfolg, sagte er. Das klang zunächst mal sehr merkwürdig, aber er versuchte, das darzustellen: Die SPD habe im 20. Jahrhundert erhebliche Erfolge gehabt, indem sie den Kapitalismus mit einer sozialen Marktwirtschaft zähmte, indem sie den Sozialstaat aufbaute, indem sie Aufstieg durch Bildung organisierte.
Und heute?
Jetzt weiß sie nicht mehr, was ihre historische Mission ist. Sie hat sich stattdessen sehr stark darauf verlegt, aus legitimen Interessen von Minderheiten parlamentarische Mehrheiten zu bilden, was nicht geklappt hat. Darüber hat sie im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen weitestgehend ihre Kernklientel verloren: eine klassische, gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerschaft. Sie hat nicht mehr – gerade als Programmpartei – versucht, herauszufinden: Was ist eigentlich die Botschaft, die wir im 21. Jahrhundert zu senden haben?
Was wäre das denn für eine Botschaft?
Das wäre weiterhin der Zusammenhalt der Gesellschaft gewesen. Das wäre Deutschland in und mit Europa gewesen. Und vor allen Dingen wäre es unter dem Druck von Technologiegiganten, von Internetplattformen, von künstlicher Intelligenz die Frage gewesen: Wie bewahre ich Freiheit unter diesem Druck technologischer Manipulationsmöglichkeiten?
Populisten nutzen die Plattformen der Digitalkonzerne sehr geschickt, etwa Donald Trump. Auch hierzulande sind mit der AfD und dem BSW zwei populistische Parteien im Aufwind. In den jüngsten Umfragen legt die AfD weiter zu und kommt auf mehr als 20 Prozent. Liegt das an den Social-Media-Plattformen?
Die sind natürlich Verstärker. Die verstärken die Tonlage. Und sie bieten einen Resonanzboden, auf dem sich dann andere tummeln und diese Verstärkung immer weiter fortsetzen. Aber mein Ausgangspunkt ist ein anderer: Die etablierte Politik unterliegt dem, was der Politikwissenschaftler Franz Neumann als "Beschreibungsangst" bezeichnet hat. Diese Beschreibungsangst ist davon geprägt, bestimmte Probleme, große Herausforderungen und Umbrüche möglicherweise dem breiten Wählerpublikum nicht so deutlich zu erklären und zu vermitteln, aus Angst, man würde sie in die falschen Arme treiben.
Das heißt konkret?
Nehmen wir Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Anforderungen an die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und Europas. Oder den demografischen Druck auf die sozialen Sicherungssysteme. Oder die Frage: Wie entwickelt sich das Wirtschaftsmodell Deutschlands vor dem Hintergrund massiver globaler ökonomischer Umbrüche? Was müssen wir tun, um mehr Arbeit zu aktivieren, und zwar vor dem Hintergrund, dass die Arbeitsproduktivität in Deutschland deutlich abnimmt? Wie steht es um Verteilungskonflikte knapper öffentlicher Mittel mit Blick auf große öffentliche Infrastrukturprojekte? Alle diese Probleme werden in meinen Augen nicht so klar beim Namen genannt, wie es notwendig wäre. Und daran ist auch keine erkennbare politische Lösungskompetenz geknüpft. Das hinterlässt ein Vakuum. Und in dieses Vakuum drängen Parteien mit teilweise irrlichternden, teilweise auch rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parolen, mit einfachen, aber falschen Antworten.
Es gibt ja viele, die sagen: Wenn wir die Probleme der Migration benennen, treiben wir die Wähler in die Arme der AfD. Diese These teilen Sie demnach nicht?
Nein, weil weite Teile des Publikums die Probleme ja fast täglich erfahren. Also kann ich an deren Bewusstsein, an deren Wahrnehmungen nicht vorbeiargumentieren. Mir wird zwar zu sehr die Problematik der Integration dargestellt und zu wenig die gelungene Integration, die es gibt. Das halte ich für einen massiven Fehler, denn ich erfahre täglich gelungene Integration: Egal, ob ich im Krankenhaus bin und es mit einem Anästhesieassistenten aus Syrien zu tun habe, oder in einem Lebensmittelladen: Überall habe ich es mit gelungener Integration zu tun. Aber das, was für viele Leute im Mittelpunkt steht, sind die misslungenen Beispiele der Integration. Die gegen das Bewusstsein weiter Teile der Bevölkerung zu verdrängen, ist natürlich ein massiver Fehler.
Ist das nur eine Frage der Benennung, also wie man darüber redet? Oder ist es auch eine konkrete Frage der besseren oder schlechteren politischen Lösungen?
Natürlich muss sich an die Beschreibung eine Lösung anschließen. Der Punkt ist nur, dass viele Lösungen nicht mehr einfach zu handhaben sind. Also ein Herr Merz, der sich gerade hingestellt und gesagt hat, allen Bürgerinnen und Bürgern mit Migrationshintergrund, die einen deutschen Pass haben, aber straffällig geworden sind, sollte der Pass weggenommen werden: Das ist natürlich eine völlig idiotische Bemerkung, weil das rechtlich gar nicht geht. Das ist übrigens der nächste Vorwurf an die Politik: ständig etwas in Aussicht zu stellen, was sich gar nicht umsetzen lässt.
Man muss mehr denn je darauf hinweisen, dass es für komplexe Probleme keine einfachen Lösungen gibt, aber man natürlich trotzdem an Lösungen arbeiten muss. Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt, der meiner Ansicht nach maßgeblich ist für den Zulauf zum BSW und zur AfD: Viele Menschen haben den Eindruck, dass die staatliche Handlungs- und Funktionsfähigkeit nicht mehr gegeben ist oder – ich will es vorsichtiger formulieren – eingeschränkt ist.
Die Folgen der Versäumnisse, die Sie beschreiben, sehen wir in Nachbarländern wie beispielsweise Österreich. Dort steht der Rechtsextremist Herbert Kickl vor der Wahl zum Bundeskanzler. Ist das ein Warnsignal für Deutschland, können wir davon etwas ableiten?
Ja, weil uns Österreich schon sprachlich näher ist. Aber wir haben dasselbe ja auch in der Slowakei. Wir haben es in Ungarn, wir haben es in der Tendenz auch in den Niederlanden, wir haben es in Italien und mit größten Bedenken guckt man auch auf gewisse Lähmungserscheinungen in Frankreich. Das heißt, wir haben es inzwischen in Europa mit Entwicklungen zu tun, bei denen mich die Frage umtreibt, ob Europa vor dem Hintergrund weltweiter globale Herausforderungen eigentlich noch so gewappnet ist, um sich zu behaupten und grenzüberschreitend und in einer weiteren europäischen Integration die Probleme zu lösen.
Bei der Frage, wie man sich behauptet, geht es natürlich auch um Donald Trump, der am 20. Januar als nächster US-Präsident vereidigt wird. Der macht jetzt schon täglich Schlagzeilen mit abstrusen Ideen: Grönland will er besitzen, den Panamakanal für die USA haben. Wie spricht man als neue deutsche Bundesregierung mit so einem US-Präsidenten, wozu raten Sie?
Das ist die Eine-Billion-Dollar-Frage. Ich bin sprachlos, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass der designierte amerikanische Präsident bereits im Vorfeld seiner Inauguration eine solche Liste von wirklich irrlichternden bis verrückten bis exzentrischen Vorstellungen publik macht. Darauf hat man zunächst mal keine rational eingängige Antwort. Die einzige, die mir eingefallen ist: Er überzeichnet so stark aus taktischen Gründen, um letztlich von zehn Verrücktheiten, die er in die Welt setzt, zwei wirklich durchsetzen zu können. Das heißt, irgendwann wird er die Umbenennung des Golfs von Mexiko in Golf von Amerika aufgeben, wenn er dafür den Eindruck hat, er würde Einfluss in Grönland gewinnen wegen der dortigen Rohstoffe.
Also kühles Blut bewahren, wenn man mit Trump umgehen muss?
Das ist das eine. Das andere ist, dass Europa sich reformieren muss. Und dann sind wir bei der vorher uns ziemlich gruselig erscheinenden Lage, dass Europa sehr viel fragmentierter ist, als wir es je für möglich gehalten haben, jedenfalls noch vor fünf oder zehn Jahren. Dieses Europa wird sich mehr denn je auf einen amerikanischen Präsidenten einstellen müssen, wo es selbst mehr Verantwortung übernehmen und sehr viel geeinter auftreten muss, um mit internen und auch externen Herausforderungen fertig zu werden.
Stichwort Reformen: Sie haben gemeinsam mit dem CDU-Politiker Thomas de Maizière und dem ehemaligen Verfassungsgerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle die "Initiative für einen handlungsfähigen Staat" gegründet. Der Bundespräsident hat die Schirmherrschaft übernommen. Ist Deutschland Ihrer Ansicht nach handlungsunfähig?
Nein, das ist eine Überzeichnung, genauso wie jene, dass Deutschland der kranke Mann in Europa sei und das heutige Deutschland an Weimar erinnere. Das sind alles, wie ich glaube, ziemlich abwegige Bewertungen. Aber wir stehen unter einem enormen Druck: Das Wirtschaftsmodell Deutschlands mit seinem starken Industrieanteil steht unter dem Druck von Wettbewerbsverschiebungen, insbesondere aus dem asiatisch-pazifischen Raum, Stichwort China. Wir stehen auch unter demografischem Druck, der von großer Bedeutung ist, nicht nur mit Blick auf die Frage von Fachkräften, sondern auch die Finanzierung von Sozialsystemen. Wir haben es mit einer zu geringen Arbeitsproduktivität zu tun. Unsere Infrastruktur ist stark sanierungsbedürftig, die Bildung ist unterfinanziert, wir sind überbürokratisiert. Das sind schon fünf oder sechs Felder, auf denen es erheblichen Reformbedarf gibt.
- Podcast-Diskussion mit Andreas Voßkuhle hier anhören:
Embed
Was also wollen Sie tun?
Uns interessiert an dieser Initiative nicht: Wie sieht eine Reform der Altersversorgung aus? Wie sieht eine Reform der Unternehmenssteuern aus? Sondern uns interessiert: Was sind die strukturellen, die organisatorischen, die verfahrenspolitischen Bremsklötze in Deutschland für Reformen? Was sind die Gründe dafür, dass wir nach der Agenda 2010 vor mehr als 20 Jahren kein umfassendes, kohärentes Reformprogramm mehr zustande gebracht haben?
Tatsächlich wächst die Staatsverdrossenheit bei vielen Menschen. Warum ist der Faden zwischen Bürgern und Staat teilweise gerissen?
Mein Eindruck ist, dass – ziemlich banal – viele Bürgerinnen und Bürger den Eindruck haben, vieles funktioniert nicht. Das erfahren sie auf Ämtern. Das erfahren sie mit Blick auf die mangelhafte Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Das erfahren Eltern, wenn sie die Schulen ihrer Kinder besuchen. Das erfahren diejenigen, die wie ich viel mit der Deutschen Bahn fahren müssen. Das erfahren viele, die als Unternehmer und als Manager mit Bürokratisierung zu tun haben. Das erfahren viele, die schlicht und einfach den Verfall auch anderer öffentlicher Infrastruktur sehen. Das geht bis zu Fragen der inneren Sicherheit. Da haben viele den Eindruck, dass der Staat seine Funktion nicht mehr ausreichend erfüllen kann. Und das führt natürlich zu einer ziemlichen Distanz und mehr als Enttäuschung.
Was folgt daraus?
Wenn die neue Bundesregierung, egal wie sie sich zusammensetzt, in der nächsten Legislaturperiode diesen Vertrauensverlust in die staatliche Handlungs- und Funktionsfähigkeit nicht abwenden kann, werden wir es bei der übernächsten Bundestagswahl, turnusgemäß irgendwann 2029, mit einer Nagelprobe für unser demokratisch-parlamentarisches System zu tun haben. Erste Einblicke davon können Sie gerade in Frankreich bekommen.
"Wir werden unseren Wohlstand nicht mehr anstrengungslos aufrechterhalten können."
Peer Steinbrück
Das heißt, dann wäre mit einem Wahlsieg der AfD zu rechnen?
Nein, das ist mir zu voreilig. Aber wenn dieser Vertrauensverlust in die politische Lösungskompetenz und in die staatliche Handlungs- und Funktionsfähigkeit weitergeht, dann wird sich das Parteiensystem in Deutschland weiter fragmentieren. Und unsere politische und wirtschaftliche Ordnung wird darüber weiter infrage gestellt. Jedenfalls, wenn die nächsten Regierungen nur an Symptomen herumdoktern oder, wie in den Wahlprogrammen von vielen Parteien im Augenblick dargestellt, nur glauben, mit dem Füllhorn alles bedienen zu können. Fast alle Parteien haben zu meinem Entsetzen eine Wünsch-dir-was-Liste ins Wahlprogramm geschrieben – statt zu sagen: Liebe Leute, dieses Land muss dringend in manchen Grundfesten reformiert werden. Das ist mit Zumutungen verbunden, das ist auch mit Anstrengung verbunden. Wir werden unseren Wohlstand vor dem Hintergrund globaler Verschiebungen nicht mehr anstrengungslos aufrechterhalten können. Aber wir werden darauf achten, dass die damit verbundenen Zumutungen und Lasten fair verteilt werden.
Mit Zumutungen gewinnt man halt keine Wahlen, oder?
Das weiß ich nicht. Ich glaube, man unterschätzt das Wahlpublikum. Die meisten Bürgerinnen und Bürger, jedenfalls soweit sie nicht völlig abgedriftet sind, und das ist eine Minderheit in meinen Augen, haben eine klare Vorstellung davon, dass dieses Land unter Reformdringlichkeiten zu leiden hat und dass die angepackt werden müssen. Alle wissen, diese Gesellschaft wird älter. Alle wissen, dass die sozialen Systeme damit in Finanzierungsprobleme geraten. Trotzdem schiebt die Politik eine umfassende Reform der Altersversorgung vor sich her. Dasselbe gilt mit Blick auf Teile unseres Steuersystems oder auf die zentrale Frage der Verteidigungsfähigkeit vor dem Hintergrund der weiterlaufenden Aggression Putins. In meinen Augen ist Frau Wagenknechts Gegenüberstellung "Krieg oder Frieden?" dämlich. Putin führt längst Krieg gegen uns, einen hybriden Krieg auf allen Ebenen. Es heißt also, über die militärische Verteidigungsfähigkeit reden wir längst, über Cybersicherheit, über Zivilschutz, über Heimatschutz, über alles, was damit zusammenhängt.
Viele Ursachen von Problemen, auch Ursachen von Vertrauensverlust liegen gar nicht mehr im unmittelbaren Wirkbereich nationaler Politik, sondern im Ausland: Syrien, Nahost, Ukraine, Russland oder auch bei Social-Media-Konzernen. Jetzt mal in einem größeren Kontext gefragt: Haben Regierungspolitiker, haben Regierungen überhaupt noch die gleiche Gestaltungsmacht wie vor 20, 30 Jahren? Oder gibt es da inzwischen Akteure, die mindestens auf Augenhöhe mitspielen, große Unternehmen mit wirtschaftlichen Interessen?
Das eine sind die Technologiemagnaten, und Elon Musk ist die Symbolfigur. Zu meinem Entsetzen glaubt er, er könne den US-Kongress in der Haushaltspolitik steuern. Aber es sind nicht nur die Technologiegiganten, die der Auffassung sind, dass Gesellschaften besser über die von ihnen entwickelten Algorithmen gesteuert werden als über demokratische Entscheidungsprozesse. Es ist auf der anderen Seite – da stehe ich unter dem Eindruck des jüngsten Buchs von Anne Applebaum – eine Achse der Autokraten. Eine solche Konfrontationsposition des globalen Westens hat es so vor 10, 15 Jahren noch nicht gegeben. Unser demokratisch-parlamentarisches System wird konfrontiert mit sehr autokratisch regierten Ländern, die auch noch eine politische Achse bilden, unabhängig davon, dass sie teilweise unterschiedliche Interessen haben. Das sind zwei Rahmenbedingungen, die es so, jedenfalls zu meiner Zeit in der Bundesregierung, nicht gegeben hat.
Eine sorgenvolle Beschreibung. Stellen wir uns zum Abschluss vor, wir würden dieses Gespräch am Ende der nächsten Legislaturperiode in vier Jahren führen, also im Jahr 2029. Was müsste Deutschland bis dahin geschafft haben, um gestärkt aus den gegenwärtigen Krisen herausgekommen zu sein?
Abstrakt formuliert glaube ich, dass dieses Land in der Lage ist, unter dem Problemdruck, wenn er erkannt und anerkannt ist, immer in der Lage gewesen ist, sich anzustrengen und mit dem Problem fertigzuwerden. Das hat es in der Geschichte unseres Landes mehrfach gegeben. Dieses Land hat nach wie vor enorme Potenziale, tüchtige Leute, qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, irrsinnige Wissenschaftspotenziale, universitäre und außeruniversitäre, und es ist nach wie vor wirtschaftlich stark.
Aber?
Aber es wird sich mit der Frage beschäftigen müssen: Wie soll unser Wirtschafts-, unser Industriemodell in der Perspektive der nächsten 5 bis 10 Jahre aussehen? Es wird erhebliche Anstrengungen unternehmen müssen mit Blick auf seine Verteidigungsfähigkeit. Und es wird in Technologie investiert werden müssen und in Existenzgründungen, die technologieorientiert sind. Es wird erkennbar darauf hinauslaufen, dass wir gesamtwirtschaftlich mehr arbeiten müssen. Nicht jeder individuell, aber vor dem Hintergrund der schlechten Produktivität wird die Ansage lauten müssen: Wir werden uns anstrengen müssen. Wir werden dieses Wohlstandsniveau und über diesen Wohlstand auch unser Sozialniveau nicht anstrengungslos aufrechterhalten können. Das wird eine Kernaussage der neuen Bundesregierung sein müssen, und sie wird daraus entsprechende Maßnahmen ableiten müssen.
Herr Steinbrück, vielen Dank für das Gespräch.
Dieser Text ist ein nur geringfügig ans Schriftliche angepasstes Transkript eines t-online-Podcasts mit Peer Steinbrück.
- Podcast-Gespräch mit Peer Steinbrück