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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sigmar Gabriel zum Verhältnis mit den USA "Trump-Anhängern zuzuhören ist wichtig und interessant"
Ex-Außenminister Sigmar Gabriel rät dazu, auch während Joe Bidens Präsidentschaft Kontakt zu Republikanern in den USA zu halten. Vor dessen Europareise glaubt er zudem an eine
Sigmar Gabriel war deutscher Umwelt-, Wirtschafts- und Außenminister. Der langjährige SPD-Chef ist heute Vorsitzender der Atlantik-Brücke.
t-online: Joe Bidens erste Auslandsreise führt ihn nach Europa: zuerst der anstehende G7-Gipfel im britischen Cornwall, dann das Nato- und EU-Treffen in Brüssel. Inwiefern erkennt man hier andere Prioritäten als bei Donald Trump, der zuerst in den Nahen Osten flog?
Sigmar Gabriel: Ich glaube, es macht keinen Sinn mehr, ständig Fragen nach den Unterschieden zwischen Joe Biden und Donald Trump zu stellen – einfach, weil die Unterschiede so offensichtlich sind. Beide könnten persönlich, intellektuell, politisch und kulturell nicht gegensätzlicher sein. Der Besuch von Biden in Europa dient ganz klar der Festigung der transatlantischen Allianz und es entspricht dem, was er zu seinem Amtsantritt gesagt hat: "America is back."
Sie kennen Joe Biden. Zu welchem Kanzler würde er eigentlich charakterlich besser passen: zu Armin Laschet, Olaf Scholz oder zu Annalena Baerbock?
Ich bin kein Hobbypsychologe. Joe Biden ist der außenpolitisch erfahrenste Präsident, den die USA seit Langem hatten. Der kommt mit jedem Deutschen klar.
Worüber wird er mit den Verbündeten in Europa sprechen?
Biden will mit den Alliierten über die zentralen Herausforderungen reden, die er für die Welt sieht. An erster Stelle steht die Frage: Wie geht es weiter im Verhältnis zu China? Andere Schwerpunkte werden natürlich auch die Klima- und Energiepolitik sein. Aber aus Sicht der Amerikaner ist China die zentrale globale Herausforderung schlechthin und sie wollen darüber sprechen, wie die westlichen Demokratien darauf reagieren.
In Genf wird Joe Biden anschließend auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin treffen. Muss man diese Begegnung neben den brisanten Themen Ukraine-Konflikt, Nord Stream 2 und Belarus auch vor dem Hintergrund sehen, dass Russland sich China zunehmend annähert?
Es ist in diesen Tagen schwer, an einen neuen Anfang der Entspannungspolitik mit Russland zu glauben, weil die russische Politik alles dafür tut, die Lage immer schwieriger werden zu lassen. Die aus westlicher Sicht zunehmende Härte der russischen Außen- und Innenpolitik darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wirtschaftliche Lage des Landes vermutlich so schlecht ist wie seit den 90er-Jahren nicht mehr. Vielleicht ist es gerade deshalb so wichtig, dass dieses Treffen stattfindet. Für die USA steht das Verhältnis zu Russland nicht ganz oben auf der außenpolitischen Agenda. China, die internationale Klimapolitik und auch das Atomabkommen mit dem Iran sind für den amerikanischen Präsidenten wesentlich entscheidender. Aber Russland spielt in allen diesen Themen eine Rolle und kann ein großes Störpotential entfalten. Umgekehrt ist zum Beispiel die Bekämpfung des Handels mit atomaren Waffentechnologien ohne die Unterstützung Russlands nicht zu schaffen. Man darf von diesem Treffen nicht zu viel erwarten, aber es ist ein Anfang.
Das Zeitfenster mit Joe Biden als US-Präsident ist womöglich klein. Donald Trump kann 2024 zurückkehren. Die Republikaner können sich weiter radikalisieren und wieder regieren. Sollte es dazu kommen, mit wem sollten deutsche Politiker am besten Kontakt halten, damit die Drähte nach Washington auch dann noch funktionieren?
Wir sind klug beraten, auch jetzt Kontakte zu den Republikanern zu halten. Übrigens nicht nur zu denen, die wir als moderat empfinden. Ich werde mich bei einer anstehenden USA-Reise auch mit Leuten treffen, die Trump-Anhänger sind. Denen zuzuhören ist wichtig und interessant, um zu verstehen, wie die eigentlich ticken. In der Außenpolitik kann man sich nicht aussuchen, mit wem man redet. Zu all jenen, mit denen sie womöglich einmal klarkommen müssen, lohnt es sich, Kommunikation aufzubauen. Das gilt jetzt ebenso, auch wenn der Herrgott verhüten möge, dass Trump II oder etwas Ähnliches wieder auf uns zukommt.
Während Trumps Präsidentschaft tauchte immer wieder der Begriff der "Äquidistanz" auf. Gemeint war, Deutschland und Europa müssten sich notgedrungen auf sich selbst besinnen und zu China, Russland und den USA ein ähnlich gelagertes Distanz-Nähe-Verhältnis aufzubauen. Was halten Sie von dieser Idee?
Ich verstehe gar nicht, was das heißen soll. Man muss nur einmal in Ruhe die Augen schließen und sich überlegen, in welches dieser drei Länder man lieber ziehen würde, wenn das denn nötig wäre. Da würden wohl fast 100 Prozent der Deutschen oder Europäer die USA wählen, selbst wenn dort Donald Trump an der Regierung wäre. Die USA stehen uns politisch, wirtschaftlich und kulturell deutlich näher. Eine anzustrebende Äquidistanz ist eine Chimäre und wird in ernst zu nehmenden außenpolitischen Debatten nicht in Betracht gezogen. Das wird in sicherheitspolitischen Fragen noch sehr viel deutlicher.
Trotzdem stellt sich die Frage, wie sich die EU selbstbewusst außenpolitisch entwickeln kann.
Die EU hat ein Problem. Sie wurde nicht gegründet, um sich nach außen als globaler Akteur zu verhalten. Die Europäer sollten nach zwei verheerenden Weltkriegen endlich im Inneren Frieden finden. Sicherheitspolitisch konnten wir dabei ein wenig auf die Franzosen und Briten setzen, aber vor allem auf die Amerikaner. Die Pax Americana aber neigt sich dem Ende zu. Erstens weil die USA es ökonomisch gar nicht mehr vermögen, die sogenannte Liberal Order in der ganzen Welt aufrechtzuerhalten. Zweitens wollen sie es aber auch gar nicht mehr. Sie wollen sich ganz auf ihren großen Rivalen China und auf die großen Handels- und Machtachsen im Indopazifik konzentrieren. Das stellt uns in Europa vor eine noch immer ungewohnte Situation. Wir müssen lernen, uns in der unmittelbaren Nachbarschaft zu behaupten: gegenüber den Anrainerstaaten im Mittelmeer ebenso wie gegenüber Russland oder der Türkei. Und wir müssen eine gemeinsame Haltung gegenüber anderen Regionen in der Welt entwickeln. Das fällt uns nach wie vor sehr schwer.
Wie könnte dieses Ziel denn erreicht werden?
Wir brauchen ein Europa, das souverän handelt, aber nicht autonom. Das geht oft durcheinander. Souveränität heißt, aus freiem Willen zu entscheiden, was man tun oder lassen will. Autonomie würde bedeuten, diese Entscheidung immer unabhängig von allen anderen zu treffen. Ich bin der Meinung, dass wir ein enges Bündnis mit den Amerikanern benötigen. Denn selbst ein einiges Europa wäre in der Welt zu schwach, um wirklich einen Unterschied zu machen. Das sieht ganz anders aus, wenn wir mit den USA, mit Südkorea, Japan, Neuseeland und Australien zusammenarbeiten. Europa sollte ein Bündnis mit den demokratischen Industrienationen dieser Welt anstreben.
Es ist der EU als Akteur auch schon gelungen, Standards zu setzen: Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) etwa wurde von den großen Digitalkonzernen auch gleich für andere Regionen übernommen. Sind die Europäer vielleicht gar nicht so unbedeutend?
Natürlich ist der europäische Binnenmarkt der größte der Welt und das Interessanteste, was wir zu bieten haben. Wir sind ja nicht deshalb beliebt, weil wir so nette Leute sind oder bestimmte Werte haben. Sondern weil wir wirtschaftlich eine höchst interessante Region sind. Ich würde mir wünschen, dass Europa auch in der Verteidigungs- und Sicherheitspolitik attraktiver wird. Aber in der Tat ist Europas Pfund sein Binnenmarkt und seine ökonomische Kraft. Aber auch das birgt Gefahren.
Inwiefern?
Wir dürfen uns nicht auf den Lorbeeren unserer Vorfahren ausruhen. Fast 50 Prozent des deutschen Wohlstandes erwirtschaften wir durch unseren Export. Wir sind Master of the Universe, was die Fertigung von Produkten, also den Maschinenbau angeht. Aber zwei Dinge greifen unseren Wohlstand an:
Erstens wandert ein immer größerer Teil der Wertschöpfung vom Produkt auf die damit verbundenen Datenplattformen. Diese Unternehmen sitzen in den USA oder in China. Zweitens ist alles, was auf der Welt zu Deglobalisierung führt, schädlich für uns. Ob der Protektionismus oder die im Zuge der Pandemie geforderte Rückverlagerung von Produktionen, um resilienter zu werden, es bedeutet eine Verkürzung der Wertschöpfungsketten. Das trifft Deutschland immer am meisten, weil wir von der internationalen Arbeitsteilung leben. Wer der Deglobalisierung das Wort redet, sollte das bedenken. Auch weil es die ärmsten Länder auf der Welt trifft. Zwar reden wir von Billiglohnländern, was auch stimmt. Aber es hat in vielen dieser Länder zum ersten Mal überhaupt Wohlstand geschaffen.
Zeigt sich bei der Erdgaspipeline Nord Stream 2, wie schwierig es ist, souverän, aber eben nicht autonom zu handeln, also ohne die USA, Russland oder EU-Partner zu verärgern?
Gemeinsam im Bündnis zu sein heißt nicht, immer und überall gemeinsame Interessen zu haben. Solche Situationen gab es schon einige Male in der Geschichte. Dass ein deutsch-russisches Pipelineprojekt mit Sanktionen belegt wurde, geschah schon 1962 im Zuge der deutsch-sowjetischen Röhren-Erdgas-Geschäfte. Die nächsten Sanktionen kamen dann bei den Mannesmann-Röhrengeschäften. Es ging dabei immer um das Gleiche: um Rohstoffinteressen und um Geopolitik. Am Ende haben die USA die Sanktionen immer aufgehoben, weil das Interesse, mit Europa und Deutschland zusammenzuarbeiten, größer war als ihre Ablehnung der Energiegeschäfte mit Russland. Und aktuell beziehen die USA etwa im gleichen Finanzvolumen Erdöl aus Russland, wie wir Gas über Nord Stream beziehen.
Der amtierende US-Außenminister Antony Blinken hat seine Abschlussarbeit zu diesem Thema geschrieben und dazu später ein Buch veröffentlicht ...
... ja, 1987 unter dem Titel "Ally Versus Ally: America, Europe, and the Siberian Pipeline Crisis". Weil so ein Konflikt mit Alliierten eben nicht immer weiter eskaliert werden kann, hatte der damalige US-Präsident Ronald Reagan, im Wesentlichen ein harter Antikommunist, die Sanktionen irgendwann aufgehoben. Er hat sich gesagt: Ich habe so viele Gemeinsamkeiten mit Europa. Das lass ich mir nicht von einer Pipeline verderben. So wird es jetzt auch laufen.
Schon vor Bidens Europa-Reise ist eine Delegation der Bundesregierung in die USA gereist. Was kann sie den Amerikanern denn anbieten?
Es wird sicherlich noch eine ganze Reihe an Bedingungen seitens der US-Amerikaner geben, die erfüllt werden müssen. Ich vermute, dass etwa die Sicherheit der transukrainischen Pipeline länger als nur bis 2024 gewährleistet sein muss. Ich vermute, dass Angela Merkel und Wladimir Putin sich darüber auch schon verständigt haben. Auf diese Weise wird sich das Pipeline-Problem durch Verhandlungen erledigen. Das ist übrigens ein wichtiger Unterschied: Mit Biden kann man Kompromisse suchen und finden. Mit Trump war das unmöglich.
Die Frage, woher künftig im Zuge der Energiewende unsere Rohstoffe kommen, wird die deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik auch weiterhin maßgeblich beeinflussen. Deutschland etwa wird grünen Wasserstoff importieren müssen, um Industrieland bleiben zu können. Drohen da die nächsten Konflikte?
Das kommende Ende des fossilen Zeitalters hat bereits dazu geführt, dass die USA sich weniger für den Nahen Osten und den wichtigsten Erdöllieferanten Saudi-Arabien interessieren. Das bringt neue Unsicherheiten in diese Region. Darum versuchen Russland, China oder die Türkei, diese Veränderungen für sich auszunutzen. Europa steht häufig als Zuschauer da. Beim Import von grünem Wasserstoff sollte Deutschland und seine Wasserstoffwirtschaft ein ganz neues Verhältnis zu den nordafrikanischen Staaten aufbauen. Das würde auch in unserem Interesse an politischer Stabilität in dieser Region liegen. Russland will perspektivisch sogenannten violetten Wasserstoff aus Kernenergie produzieren. Die deutsche Energiewende mit diesem Rohstoff abzusichern, davon würde ich abraten.
Die Grünen sprechen über grünen Wasserstoff, der mit Strom aus Windenergie in der Ukraine erzeugt werden und über die bestehende Pipeline nach Deutschland kommen könnte. Ist das bei der geopolitischen Lage ratsam?
Selbst in Zeiten des schlimmsten Kalten Krieges hat Deutschland immer sein Erdgas aus der Sowjetunion bekommen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Konfliktlagen dazu führen, dass Energie knapp wird. Zumal das Pipelinenetz in Europa derart miteinander verschränkt ist, dass der Ausfall eines Segments sofort woanders ersetzt werden könnte.