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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zweifel an Nord-Stream-Berichten Experte äußert ganz anderen Verdacht
Deutsche und US-Medien berichten, dass die Drahtzieher der spektakulären Pipeline-Anschläge aus der Ukraine kommen sollen. Doch die geschilderte Tauchoperation wirft viele Fragen auf. Experten bleiben skeptisch.
Die Nachricht über mögliche Hintermänner schlug am Dienstag ein wie die Nachricht über die Anschläge selbst: Zunächst berichtete die "New York Times", dann folgten mehrere deutsche Medien, darunter "Tagesschau" und "Zeit". Sie veröffentlichten US-Geheimdienstinformationen und erste deutsche Ermittlungsergebnisse zu den Anschlägen auf die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee. Deren teilweise Zerstörung hatte im September 2022 die deutsch-russische Gaskooperation vorerst erledigt.
Am Dienstag lautete der Tenor allerdings: "Spuren in die Ukraine". Damit schien sich der durchaus begründete Verdacht auf eine russische Täterschaft nicht zu bestätigen. Und auch abwegigere Spekulationen über ein US-amerikanisches Komplott, die es zuletzt gab, hatten sich offenbar erübrigt.
Die Ermittlungen
Was ebenfalls auffiel: Der Generalbundesanwalt, der in Deutschland die Ermittlungen zu den Anschlägen führt, rang sich am Mittwoch erstmals seit Monaten zu einer Stellungnahme durch.
Die Bundesanwaltschaft hat vom 18. bis 20. Januar 2023 im Zusammenhang mit einer verdächtigen Schiffsanmietung ein Schiff durchsuchen lassen. Es besteht der Verdacht, dass das betreffende Schiff zum Transport von Sprengsätzen verwendet worden sein könnte, die am 26. September 2022 an den Gaspipelines "Nordstream 1" und "Nordstream 2" in der Ostsee explodierten. Die Auswertung der sichergestellten Spuren und Gegenstände dauert an. Die Identität der Täter und deren Tatmotive sind Gegenstand der laufenden Ermittlungen. Belastbare Aussagen hierzu, insbesondere zur Frage einer staatlichen Steuerung, können derzeit nicht getroffen werden.
Generalbundesanwalt, 8.3.2023
Das Statement gab zwar nicht die bemerkenswerte Detailtiefe der deutschen Medienberichte wieder, ließ sie aber zumindest nicht mehr ganz so spekulativ erscheinen. Wenn es nach den Berichten unter anderem in der "Zeit" geht, ergibt sich aus dem Ermittlungsstand ein Drehbuch, das aus Hollywood stammen könnte. Bestandteile sind:
- eine Jacht,
- sechs Verdächtige,
- gefälschte Pässe,
- eine angebliche Tauchoperation,
- Spuren von Sprengstoff,
- eine vage Spur zu einer polnischen Firma mit ukrainischen Besitzern,
- eine proukrainische Gruppe ohne staatliche Unterstützung als angebliche Drahtzieherin.
Die britische "Times" legte daraufhin nach: Seit Monaten kursiere in Geheimdienstkreisen der Name eines einflussreichen ukrainischen Geschäftsmannes, der – ohne Wissen oder Beteiligung der Regierung in Kiew – die Operation angeblich finanziert hat. Schnell identifizierte "Der Spiegel" auch eine 15 Meter lange Segeljacht, die für den Anschlag verwendet worden sein soll.
Die Experten
Der Plot mag spektakulär klingen und sich bestens als Drehbuchvorlage eignen. Aber er hat Lücken. Ausdrücklich weisen die Berichte darauf hin, es könne sich auch um eine "Operation unter falscher Flagge" handeln. Also absichtlich gelegte Spuren, die die wahren Täter oder die wahren Abläufe des Tathergangs verschleiern sollen. Auch Experten bleiben angesichts der geschilderten Abläufe skeptisch, dass die Schilderungen der Realität sehr nahekommen.
t-online hat mit zahlreichen Fachleuten gesprochen, die jeweils über jahrzehntelange Erfahrung auf ihren Spezialgebieten verfügen: einen ehemaligen hochrangigen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes, zwei Ausbilder für technisches Tauchen und einen dänischen Marine-Militär.
Auch wenn niemand weiß, was tatsächlich passiert ist. Es stellen sich dann doch zahlreiche Fragen, auf die es angesichts der bisherigen Ermittlungsergebnisse keine befriedigenden Antworten gibt – und was noch relevanter ist: die das entworfene Szenario nicht besonders plausibel erscheinen lassen.
Die Vorbereitungen
Folgt man den Medienberichten, hat eine polnische Firma, die zwei Ukrainern gehört, eine deutsche Jacht angemietet. Am 6. September, also rund drei Wochen vor den eigentlichen Explosionen, gingen angeblich sechs Verdächtige im Rostocker Hafen an Bord. Sie waren mit professionell gefälschten Pässen ausgestattet. Die Ausrüstung für den Anschlag, mutmaßlich inklusive fast einer Tonne des benötigten militärischen Sprengstoffs, verluden sie im Rostocker Hafen. Dann stachen sie in See.
Schon diese angebliche Ausgangssituation lässt Gerhard Conrad stutzig werden. Der frühere hochrangige Agent des Bundesnachrichtendienstes kann auf mehrere Jahrzehnte Geheimdiensterfahrung zurückblicken. "Die Berichte werfen mehr praktische Fragen auf als sie beantworten", sagt Conrad t-online. Mit Schlussfolgerungen müsse man vorsichtig sein.
"Wie soll es den genannten sechs Personen gelungen sein, an die großen Mengen offenbar militärischen Sprengstoffs zu gelangen?", fragt Conrad etwa. Denn Fachleute folgerten aus der Stärke der Detonationen und des durch Unterwasseraufnahmen dokumentierten Schadensbilds schnell auf Hunderte Kilogramm etwa des Sprengstoffs C4. Träfe dies zu, würde es allerdings Beschaffungskosten im vermutlich zweistelligen Millionenbereich bedeuten.
"Es ist unwahrscheinlich, dass das ganz ohne Zugriff auf staatliche Materialien passiert ist", sagt Conrad. "Natürlich könnten informelle, großkriminelle Strukturen im Spiel sein. Aber das käme schnell heraus." Gleiches gelte für die angeblich professionell gefälschten Reisepässe. "Wenn das tatsächlich Reisepässe waren, bei welchen alles stimmte, am Ende gar die biometrischen Daten, nur die genannten Identitäten nicht, müssten diese Pässe aus einer staatlichen Stelle kommen, autorisiert oder unautorisiert."
Auch die einzige offenbar belastbare Spur in die Ukraine betrachtet Conrad vorerst mit Vorsicht. Eine Jacht von einer Firma mit Sitz in Polen zu mieten, die "offenbar zwei Ukrainern gehört", sei eine "offensichtliche operative und sicherheitliche Schwachstelle". So stelle sich weiterhin die Frage nach den Hintermännern: "Es muss jemand mit den nötigen finanziellen Mitteln und sehr guten logistischen Möglichkeiten gewesen sein."
Die Tauchoperation
Laut den Medienberichten soll sich Folgendes abgespielt haben: Der Kapitän navigierte und steuerte das Segelschiff an die Tatorte. Dort brachten zwei Taucher die Hunderte Kilo schweren Sprengsätze in einer Tiefe von 70 bis 80 Metern an den Röhren an. Unterstützt wurden sie dabei von zwei Tauchassistenten und einer Ärztin an Bord.
Dieser vermutete Ablauf veranlasst zumindest Experten zur Skepsis. t-online hat Vertreter von zwei Ausbildungsverbänden für technisches Tauchen gesprochen, das für die genannte Tiefe erforderlich ist: Jürgen Bäumer, der seit 20 Jahren beruflich taucht und das Regionalbüro der "Technical Diving International" leitet. Und Daniel Schulte, der seit vielen Jahren für die "Global Underwater Explorers" ausbildet und selbst unter anderem Wracks in bis zu 120 Metern Tiefe erkundet.
Beide sind sich einig: Die Tiefe von bis zu 80 Metern ist für ausgebildete Taucher mit der entsprechenden Ausrüstung machbar – auch wenn die benötigten Geräte und notwendigen Gase nicht "in jedem Tauchshop" verfügbar sind. Es würde aber enorme Erfahrung von über 100 Tauchstunden am entsprechenden Gerät sowie erhebliche logistische Planung voraussetzen, so ihre Einschätzung. Außerdem verfügten zivile Taucher eben nicht über das notwendige Fachwissen zum Umgang mit dem Sprengmaterial.
"Der Tauchgang müsste bestens vorbereitet worden sein", sagt Bäumer. Dazu zählten Unterwasserbojen, die die Orientierung erleichtern, sowie bereits an Ort und Stelle gelagerte Ausrüstung. Selbst dann seien vermutlich mehrere Tauchgänge notwendig. "Das bedeutet auch Ruhepausen dazwischen. An einem Tag ist das für zwei Taucher nur schwer zu schaffen." Das bedeutet: Auch die Entdeckungsgefahr in der eigentlich eng überwachten Ostsee steigt.
Auch Schulte bleibt angesichts der Vermutung, dass die Täter schnellstmöglich vorgegangen sind, vorsichtig: "An einem Tag kann man viel schaffen, eventuell sogar in einem Tauchgang. Das ist aber abhängig von den tatsächlich am Meeresgrund zu verrichtenden Arbeiten." Beide betonen, man tauche in solcher Tiefe "in völliger Dunkelheit", auch wenn man Lichtquellen mitführe. Hinzu kämen unabhängig vom Tauchgang selbst eher unübliche Problemstellungen.
Denn es stellen sich viele weitere Fragen: Wie befördert man die möglicherweise Hunderte Kilo schweren Sprengladungen erst ins Wasser und dann zielgenau in die Tiefe? Mit Seil und Winde, mit Hebekissen? Ist das Boot dafür ausgelegt? Wie lang muss man am Meeresboden operieren, um die Sprengsätze einsatzfähig zu machen? Und wie findet man die avisierten Orte der Sprengungen überhaupt?
Die militärische Perspektive
"Die Nord-Stream-Pipeline zu finden, ist das kleinste Problem dieser Aktion. Das geht mit einem Sonar", sagt Johannes Riber t-online, der sich aus beruflichen Gründen mit militärischen Operationen dieser Art auskennt. Als Korvettenkapitän der dänischen Marine, was dem Rang eines Majors entspricht, ist sein Blick auf die Medienberichte der eines Soldaten. Zusätzlich ist er Militäranalytiker an der Akademie der Dänischen Streitkräfte.
"Solch eine Operation muss mindestens einen Tag dauern, weil an mehreren Stellen Sprengstoff angebracht und nahezu gleichzeitig gesprengt wurde", sagt Riber. Auch er betont den erheblichen logistischen Aufwand: Es gehe nicht nur um das Schiff, ausgebildete Taucher, den Sprengstoff und die Ausrüstung, sondern auch um Bojen, Navigationsmittel und Instrumente wie Hebekissen, um schwere Ladungen unter Wasser zu befördern.
Nicht nur sei es schwer, derart große Sprengladungen gezielt in der Nähe der Pipeline herabzulassen: "Sie wissen nicht, wo das landet. Dann ist es vielleicht 10 bis 15 Meter weg von Ihnen, und Sie müssen es zur Pipeline bringen." Das Team stehe dabei unter Zeitdruck. Die Ausbildung und Erfahrung, die all das erfordere, erwarte er ausschließlich bei militärisch ausgebildeten Tauchern oder solchen, die im Offshore-Bereich für große Unternehmen arbeiten.
Stutzig machen Riber zudem die Reste von Sprengstoff, die angeblich an Bord der Jacht gefunden wurden. "Es ist sehr unwahrscheinlich, dass etwas von dem Explosivstoff einfach herausgefallen ist", sagt er. "So etwas ist nichts, was man in der Küche mit Sachen aus dem Baumarkt baut – es wird in einer Fabrik gebaut, sehr, sehr wasserdicht, und muss nur mit einem Zünder ausgestattet werden. Das ist gebaut und vollständig geschlossen, bevor man es überhaupt an Bord bringt."
Deswegen hält Riber das Szenario insgesamt für sehr unwahrscheinlich – wie viele Experten bereits direkt nach dem Anschlag, die eher den Einsatz von Unterwasserdrohnen vermuteten. Für Riber ändern die Medienberichte daran nichts: "Es gibt bei Weitem plausiblere Erklärungen für die Sabotage als eine Gruppe von sechs Menschen auf einem Segelboot."
Was also ist in den Wochen, bevor die Pipelines gesprengt wurden, passiert? "Ich gehe davon aus, dass es riesige Explosionen waren", sagt Riber. "Wenn das stimmt, dann wurde der Anschlag von einem Staat durchgeführt, der an der Ostseeküste liegt und über eigene U-Boote verfügt. Davon gibt es vier." Russland, Polen, Schweden und Deutschland.
- Eigene Recherchen
- tagesschau.de: "Spuren führen in die Ukraine"
- newyorktimes.com: "Intelligence Suggests Pro-Ukrainian Group Sabotaged Pipelines, U.S. Officials Say" (engl.)
- times.co.uk: "West kept quiet about Nord Stream attack to protect Ukraine" (engl.)
- spiegel.de: "Ein Boot, sechs Verdächtige, viele Fragen"